Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrenskostenhilfegesuch. Beabsichtigte Beschwerde. Rechtsunsicherheit. Einreichung beim unzuständigen Amtsgericht. Verschulden des Rechtsanwalts. Verfahrenskostenhilfe. Ablauf der Rechtsmittelfrist. Wiedereinsetzung. Irrige Auslegung des Verfahrensrechts. Sorgfaltsanforderungen
Leitsatz (amtlich)
a) Das Verfahrenskostenhilfegesuch für eine beabsichtigte Beschwerde in einer Familiensache war nach der bis 31.12.2012 bestehenden Rechtslage beim OLG einzureichen.
b) Wegen der nach Inkrafttreten der FGG-Reform zunächst insoweit bestehenden Rechtsunsicherheit, die inzwischen zu einer Gesetzesänderung geführt hat, begründet die Einreichung beim hierfür unzuständigen AG kein Verschulden des Rechtsanwalts.
Normenkette
FamFG § 64; ZPO §§ 117, 233
Verfahrensgang
Tenor
Der Antragstellerin wird gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 2. Familiensenats in Kassel des OLG Frankfurt vom 27.4.2012 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Auf die Rechtsbeschwerde der Antragstellerin wird der vorgenannte Beschluss aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das OLG zurückverwiesen.
Beschwerdewert: 4.048 EUR
Gründe
I.
Rz. 1
Die Beteiligten streiten über Volljährigenunterhalt. Die Antragstellerin ist die 1990 geborene Tochter des Antragsgegners. Sie hat vor dem AG beantragt, den Antragsgegner zu Unterhaltszahlungen ab Februar 2010 zu verpflichten.
Rz. 2
Das AG hat den Antrag zurückgewiesen. Der Beschluss des AG ist der Antragstellerin am 22.2.2012 zugestellt worden. Mit einem am 22.3.2012 beim AG eingegangenen Schriftsatz hat die Antragstellerin Verfahrenskostenhilfe für eine beabsichtigte Beschwerde beantragt. Das AG hat den Antrag an das OLG weitergeleitet, bei dem er am 29.3.2012 eingegangen ist.
Rz. 3
Nach einem der Antragstellerin am 5.4.2012 zugestellten Hinweis des OLG, dass der Antrag wegen des erst nach Ablauf der Beschwerdefrist bei ihm erfolgten Eingangs mangels Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung zurückzuweisen sei, hat die Antragstellerin mit einem am 19.4.2012 sowohl beim OLG als auch beim AG eingegangenen Schriftsatz Beschwerde gegen den amtsgerichtlichen Beschluss eingelegt und beantragt, ihr wegen der versäumten Beschwerdefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Rz. 4
Das OLG hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Beschwerde verworfen. Dagegen richtet sich die von der Antragstellerin eingelegte Rechtsbeschwerde, mit der sie ihre Anträge aus der Vorinstanz weiterverfolgt.
II.
Rz. 5
Die nach § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO i.V.m. § 117 Abs. 1 Satz 4 FamFG, §§ 522 Abs. 1 Satz 4, 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Zurückverweisung der Sache an das OLG.
Rz. 6
1. Nach Auffassung des OLG, dessen Entscheidung in FamRZ 2013, 146 veröffentlicht ist, ist einer bedürftigen Partei, die ein Rechtsmittel einlegen will, zwar Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn sie bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist einen vollständigen Antrag auf Prozesskostenhilfe mit einem Vordruck über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst Belegen eingereicht hat. Dieser Antrag müsse aber beim zuständigen Gericht eingereicht werden. Im vorliegenden Fall sei nach § 117 Abs. 1 ZPO das OLG als Rechtsmittelgericht zuständig. An dieser Regelung habe sich durch das seit 1.9.2009 geltende neue Familienverfahrensrecht nichts geändert. Denn die Vorschriften über die Prozesskostenhilfe seien nach § 113 FamFG anwendbar, so dass zwar nach § 64 Abs. 1 FamFG die Beschwerde selbst bei dem Gericht einzulegen sei, dessen Beschluss angefochten werde, der Antrag auf Verfahrenskostenhilfe hingegen weiterhin beim Rechtsmittelgericht eingereicht werden müsse. Die Gegenauffassung, wonach der Antrag auf Verfahrenskostenhilfe beim AG einzureichen sei, weil dort auch die Beschwerde einzulegen sei, vermöge nicht zu überzeugen. Es sei zwar nicht verständlich, warum die Beschwerde beim AG einzulegen sei, der Verfahrenskostenhilfeantrag aber beim Rechtsmittelgericht. Dieser Systembruch ändere aber nichts daran, dass die Regeln der Prozesskostenhilfe unverändert in das neue Verfahrensgesetz einbezogen worden seien. Auch die Gesetzesmaterialien rechtfertigten nicht den Schluss auf einen abweichenden Willen des Gesetzgebers, der Gesetzestext sei vielmehr klar und verständlich. Das AG sei auch nicht das Verfahrensgericht i.S.v. § 117 Abs. 1 ZPO. Aus der alleinigen Verpflichtung zur Weiterleitung der Akten könne sich diese Stellung nicht ergeben. Dafür spreche auch ein Vergleich zu den Regelungen in der Finanzgerichtsbarkeit, wo ebenfalls die Beschwerde beim Ausgangsgericht einzulegen sei, der Prozesskostenhilfeantrag für eine beabsichtigte Beschwerde aber beim Rechtsmittelgericht. Im Verwaltungsprozessrecht gelte das Gleiche.
