Entscheidungsstichwort (Thema)

Zum Haftungsausschluss eines minderjährigen Radfahrers, der mit einem verkehrsbedingt anhaltenden Fahrzeug kollidiert.

 

Leitsatz (amtlich)

1. Für den Haftungsausschluss nach § 828 Abs. 2 BGB muss sich eine typische Überforderungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs realisiert haben. Das gilt nicht für Schäden an geparkten Fahrzeugen.

2. Eine typische Gefahr des motorisierten Verkehrs kann auch von einem Kraftfahrzeug ausgehen, das im fließenden Verkehr anhält (d.h. seine Geschwindigkeit auf Null reduziert) und auf der Fahrbahn für das Kind ein plötzliches Hindernis bildet, mit dem es möglicherweise nicht gerechnet hat. Darauf, ob sich diese Überforderungssituation konkret ausgewirkt hat oder ob das Kind aus anderen Gründen nicht in der Lage war, sich verkehrsgerecht zu verhalten, kommt es im Hinblick auf die generelle Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit von Kindern durch § 828 II 1 BGB nicht an.

3. Der Kläger, der eine (Mit-)Haftung des Minderjährigen beansprucht, muss Umstände darlegen und ggf. beweisen, die die gebotene Typizität des Geschehens im Anwendungsbereich des § 828 Abs. 2 BGB entfallen lassen.

 

Normenkette

BGB § 828 Abs. 2 S. 1; StVG § 7 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Lübeck (Aktenzeichen 17 O 78/23)

 

Tenor

I. Der Kläger wird gemäß § 522 Abs. 2 ZPO darauf hingewiesen, dass die Berufung gegen das angefochtene Urteil offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg bietet, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil nicht erfordert und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist. Der Senat beabsichtigt deshalb, die Berufung aus den nachfolgenden Gründen ohne mündliche Verhandlung durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.

II. Es besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen 3 Wochen, sofern die Berufung nicht aus Kostengründen innerhalb der genannten Frist zurückgenommen werden sollte.

III. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert für den zweiten Rechtszug auf 6.148,45 EUR festzusetzen.

 

Gründe

I. Die Parteien streiten um die Haftung des beklagten Kindes für den Sachschaden an einem Kraftfahrzeug.

Der Kläger befuhr am 22.04.2019 mit seinem PKW Ford Fiesta den He.-Weg in G.. Der zum damaligen Zeitpunkt acht Jahre alte Beklagte befuhr mit seinem Fahrrad den Gehweg des W.M.-Stiegs. Es handelt sich um eine 30er-Zone mit "Rechts-vor-Links"-Vorfahrtregelung (§ 8 Abs. 1 S. 1 StVO). Im Kreuzungsbereich der beiden Straßen fuhr der Beklagte vom Gehweg auf die Fahrbahn, wo sich der Kläger mit seinem Fahrzeug von rechts näherte. Der Kläger bremste bis zum Stillstand ab, der Beklagte fuhr gegen die vordere linke Seite des klägerischen Fahrzeugs.

Der Kläger holte ein Schadensgutachten des C. vom 23.04.2019 ein, das Reparaturkosten in Höhe von 4.630,85 EUR netto sowie eine Wertminderung von 550,00 EUR auswies. Das Gutachten kostete 947,60 EUR.

Der Beklagte fährt seit der zweiten Klasse mit dem Fahrrad zur Schule sowie auf Feld- und Wiesenwegen. Er hat den Unfall vorgerichtlich so beschrieben, dass er auf die andere Straßenseite habe fahren wollen und "auf einmal" sei das Auto da gewesen.

Der Kläger hat behauptet, der Beklagte habe verstehen können, dass er nicht ohne zu schauen über eine Kreuzung fahren dürfe. Eine Überforderungssituation sei nicht erkennbar. Die im Schadensgutachten aufgeführten Schäden seien unfallbedingt.

Der Kläger hat im ersten Rechtszug beantragt,

1. den Beklagten zu verurteilen, an ihn 6.148,45 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweils geltenden Basiszinssatz seit dem 22.05.2019 zu zahlen;

2. den Beklagten zu verurteilen, an ihn vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 650,34 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweils geltenden Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hat die Auffassung vertreten, er könne sich auf die sog. "Kinderschadenklausel" gemäß § 828 Abs. 2 BGB berufen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Der Schaden am klägerischen Fahrzeug könne dem Beklagten nicht zugerechnet werden. Dieser könne sich auf den Haftungsausschluss des § 828 Abs. 2 S. 1 BGB berufen. Dieses Haftungsprivileg für Kinder greife nur dann nicht ein, wenn eine typische Überforderungssituation nicht vorliege. Dies habe der Geschädigte darzulegen und zu beweisen. Der Kläger habe nicht dargelegt, dass vorliegend keine typische Überforderungssituation vorliege. Es hätten sich vielmehr die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs verwirklicht. Die Verkehrssituation hätte es dem Beklagten bei ordnungsgemäßem Verhalten abverlangt, die Vorfahrtsituation, Geschwindigkeiten, Entfernungen und örtliche Gegebenheiten zu erkennen und dementsprechend zu handeln. Diese Vielzahl von Herausforderungen begründet die typische Überforderungssituation. Dass der Beklagte möglicherweise nicht auf den Verkehr geachtet h...

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