Leitsatz (amtlich)

Kommt ein Fahrzeug nach einer Vollbremsung in einer langgezogenen Kurve unter im Übrigen ungeklärten Umständen von der Fahrbahn ab und behauptet der Fahrer, dass die Unfallursache für den Unfall ein plötzlich auf der Fahrbahn auftauchendes Reh gewesen sei, so muss er die Existenz des Rehs als atypischen Geschehensablauf beweisen (zur Abgrenzung Anscheinsbeweis, Beweis eines atypischen Geschehensablaufes s.a. OLG Naumburg, Urt. v. 17.12.2002 – 9 U 178/02).

 

Verfahrensgang

LG Halle (Saale) (Aktenzeichen 14 O 63/02)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das am 6.9.2002 verkündete Urteil des LG Halle – Az. 14 O 63/02 – abgeändert.

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld i.H.v. 5.000 Euro – betreffend den Zeitraum bis zum 17.12.2002 – nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 26.4.2002 zu zahlen.

Die Beklagten werden weiterhin als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 66 Euro nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 26.4.2002 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche materielle und immaterielle Schäden, soweit sie nach dem 17.12.2002 entstehen, aus dem Unfall vom 5.8.2001 auf der Ortsverbindungsstraße Sch./W. zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

Die Beklagten tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Rechtsstreits.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Wert der Beschwer für beide Parteien: unter 20.000 Euro

 

Gründe

A. Von der Darstellung des Sachverhalts wird gem. §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO abgesehen.

B. I. Die Berufung ist zulässig.

Sie hat auch in der Sache Erfolg. Die Klage ist überwiegend begründet.

1. Zahlungsanträge

Der Kläger hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes i.H.v. 5.000 Euro, betreffend den Zeitraum bis zur letzten mündlichen Verhandlung, gem. § 847 Abs. 1 BGB a.F. sowie auf Ersatz des ihm infolge des streitgegenständlichen Verkehrsunfalles vom 5.8.2001 entstandenen materiellen Schadens i.H.v. 66 Euro gem. § 823 Abs. 1 BGB, bezüglich der Beklagten zu 2. jeweils i.V.m. § 3 Nr. 1 PflVG. Außerdem stehen ihm Zinsen seit Rechtshängigkeit auf die o.g. Beträge zu.

a) Schadensgrund

Entgegen der Auffassung des LG (Bl. 64 f.) ist vorliegend nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises davon auszugehen, dass der Beklagte zu 1) infolge unvorsichtiger Fahrweise den streitgegenständlichen Verkehrsunfall verschuldet hat.

Zwar setzt die Anwendung des Anscheinsbeweises auch bei Verkehrsunfällen Geschehensabläufe voraus, bei denen sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat; der Anscheinsbeweis ist daher nur auf Tatbestände anzuwenden, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist (BGH v. 19.3.1996 – VI ZR 380/94, MDR 1996, 794 = NZV 1996, 277). Insoweit entspricht es jedoch grundsätzlich der allgemeinen Lebenserfahrung, dass einem Kraftfahrer, der mit dem von ihm geführten Fahrzeug von der Fahrbahn abkommt, ein bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt vermeidbarer Fahrfehler zur Last fällt (st. Rspr. BGH v. 19.3.1996 – VI ZR 380/94, MDR 1996, 794 = NZV 1996, 277; NZV 1998, 155; NZV 2000, 207).

Allerdings reicht das Kerngeschehen des Abkommens von der Fahrbahn als Grundlage für die Annahme eines Anscheinsbeweises dann nicht aus, wenn weitere Umstände bekannt sind, die als Besonderheiten gegen die sonst gegebene Typizität sprechen (vgl. die oben zitierte BGH-Rechtsprechung). Sofern hingegen außer dem Abkommen von der Fahrbahn weiter nichts feststeht und auch nicht – im Wege einer Beweisaufnahme – festgestellt werden kann, bleibt es bei dem Anscheinsbeweis für einen vermeidbaren Fahrfehler (vgl. auch OLG Karlsruhe v. 16.12.1992 – 1 U 140/92, VRS 86, 85).

Vorliegend kann lediglich – aufgrund der am Unfallort festgestellten Bremsspuren (vgl. die polizeiliche Unfallskizze Bl. 40) – zugunsten der Beklagten davon ausgegangen werden, dass das Abkommen von der Fahrbahn im Zusammenhang mit einer starken Bremsung bzw. Vollbremsung des Beklagten zu 1) stand. Dieser Umstand allein führt jedoch nicht dazu, einen typischen Geschehensablauf zu verneinen. Denn das durchgeführte Bremsmanöver ist als Folge einer Unaufmerksamkeit des Beklagten zu 1) beim Durchfahren der langgezogenen Kurve ohne Weiteres denkbar.

Hingegen steht nicht fest und kann aufgrund einer durchzuführenden Beweisaufnahme auch nicht festgestellt werden, dass in kurzer Entfernung vor dem Beklagtenfahrzeug ein Reh auf die Fahrbahn gesprungen ist und deshalb aus Sicht des Beklagten zu 1) die Durchführung des Bremsmanövers erforderlich war. Im Einzelnen:

  • Der Umstand, dass der Beklagte zu 1) im polizeilichen Ermittlungsverfahren das Erscheinen des Rehes auf ...

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