Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflicht des angegangenen Berufungsgerichts, unmittelbar nach Eingang einer Berufungsschrift seine Zuständigkeit zu prüfen. Weiterleitung der Berufungsschrift an das zuständige Gericht
Leitsatz (amtlich)
Das Gebot eines fairen Verfahrens erfordert es nicht, dass das angegangene Berufungsgericht unmittelbar nach Eingang einer Berufungsschrift seine Zuständigkeit prüft, um diesbezügliche Fehler des Rechtsmittelführers ausgleichen zu können.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 1; GG § 20 Abs. 3; ZPO § 233
Verfahrensgang
OLG Düsseldorf (Beschluss vom 25.11.2004; Aktenzeichen I-24 U 192/04) |
AG Krefeld |
Nachgehend
Tenor
Die Rechtsbeschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des 24. Zivilsenats des OLG Düsseldorf v. 25.11.2004 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu tragen.
Beschwerdewert: 4.519 EUR
Gründe
I.
Die Klägerin ist eine Gesellschaft mit Sitz auf der zu Großbritannien gehörenden Insel Jersey. Das Urteil des AG, durch das ihre Klage abgewiesen worden ist, ist ihrem Prozessbevollmächtigten am 16.6.2004 zugestellt worden. Dessen Berufungsschrift ist am 6.7.2004 per Telefax und am 8.7.2004 im Original beim LG eingegangen. An dem letztgenannten Tag hat die Geschäftsstelle des LG vom AG die Gerichtsakten angefordert. Diese sind am 12.7.2004 beim LG eingegangen. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat mit Schriftsatz v. 5.8.2004 die Verlängerung der Frist für die Berufungsbegründung bis zum 31.8.2004 beantragt. Dem hat der stellvertretende Kammervorsitzende durch Verfügung v. 9.8.2004 entsprochen. Nach Eingang der Berufungsbegründung und Bestimmung eines Termins zur mündlichen Verhandlung hat der Kammervorsitzende die Klägerin durch Verfügung v. 7.10.2004 darauf hingewiesen, dass gem. § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG die Zuständigkeit des OLG gegeben sein dürfte, da sie ihren allgemeinen Gerichtsstand im Zeitpunkt der Rechtshängigkeit in erster Instanz außerhalb des Geltungsbereichs des Gerichtsverfassungsgesetzes gehabt habe. Daraufhin hat die Klägerin durch Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten v. 11.10.2004, der dem OLG am gleichen Tag per Telefax und am folgenden Tag in Urschrift zugegangen ist, erneut Berufung eingelegt und zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist beantragt.
II.
Das OLG hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Die Klägerin sei nicht schuldlos verhindert gewesen, rechtzeitig bei dem OLG als dem nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG zuständigen Rechtsmittelgericht die Berufung gegen das Urteil des AG einzulegen. Die Versäumung der Berufungsfrist beruhe auf einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Klägerin, das gem. § 85 Abs. 2 ZPO einem Verschulden der Partei gleichstehe. Das Verschulden des Prozessbevollmächtigten sei auch ursächlich für die Versäumung der Berufungsfrist geworden. Dem stünden die vom BVerfG aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Grundsätze zum fairen Verfahren nicht entgegen. Danach treffe das angegangene Gericht, das zwar für das Rechtsmittelverfahren nicht zuständig sei, jedoch vorher mit dem Verfahren befasst gewesen sei, eine nachwirkende Fürsorgepflicht, fristgebundene Schriftsätze für das Rechtsmittelverfahren im Zuge des ordentlichen Geschäftsgangs an das Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Dies komme der Klägerin indessen nicht zugute. Denn das LG sei nicht bereits vorher mit ihrem Verfahren befasst gewesen. Auch wenn die genannte Pflicht auf ein nicht mit der Sache Vorbefasstes Gericht ausgedehnt würde, führe das nicht zu einer Verletzung dieser Pflicht durch das LG. Die Berufungsschrift sei dem zuständigen Richter erstmals anlässlich des Fristverlängerungsantrags