Rz. 7
2. Das hält in einem entscheidenden Punkt der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Dem OLG ist zwar darin zuzustimmen, dass der Antrag auf Verfahrenskostenhilfe, um eine Wiedereinsetzung wegen Bedürftigkeit begründen zu können, nach der bis zum 31.12.2012 bestehenden Rechtslage beim Rechtsmittelgericht einzureichen war. Insoweit bestand aber nach Inkrafttreten des geänderten Familienverfahrensrechts zum 1.9.2009 eine unklare Rechtslage, die unter den OLG umstritten und höchstrichterlich nicht geklärt war. Die unzutreffende Adressierung des Verfahrenskostenhilfeantrags an das AG ist daher ausnahmsweise als entschuldigt anzusehen.
Rz. 8
a) Zu Recht ist das OLG davon ausgegangen, dass das Verfahrenskostenhilfegesuch nach dem hier noch anzuwendenden - bis zum 31.12.2012 geltenden - Recht (vgl. nunmehr - seit 1.1.2013 - § 64 Abs. 1 Satz 2 FamFG) beim Rechtsmittelgericht einzureichen war.
Rz. 9
Danach war gem. § 113 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 117 Abs. 1 Satz 1 ZPO der Antrag beim Prozessgericht (§ 113 Abs. 5 Nr. 1 FamFG: Verfahrensgericht) zu stellen. Bei der Beantragung von Prozesskostenhilfe entspricht es allgemeiner Meinung, dass der Antrag bei einem noch nicht anhängigen Verfahren bei dem Gericht einzureichen ist, das für die Hauptsache zuständig wäre (vgl. BGH vom 9.3.1994 - XII ARZ 2/94, NJW-RR 1994, 706), ein Prozesskostenhilfegesuch für ein beabsichtigtes Rechtsmittel also beim Rechtsmittelgericht einzureichen ist (vgl. BGH v. 22.8.2001 - XII ZB 67/01, FamRZ 2002, 1704; BGH Beschlüsse v. 26.9.2002 - I ZB 20/02, FamRZ 2003, 89; v. 22.10.1986 - VIII ZB 40/86, NJW 1987, 440). Daran ist, wie das OLG zutreffend hervorgehoben hat, durch das zum 1.9.2009 in Kraft getretene Verfahrensrecht auch in Familienstreitsachen (zunächst) nichts geändert worden. Vielmehr verweist § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG (ebenso in § 76 FamFG) auf die unveränderte Regelung in § 117 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Die geänderte Einlegung des Rechtsmittels in der Hauptsache - beim Ausgangsgericht statt beim Rechtsmittelgericht - ist dagegen allein in § 64 Abs. 1 FamFG geregelt und hat die Zuständigkeit des Rechtsmittelgerichts für die Stellung des Verfahrenskostenhilfeantrags unberührt gelassen (zutreffend FamVerf/Gutjahr 2. Aufl., § 1 Rz. 102; Schael FamFR 2011, 494; Nickel MDR 2010, 1227, 1230).
