Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen einer Verfahrensaussetzung bei einer Vielzahl von gleich gelagerten Fällen
Leitsatz (amtlich)
a) Der Umstand, dass beim BGH ein Revisionsverfahren anhängig ist, in dem über eine Rechtsfrage zu entscheiden ist, von deren Beantwortung auch die Entscheidung eines zweiten Rechtsstreits ganz oder teilweise abhängt, rechtfertigt die Aussetzung der Verhandlung des zweiten Rechtsstreits grundsätzlich auch dann nicht, wenn bei dem zur Entscheidung berufenen Gericht eine Vielzahl von gleich gelagerten Fällen anhängig ist.
b) Es bleibt offen, ob eine Aussetzung ausnahmsweise dann erfolgen darf, wenn die Zahl der bei dem Gericht anhängigen Verfahren die Grenze erreicht, bei der eine angemessene Bewältigung schlechthin nicht mehr möglich ist (Anschluss an BGH, Beschl. v. 30.3.2005 - X ZB 26/04, BGHZ 162, 373, 377 und X ZB 20/04, juris Rz. 13, 15).
Normenkette
ZPO § 148
Verfahrensgang
LG Hamburg (Beschluss vom 23.08.2011; Aktenzeichen 304 S 54/10) |
AG Hamburg-Harburg (Entscheidung vom 02.07.2010; Aktenzeichen 645 C 320/09) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Beklagten wird der Beschluss der Zivilkammer 4 des LG Hamburg vom 23.8.2011 aufgehoben.
Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückgegeben.
Der Beschwerdewert wird auf 300 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Rz. 1
Die Klägerin begehrt von dem beklagten Sonderkunden die Zahlung restlichen Entgelts für Gaslieferungen; insoweit streiten die Parteien über die Berechtigung von Gaspreiserhöhungen. Das AG hat die Klage abgewiesen. Das LG (Zivilkammer 4) hat das Berufungsverfahren analog § 148 ZPO bis zur Entscheidung der beim Senat anhängigen Revisionsverfahren VIII ZR 93/11 und VIII ZR 94/11, die Parallelverfahren der Klägerin gegen andere Kunden betreffen, ausgesetzt. Hiergegen richtet sich die vom LG zugelassene Rechtsbeschwerde des Beklagten.
II.
Rz. 2
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
Rz. 3
1. Das LG hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:
Rz. 4
Zwar sei eine Vorgreiflichkeit i.S.d. § 148 ZPO nicht gegeben. Das vorliegende Verfahren könne aber analog § 148 ZPO ausgesetzt werden, da es sich hierbei um einen Teil eines "Massenverfahrens" handele und die Unmöglichkeit einer angemessenen Bewältigung der Gesamtheit der Verfahren das Gewicht verfahrenswirtschaftlicher Erwägungen so erhöhe, dass hierdurch ein qualitativ anderer Wertungsgesichtspunkt als die "normale" Prozessökonomie begründet werde. Bei dem LG Hamburg seien mehrere Hundert gleich gelagerte Berufungen anhängig. Nach Abschluss der beim BGH anhängigen Revisionsverfahren sei zu erwarten, dass entweder die Klägerin ihre Berufung zurücknehme oder die Beklagtenseite den Klageanspruch anerkenne. Eine streitige Fortsetzung des vorliegenden Verfahrens zum gegenwärtigen Zeitpunkt würde daher zu einer erheblichen Mehrbelastung des Gerichts führen. Sie wäre insb. auch für die betroffenen Parteien in einem Maße unwirtschaftlich, dass es gerechtfertigt erscheine, dem Wertungsgesichtspunkt der Prozessökonomie das erforderliche Gewicht beizumessen.
Rz. 5
2. Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Rz. 6
a) Nach § 148 ZPO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen Rechtsstreits bildet, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen ist. Die Aussetzung der Verhandlung setzt damit die Vorgreiflichkeit der in dem anderen Rechtsstreit zu treffenden Entscheidung im Sinne einer (zumindest teilweise) präjudiziellen Bedeutung voraus, also dass die Entscheidung in dem einen Rechtsstreit die Entscheidung des anderen rechtlich beeinflussen kann (BGH, Beschl. v. 30.3.2005 - X ZB 26/04, BGHZ 162, 373, 375). Diese Voraussetzung ist - wie das LG auch erkannt hat - vorliegend nicht erfüllt, da die beim Senat anhängigen Revisionsverfahren VIII ZR 93/11 und VIII ZR 94/11 im Hinblick auf das der Rechtsbeschwerde zugrunde liegende Verfahren weder materielle Rechtskraft entfalten noch Gestaltungs- oder Interventionswirkung haben (vgl. Roth in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., § 148 Rz. 23 ff.). Es genügt nicht, dass die in den genannten Revisionsverfahren zu erwartenden Entscheidungen (lediglich) geeignet sind, einen rein tatsächlichen Einfluss auf die zu treffende Entscheidung zu haben (vgl. BGH, Beschl. v. 30.3.2005 - X ZB 26/04, a.a.O.; v. 25.1.2006 - IV ZB 36/03, juris Rz. 2; BAG, NJOZ 2005, 2318, 2324).