der Klägerin v. 5.8.2004, also nach Ablauf der Berufungsfrist vorgelegt worden. Bis dahin habe die Akte lediglich der Geschäftsstelle vorgelegen. Eine Vorlage von Berufungsschriften ohne Akten sei nach dem ordentlichen Geschäftsgang nicht unbedingt vorgesehen und angezeigt. Das sei hier auch nicht deshalb anders zu beurteilen, weil dem Inhalt der Berufungsschrift eine mögliche Auslandsberührung i.S.d. § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG habe entnommen werden können. Ein Mitarbeiter der Geschäftsstelle brauche eine so spezielle Zuständigkeitsvorschrift nicht zu kennen. Im Übrigen komme es auf den Zustand im Zeitpunkt der Rechtshängigkeit an. Bei Eingang der Berufung im LG sei es folglich objektiv gar nicht möglich gewesen, die fehlende Zuständigkeit des LG festzustellen, weil die Gerichtsakten nicht vorgelegen hätten. Gleiches gelte auch für den Kammervorsitzenden. Es entspreche nicht dem ordentlichen Geschäftsgang, bei Bestehen einer möglichen Auslandsberührung die Akte sogleich nach Eingang daraufhin überprüfen zu müssen, ob diese Auslandsberührung bereits bei Prozessbeginn gegeben gewesen sei.
III.
1. Die gegen diesen Beschluss nach § 575 ZPO form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde der Klägerin ist gem. § 238 Abs. 2 S. 1, § 522 Abs. 1 S. 4 ZPO statthaft. Sie ist auch nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zulässig, weil ein anderer Senat des OLG in einer vergleichbaren Sache Wiedereinsetzung gewährt hat (OLG Düsseldorf v. 29.3.2004 - I-5 U 46/04, MDR 2004, 830 = OLGReport Düsseldorf 2004, 307).
2. Die Rechtsbeschwerde ist nicht begründet.
a) Zutreffend und von der Rechtsbeschwerde unbeanstandet ist das OLG davon ausgegangen, dass die Klägerin die Berufungsfrist versäumt hat. Für die Verhandlung und Entscheidung über die Berufung gegen das Urteil des AG war hier nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG das OLG zuständig, da die Klägerin ihren allgemeinen Gerichtsstand im Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit in erster Instanz außerhalb des Geltungsbereichs des Gerichtsverfassungsgesetzes, nämlich auf der zu Großbritannien gehörenden Insel Jersey, hatte. Demgemäß war die Berufung nach § 519 Abs. 1 ZPO durch Einreichung einer Berufungsschrift beim OLG einzulegen. Dort ist die Berufungsschrift der Klägerin jedoch nicht innerhalb der nach § 517 ZPO am 16.7.2004 ablaufenden Berufungsfrist eingegangen, sondern erst am 11.10.2004. Die innerhalb der Berufungsfrist am 6.7.2004 bei dem unzuständigen LG eingegangene und dort verbliebene Berufungsschrift der Klägerin hat die Frist nicht wahren können.
b) Ohne Erfolg wendet sich die Rechtsbeschwerde dagegen, dass das OLG der Klägerin die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist versagt hat. Die Klägerin war nicht ohne ihr Verschulden verhindert, diese Frist einzuhalten (§ 233 ZPO). Vielmehr trifft ihren Prozessbevollmächtigten insofern ein Verschulden an der Versäumung der Frist, das sich die Klägerin nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss, als er die Berufung gegen das Urteil des AG in Verkennung der Vorschrift des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG innerhalb der Berufungsfrist nicht beim zuständigen OLG, sondern beim unzuständigen LG eingelegt hat. Das der Klägerin zuzurechnende Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten ist nach der zutreffenden Ansicht des OLG nicht deswegen folgenlos, weil das - unzuständige - LG die bei ihm eingegangene Berufungsschrift nicht innerhalb der Berufungsfrist an das zuständige OLG weitergeleitet hat. Vergeblich beruft sich die Rechtsbeschwerde insoweit auf den Anspruch auf ein faires Verfahren, der sich aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip ergibt (BVerfG v. 20.6.1995 - 1 BvR 166/93, BVerfGE 93, 99 [113]).