Rz. 10
Dagegen hat das OLG Bremen die Auffassung vertreten, jedenfalls bis zur Weiterleitung der Verfahrensakten an das Beschwerdegericht könne das Verfahrenskostenhilfegesuch außer bei dem Rechtsmittelgericht auch bei dem Gericht eingereicht werden, dessen Entscheidung angefochten werden soll (OLG Bremen FamRZ 2011, 913). Weitergehend hat das OLG Bamberg die Auffassung vertreten, der Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für eine beabsichtigte Beschwerde sei grundsätzlich beim AG einzureichen (OLG Bamberg FamRZ 2012, 49; ebenso OLG Brandenburg Beschl. v. 26.11.2012 - 9 UF 64/12 - nicht veröffentlicht). In der Literatur ist ebenfalls die Auffassung vertreten worden, für die Stellung des Verfahrenskostenhilfeantrags sei das AG als Ausgangsgericht zuständig (Prütting/Helms/Stößer FamFG 2. Aufl., § 76 Rz. 53; Horndasch/Viefhues/Götsche FamFG 2. Aufl., § 76 Rz. 109; vgl. Büte FuR 2012, 119, 120 f. m.w.N.).
Rz. 11
Das vermag nicht zu überzeugen. Die Empfangszuständigkeit für das Rechtsmittel macht das AG noch nicht zum zuständigen Verfahrensgericht. Die Regelung in § 117 Abs. 1 Satz 1 ZPO geht davon aus, dass das Prozesskostenhilfe- bzw. Verfahrenskostenhilfegesuch bei dem Gericht einzureichen ist, das auch zur Entscheidung darüber zuständig ist. Die Einlegung des Rechtsmittels in der Hauptsache ist davon zu unterscheiden und unterliegt eigenen Regeln. Dementsprechend wird, wie das OLG richtig ausgeführt hat, auch von der Rechtsprechung anderer Fachgerichtsbarkeiten ungeachtet der Einlegung des Rechtsmittels beim Ausgangsgericht die Einreichung des Prozesskostenhilfegesuchs beim Rechtsmittelgericht verlangt, so im finanzgerichtlichen Verfahren (vgl. §§ 129 Abs. 1, 142 Abs. 1 FGO; BFH BB 1981, 151; BFH Beschl. v. 13.7.1995 - VII S 1/95 - juris Rz. 9) und auch im Verwaltungsprozess (§§ 124a Abs. 2, 166 VwGO; BVerwG Beschl. v. 21.1.1999 - 1 B 3/99, 1 PKH 1/99 - Buchholz 310 § 166 VwGO Nr. 38).
Rz. 12
Soweit der BGH für die Einlegung der Revision bei dem BayObLG dieses für die Stellung des Prozesskostenhilfegesuchs als zuständig angesehen hat (BGHZ 98, 318 = NJW 1987, 1023), beruht dies auf den Besonderheiten der zwischen dem BayObLG und dem BGH seinerzeit geteilten Revisionszuständigkeit, welche zunächst ein vor dem BayObLG durchzuführendes Zuständigkeitsverfahren nach § 7 Abs. 2 EGZPO a.F. erforderlich machte.
Rz. 13
b) Eine Wiedereinsetzung ist jedoch aus anderen Gründen zu gewähren. Denn der Rechtsanwältin der Antragstellerin ist die unzutreffende Adressierung des Verfahrenskostenhilfeantrags an das AG nicht als Verschulden anzulasten.
Rz. 14
Der Rechtsirrtum eines Rechtsanwalts ist allerdings in der Regel nicht unverschuldet (BGH v. 3.11.2010 - XII ZB 197/10, FamRZ 2011, 100 Rz. 19 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des BGH muss ein Rechtsanwalt die Gesetze kennen, die in einer Anwaltspraxis gewöhnlich zur Anwendung kommen. Eine irrige Auslegung des Verfahrensrechts kann als Entschuldigungsgrund nur dann in Betracht kommen, wenn der Prozessbevollmächtigte die volle, von einem Rechtsanwalt zu fordernde Sorgfalt aufgewendet hat, um zu einer richtigen Rechtsauffassung zu gelangen. Hierbei ist ein strenger Maßstab anzulegen, denn die Partei, die dem Anwalt die Prozessführung überträgt, vertraut zu Recht darauf, dass er dieser als Fachmann gewachsen ist. Wenn die Rechtslage zweifelhaft ist, muss der bevollmächtigte Anwalt den sicheren Weg wählen (BGH Beschluss vom 9.7.1993 - V ZB 20/93, NJW 1993, 2538, 2539 m.w.N.). Von einem Rechtsanwalt ist zu verlangen, dass er sich anhand einschlägiger Fachliteratur (vor allem Fachzeitschriften und Kommentare) über den aktuellen Stand der Rechtsprechung informiert. Dazu besteht umso mehr Veranlassung, wenn es sich um eine vor kurzem geänderte Gesetzeslage handelt, die ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit verlangt.
