Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen. Gerichtliche Zuständigkeit. Begriffe ‚Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag’ und ‚unerlaubte Handlung’. Plötzlicher Abbruch langjähriger Geschäftsbeziehungen. Schadensersatzklage. Begriffe ‚Verkauf beweglicher Sachen’ und ‚Erbringung von Dienstleistungen’
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 44/2001 Art. 5 Nrn. 1, 3
Beteiligte
Tenor
1. Art. 5 Nr. 3 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass eine Schadensersatzklage wegen plötzlichen Abbruchs langjähriger Geschäftsbeziehungen wie die Klage im Ausgangsverfahren nicht „eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder Ansprüche aus einer solchen Handlung” im Sinne dieser Verordnung betrifft, wenn zwischen den Parteien eine stillschweigende vertragliche Beziehung bestand, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. Der Nachweis des Vorliegens einer solchen stillschweigenden vertraglichen Beziehung muss auf einem Bündel übereinstimmender Indizien beruhen, zu denen u. a. das Bestehen langjähriger Geschäftsbeziehungen, Treu und Glauben zwischen den Parteien, die Regelmäßigkeit der Transaktionen und deren in Menge und Wert ausgedrückte langfristige Entwicklung, etwaige Absprachen zu den in Rechnung gestellten Preisen und/oder zu den gewährten Rabatten sowie die ausgetauschte Korrespondenz gehören können.
2. Art. 5 Nr. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 ist dahin auszulegen, dass langjährige Geschäftsbeziehungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden als „Vertrag über den Verkauf beweglicher Sachen” einzustufen sind, wenn die charakteristische Verpflichtung des fraglichen Vertrags die Lieferung eines Gegenstands ist, und als „Vertrag über eine Erbringung von Dienstleistungen”, wenn diese Verpflichtung die Bereitstellung von Dienstleistungen ist, was festzustellen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d'appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) mit Entscheidung vom 7. April 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 29. April 2015, in dem Verfahren
Granarolo SpA
gegen
Ambrosi Emmi France SA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin), des Richters A. Rosas, der Richterin A. Prechal und des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. Dezember 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Granarolo SpA, vertreten durch S. Dechelette-Roy und M. Agbo, avocats,
- der Ambrosi Emmi France SA, vertreten durch L. Pettiti, avocat,
- der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, F. X. Bréchot und C. David als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Lewis und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 23. Dezember 2015
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Nrn. 1 und 3 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1, im Folgenden: Brüssel-I-Verordnung).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gesellschaft italienischen Rechts Granarolo SpA und der Gesellschaft französischen Rechts Ambrosi Emmi France SA (im Folgenden: Ambrosi) wegen einer Schadensersatzklage aufgrund plötzlichen Abbruchs langjähriger Geschäftsbeziehungen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 2 Abs. 1 der Brüssel-I-Verordnung bestimmt:
„Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen.”
Rz. 4
Art. 5 Nrn. 1 und 3 dieser Verordnung lauten:
„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden:
1.
- wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre;
im Sinne dieser Vorschrift – und sofern nichts anderes vereinbart worden ist – ist der Erfüllungsort der Verpflichtung
- für den Verkauf beweglicher Sachen der Ort in einem Mitgliedstaat, an dem sie nach dem Vertrag geliefert worden sind oder hätten geliefert werden müssen;
- für die Erbringung von Dienstleistungen der Ort in einem Mitgliedstaat, an de...