aa) Nach der Rechtsprechung des BVerfG, der sich der BGH angeschlossen hat, darf sich die Abgrenzung dessen, was im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung an richterlicher Fürsorge von Verfassungs wegen geboten ist, nicht nur an dem Interesse der Rechtsuchenden an einer möglichst weit gehenden Verfahrenserleichterung orientieren, sondern muss auch berücksichtigen, dass die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden muss. Danach muss der Partei und ihrem Prozessbevollmächtigten die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener Verfahrenserklärungen nicht allgemein abgenommen und auf unzuständige Gerichte verlagert werden. Bei Abwägung dieser Belange ist jedenfalls ein Gericht, bei dem das Verfahren anhängig gewesen ist, auf Grund der aus dem Gebot eines fairen Verfahrens folgenden nachwirkenden Fürsorgepflicht gehalten, fristgebundene Schriftsätze für das Rechtsmittelverfahren, die bei ihm eingereicht werden, an das zuständige Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Ist ein solcher Schriftsatz so zeitig eingereicht worden, dass die fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann, wirkt sich ein Verschulden der Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten nicht mehr aus und ist der Partei deswegen Wiedereinsetzung zu gewähren (BVerfG v. 20.6.1995 - 1 BvR 166/93, BVerfGE 93, 99 [113 ff.]; ferner: BVerfG v. 3.1.2001 - 1 BvR 2147/00, NJW 2001, 1343; zuletzt: BVerfG v. 17.3.2005 - 1 BvR 950/04, NJW 2005, 2137 [2138]; BGH, Urt. v. 1.12.1997 - II ZR 85/97, MDR 1998, 363 = NJW 1998, 908, unter II 2; Beschl. v. 3.9.1998 - IX ZB 46/98, VersR 1999, 1170, unter 2a bb; Beschl. v. 15.6.2004 - VI ZB 75/03, BGHReport 2004, 1515 = MDR 2004, 1311 = NJW-RR 2004, 1655, unter II 1a, m.w.N.).
bb) Ob diese Grundsätze entgegen der Ansicht des OLG auch für ein unzuständiges Gericht gelten, das - wie hier das LG - vorher nicht mit der Sache befasst worden ist, hat das BVerfG (BVerfG v. 3.1.2001 - 1 BvR 2147/00, NJW 2001, 1343) ausdrücklich offen gelassen und bedarf auch hier keiner Entscheidung. Selbst wenn diese Frage zu bejahen wäre, wie die Rechtsbeschwerde unter Hinweis auf die abweichende Entscheidung eines anderen Senats des OLG (OLG Düsseldorf v. 29.3.2004 - I-5 U 46/04, MDR 2004, 830 = OLGReport Düsseldorf 2004, 307) geltend macht, würde dies dem Wiedereinsetzungsantrag der Klägerin nicht zum Erfolg verhelfen. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde hat das OLG hilfsweise zutreffend angenommen, dass hier die fristgerechte Weiterleitung der beim LG eingegangenen Berufungsschrift an das OLG nicht ohne weiteres erwartet werden konnte. Das gilt unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles trotz des Umstandes, dass zwischen dem Eingang der Berufung beim LG und dem Ablauf der Berufungsfrist ein vergleichsweise langer Zeitraum von zehn Tagen lag.