Rz. 15
Demgegenüber kann auch ein Rechtsirrtum ausnahmsweise entschuldigt sein, wenn er auch unter Anwendung der genannten Sorgfaltsanforderungen nicht vermeidbar war. Das hat der Senat angenommen im Fall, dass zu einer verfahrensrechtlichen Frage divergierende Rechtsprechung mehrerer Senate des BGH ergangen ist (BGH v. 19.12.2012 - XII ZB 169/12, FamRZ 2013, 437 Rz. 19; vgl. auch BGH Beschl. v. 25.10.1978 - IV ZB 65/78, VersR 1979, 159 m.w.N. sowie Musielak/Grandel ZPO, 10. Aufl. Rz. 44 m.w.N.).
Rz. 16
Zwar ist der Rechtsirrtum eines Rechtsanwalts in einer zweifelhaften Rechtsfrage vom Senat dann nicht als unverschuldet angesehen worden, wenn er einer vereinzelten Literaturmeinung gefolgt ist und entgegenstehende veröffentlichte Rechtsprechung eines OLG unbeachtet gelassen hat (BGH v. 3.11.2010 - XII ZB 197/10, FamRZ 2011, 100 Rz. 19 m.w.N.). Davon unterscheidet sich der vorliegende Fall aber dadurch, dass es sich - wie oben ausgeführt - um eine unter den OLG umstrittene Frage handelte, sich eine eindeutig überwiegende Auffassung noch nicht gebildet hatte und sich zudem die zunächst veröffentlichte Rechtsprechung für eine Einreichung des Verfahrenskostenhilfegesuchs beim AG ausgesprochen hatte. Außerdem hat diese Meinung in der zum 1.1.2013 in Kraft getretenen gesetzlichen Neuregelung ihren Niederschlag gefunden. Durch das Gesetz zur Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess und zur Änderung anderer Vorschriften vom 5.12.2012 (BGBl. I, 3418) ist die Regelung mit Wirkung vom 1.1.2013 dahin geändert worden, dass nach § 64 Abs. 1 Satz 2 FamFG Anträge auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für eine beabsichtigte Beschwerde bei dem Gericht "einzulegen" sind, dessen Beschluss angefochten werden soll (vgl. BT-Drucks. 17/10490, 18 f.).
Rz. 17
Vor diesem Hintergrund war von einem Rechtsanwalt, der bei der bestehenden unklaren Rechtslage mangels vorliegender höchstrichterlicher Rechtsprechung einer in der Rechtsprechung der OLG und im Schrifttum zahlenmäßig stark vertretenen Auffassung gefolgt ist, auch nicht zu verlangen, dass er das Verfahrenskostenhilfegesuch sowohl bei dem AG als auch bei dem OLG einreichte, so dass ihm auch im Hinblick auf das Gebot der Wahl des sichersten Weges (vgl. BGH v. 19.12.2012 - XII ZB 169/12, FamRZ 2013, 437 Rz. 19; vgl. auch BGH Beschl. v. 25.10.1978 - IV ZB 65/78, VersR 1979, 159 m.w.N.; ebenso OLG Bamberg FamRZ 2012, 49 - juris Rz. 13) im Ergebnis kein Verschuldensvorwurf zu machen ist.
Rz. 18
Nach den vorstehenden Grundsätzen ist der Rechtsanwältin der Antragstellerin wegen der Einreichung des Verfahrenskostenhilfegesuchs beim AG kein der Antragstellerin zurechenbares Verschulden anzulasten.
Rz. 19
3. Der angefochtene Beschluss ist demnach aufzuheben. Hinsichtlich des Antrags auf Wiedereinsetzung und in der Hauptsache ist die Sache an das OLG zurückzuverweisen.
Fundstellen
NJW 2013, 2971 |
EBE/BGH 2013 |
FamRZ 2013, 1567 |
FuR 2013, 3 |
FuR 2013, 705 |
ZAP 2013, 978 |
FPR 2013, 5 |
JZ 2013, 583 |
MDR 2014, 365 |
FF 2013, 380 |
FamFR 2013, 398 |
FamRB 2013, 5 |
FamRB 2014, 54 |
RENOpraxis 2013, 225 |