Rz. 7
b) Allein die Tatsache, dass in einem anderen Verfahren über einen gleich oder ähnlich gelagerten Fall nach Art eines Musterprozesses entschieden werden soll, rechtfertigt für sich genommen ebenfalls noch keine Aussetzung analog § 148 ZPO (BGH, Beschl. v. 30.3.2005 - X ZB 26/04, a.a.O., S. 376, und X ZB 20/04, juris Rz. 11; vgl. auch BGH, Beschl. v. 25.1.2006 - IV ZB 36/03, a.a.O.; BGH, Urt. v. 21.2.1983 - VIII ZR 4/82, NJW 1983, 2496 unter II 2a; OLG Stuttgart OLGReport Stuttgart 1999, 134 f.). Insbesondere enthält § 148 ZPO keine allgemeine Ermächtigung, die Verhandlung eines Rechtsstreits zur Abwendung einer vermeidbaren Mehrbelastung des Gerichts auszusetzen (BGH, Beschl. v. 30.3.2005 - X ZB 26/04, a.a.O.). Denn die Vorschrift stellt nicht auf sachliche oder tatsächliche Zusammenhänge zwischen verschiedenen Verfahren, sondern auf die Abhängigkeit vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses ab. Allein die tatsächliche Möglichkeit eines Einflusses genügt dieser gesetzlichen Voraussetzung nicht, so dass die bloße Übereinstimmung in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage die Aussetzung noch nicht erlaubt (BGH, Beschl. v. 30.3.2005 - X ZB 26/04, a.a.O., S. 377, und X ZB 20/04, juris Rz. 15; BFH, BFH/NV 2010, 1847). Dem entsprechend hat auch der Gesetzgeber mit § 7 KapMuG und § 93a VwGO eigens spezialgesetzliche Grundlagen für eine von § 148 ZPO bzw. der parallelen Vorschrift des § 94 VwGO an sich nicht mehr gedeckte Aussetzung von Musterverfahren geschaffen (vgl. BT-Drucks. 11/7030, 28; 15/5091 S. 14).
Rz. 8
c) Die vom BGH in diesem Zusammenhang bislang ausdrücklich offen gelassene Frage, ob bei "Massenverfahren" die Unmöglichkeit der angemessenen Bewältigung der Gesamtheit der Verfahren das Gewicht verfahrenswirtschaftlicher Erwägungen so zu erhöhen vermag, dass hierin ein nicht nur quantitativ, sondern qualitativ anderer Wertungsgesichtspunkt als die "normale" Prozessökonomie hervortritt (BGH, Beschl. v. 30.3.2005 - X ZB 26/04, a.a.O., S. 377, und X ZB 20/04, a.a.O., Rz. 13; vgl. auch Stürner, JZ 1978, 499), bedarf auch vorliegend keiner Entscheidung. Voraussetzung für die Annahme eines derartigen "Massenverfahrens" wäre jedenfalls, dass das Gericht mit einer schlechthin nicht zu bewältigenden Vielzahl von gleich gelagerten Verfahren befasst ist (BGH, Beschl. v. 30.3.2005 - X ZB 20/04, a.a.O., Rz. 15). Dazu hat das LG bislang keine zureichenden Feststellungen getroffen.
Rz. 9
Der Beschluss lässt bereits nicht erkennen, wie viele der bei dem LG Hamburg anhängigen gleich gelagerten Berufungsverfahren, deren Zahl mit mehreren Hundert angegeben ist, gerade bei der Zivilkammer 4 anhängig sind. Diese Angabe ist jedoch erforderlich, um beurteilen zu können, ob das Gericht mit einer schlechthin nicht zu bewältigenden Vielzahl von gleich gelagerten Verfahren befasst ist, die es ggf. rechtfertigen könnte, aus besonderen verfahrenswirtschaftlichen Erwägungen eine Aussetzung jedenfalls eines Teils der anhängigen Verfahren in Betracht zu ziehen. Allein der Umstand, dass auch bei anderen Spruchkörpern desselben Gerichts weitere gleich gelagerte Verfahren anhängig sind, lässt eine solche Aussetzung in entsprechender Anwendung des § 148 ZPO nicht zu, da dies für die Belastung des zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers und dessen Fähigkeit zur angemessenen Bewältigung der bei ihm anhängigen Verfahren ohne Aussagekraft ist.
Rz. 10
Ebenso wenig wird eine solche Aussetzung durch die Überlegung des Berufungsgerichts gerechtfertigt, dass eine streitige Fortsetzung des vorliegenden Verfahrens zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu einer erheblichen Mehrbelastung des Gerichts führen würde und auch für die betroffenen Parteien in besonderer Weise unwirtschaftlich wäre. Zu einer solchen erheblichen Mehrbelastung der Zivilkammer 4 ist - wie ausgeführt - nichts Näheres festgestellt, so dass sich auch schon deshalb der Hinweis auf die Unwirtschaftlichkeit einer Verfahrensfortsetzung noch im Bereich "normaler" Prozessökonomie bewegt, die die vorgenommene Verfahrensaussetzung nicht trägt (vgl. BGH, Beschl. v. 30.3.2005 - X ZB 26/04, und X ZB 20/04; jeweils a.a.O.).
Fundstellen
Haufe-Index 2939491 |
BB 2012, 845 |
NJW 2012, 8 |
EBE/BGH 2012 |
FamRZ 2012, 873 |
NJW-RR 2012, 575 |
NZG 2012, 598 |
ZAP 2012, 493 |
ZIP 2012, 2132 |
MDR 2012, 539 |
ZfBR 2012, 440 |
GuT 2012, 54 |