Es ist weder von der Klägerin glaubhaft gemacht (§ 236 Abs. 2 ZPO) noch sonst ersichtlich, dass dem betreffenden Geschäftsstellenbeamten des LG die Vorschrift des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG bekannt war. Sie musste ihm auch nicht bekannt sein. Die Prüfung der Zulässigkeit der Berufung, zu der die Zuständigkeit nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG gehört, ist nach § 522 Abs. 1 ZPO die Aufgabe des Gerichts in Gestalt der Richter, nicht die der Geschäftsstellenbeamten. Die Zuständigkeit des OLG war für den betreffenden Geschäftsstellenbeamten des LG auch keineswegs "leicht und einwandfrei" (BVerfG v. 2.9.2002 - 1 BvR 476/01, NJW 2002, 3692 [3693]) zu erkennen. Die erst durch Art. 1 des Zivilprozessreformgesetzes v. 27.7.2001 (BGBl. I, 1887) zum 1.1.2002 in das Gerichtsverfassungsgesetz eingefügte Vorschrift des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG ist vielmehr ohne nähere Kenntnis des Regelungszwecks (vgl. dazu: BGH v. 13.5.2003 - VI ZR 430/02, BGHZ 155, 46 [48 f.] = MDR 2003, 1194 = BGHReport 2003, 892 m. Anm. Reichling) ungewöhnlich, weil sie von der bis zu dem vorgenannten Zeitpunkt gültigen Regel des § 72 GVG in der seinerzeit maßgeblichen Fassung abweicht, dass in den vor den AG verhandelten bürgerlichen Rechtstreitigkeiten - mit Ausnahme der von den FamG entschiedenen Sachen - für die Rechtsmittel der Berufung und Beschwerde die LG zuständig sind. Nach alledem kann dahingestellt bleiben, ob von dem Geschäftsstellenbeamten bereits der Berufungsschrift und nicht erst den beigezogenen Akten des AG sicher zu entnehmen war, dass die Klägerin schon im Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit ihren allgemeinen Gerichtsstand außerhalb des Geltungsbereichs des Gerichtsverfassungsgesetzes hatte.
Unter diesen Umständen konnte eine Weiterleitung der Berufungsschrift an das zuständige OLG erst bei Vorlage an den Kammervorsitzenden bzw. dessen Vertreter erwartet werden. Diese ist erstmals nach Eingang des Antrags der Klägerin v. 5.8.2004 auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist erfolgt. Zu diesem Zeitpunkt war die Berufungsfrist indessen bereits abgelaufen. Eine frühere Vorlage mag, wie von der Rechtsbeschwerde geltend gemacht, bei anderen Gerichten üblich sein, ist jedoch weder durch die Bestimmungen der Zivilprozessordnung noch sonst geboten. Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde erfordert es insb. das Gebot eines fairen Verfahrens nicht, dass das angegangene Berufungsgericht unmittelbar nach Eingang einer Berufungsschrift seine Zuständigkeit prüft, um diesbezügliche Fehler des Rechtsmittelführers ausgleichen zu können. Andernfalls würde die Verantwortung für die Ermittlung des zuständigen Berufungsgerichts der Partei und ihrem Prozessbevollmächtigten - anders als vom BVerfG (BVerfG v. 2.9.2002 - 1 BvR 476/01, NJW 2002, 3692 [3693]) verlangt - allgemein abgenommen und auf das angegangene unzuständige Gericht verlagert. Das Gericht kann vielmehr mit der Prüfung seiner Zuständigkeit warten, bis die Akten - etwa wie hier zwecks Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist oder zur Terminierung - ohnehin vorgelegt werden.
c) Hat das OLG mithin der Klägerin die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist zu Recht versagt, hat es auch die Berufung der Klägerin zutreffend gem. § 522 Abs. 1 ZPO als unzulässig verworfen.
3. Nach alledem ist die Rechtsbeschwerde mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 1448832 |
BB 2005, 2602 |
NJW 2005, 3776 |
Inf 2006, 10 |
BGHR 2006, 115 |
FamRZ 2006, 37 |
JurBüro 2006, 110 |
JurBüro 2006, 165 |
MDR 2006, 409 |
PA 2006, 25 |
BRAK-Mitt. 2006, 75 |