Entscheidungsstichwort (Thema)

Übersiedlung nach Deutschland ohne Aufnahmebescheid. besondere Härte. Erteilung eines Staatsangehörigkeitsausweises vor der Übersiedlung

 

Leitsatz (amtlich)

Bei einem Verlassen des Aussiedlungsgebiets ohne Aufnahmebescheid kann in der Versagung der nachträglichen Erteilung eines Aufnahmebescheids eine besondere Härte im Sinne des § 27 Abs. 2 BVFG liegen, wenn der in § 27 Abs. 1 BVFG mit dem Erfordernis, die Erteilung eines Aufnahmebescheids im Aussiedlungsgebiet abzuwarten, zum Ausdruck kommende Gesetzeszweck nicht beeinträchtigt wird (hier: Übersiedlung nach Deutschland ohne Aufnahmebescheid mit einem zuvor ausgestellten Staatsangehörigkeitsausweis unter der Geltung des zwischen dem 1. Juli 1990 und dem 1. Januar 1993 geltenden Rechts).

 

Normenkette

BVFG § 27 Abs. 2

 

Verfahrensgang

OVG für das Land NRW (Urteil vom 05.11.1997; Aktenzeichen 22 A 7395/95)

VG Köln (Urteil vom 28.09.1995; Aktenzeichen 16 K 7021/92)

 

Tenor

Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. November 1997 wird aufgehoben.

Ferner werden das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 28. September 1995, der Bescheid der Beklagten vom 24. Juli 1991 sowie der Widerspruchsbescheid vom 15. Oktober 1992 aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin einen Aufnahmebescheid zu erteilen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

 

Tatbestand

I.

Die Klägerin begehrt die Erteilung eines Aufnahmebescheids nach § 27 Abs. 2 BVFG.

Sie wurde am 6. September 1929 in Habicht, Kreis Ratibor, Westoberschlesien, geboren. Ihr Vater, der 1902 ebenfalls im Kreis Ratibor geborene August P., war nach Angaben der Klägerin seit 1939 Angehöriger der Wehrmacht. Er ist 1945 in der früheren Sowjetunion umgekommen. Die Mutter der Klägerin, Maria, geborene K., wurde 1905 ebenfalls in Habicht geboren. Sie ist 1983 verstorben. Der 1878 gleichfalls im Kreis Ratibor geborene Großvater väterlicherseits, Karl P., ist im Ersten Weltkrieg 1916 in Frankreich gefallen. Die 1879 im Kreis Cosel/ Westoberschlesien geborene Großmutter väterlicherseits ist 1948 verstorben. Die Klägerin lebte mit ihrer Mutter und der Großmutter väterlicherseits von 1933 bis 1945 in Hindenburg (polnisch: Zabrze), Westoberschlesien, wo sie auch danach wohnte.

1951 heiratete die Klägerin den 1929 im Kreis Beuthen/Westoberschlesien geborenen und am 22. März 1989 verstorbenen Karl-August M. Aus dieser Ehe stammt die Tochter Gabriele, die am 4. Juni 1987 nach Deutschland übergesiedelt ist und in S. lebt.

Am 3. Juli 1989 stellte das Landratsamt B. der Klägerin einen bis zum 2. Juli 1999 befristeten Staatsangehörigkeitsausweis aus. Darin ist als Wohnort S. (Adresse der Tochter Gabriele) angegeben.

Unter dem 17. Oktober 1990 beantragte die Klägerin die Erteilung eines Aufnahmebescheids. In dem mit dem Antragsformular übersandten Anschreiben vom 19. Oktober 1990 bat sie um möglichst rasche Bearbeitung ihres Antrags: Sie halte sich besuchsweise vom 4. Oktober 1990 bis 23. Dezember 1990 bei ihrer Tochter Gabriele auf, von der sie bei Antragsstattgabe auch aufgenommen werde. Ihren Haushalt in Polen habe sie bereits aufgelöst. In einem Schreiben vom 13. Februar 1991 führte sie weiter aus, sie sei am 4. Oktober 1990 als Besucherin bei ihrer Tochter eingetroffen in der Annahme, daß sie als Deutsche aufgenommen werde, da sie seit dem 3. Juli 1989 einen Staatsangehörigkeitsausweis besitze. Weiterhin wiederholte sie, daß sie ihren Haushalt in Polen aufgelöst und dort keine Bleibe mehr habe. Der Schwiegersohn der Klägerin bestätigte in einem Telefongespräch, daß deren Wohnsitz in Polen nicht mehr vorhanden sei.

Durch Bescheid vom 24. Juli 1991, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 15. Oktober 1992, lehnte die Beklagte den Antrag ab: Die Klägerin sei zwar Reichsdeutsche seit ihrer Geburt. Sie habe jedoch die Durchführung des Aufnahmeverfahrens nicht im Herkunftsgebiet abgewartet, sondern ohne Erteilung eines Aufnahmebescheids am 4. Oktober 1990 ihren Wohnsitz in Polen aufgegeben und in S. begründet.

Das Berufungsgericht hat die nach erfolglosem erstinstanzlichen Verfahren eingelegte Berufung der Klägerin zurückgewiesen: Sollte sie – wie die Beklagte nunmehr vortrage – Polen bereits vor dem 1. Juli 1990 verlassen haben, sei ihre Klage schon aus diesem Grund unbegründet. Das Erfordernis eines Aufnahmebescheids sei erst mit Wirkung vom 1. Juli 1990 für Personen eingerichtet worden, die das Vertreibungsgebiet nach diesem Zeitpunkt verlassen wollten. Bei einem Verlassen des Vertreibungsgebiets vor dem 1. Juli 1990 sei dagegen ein Aufnahmebescheid weder gesetzlich vorgesehen, noch bedürfe es eines solchen zum Erwerb des Aussiedlerstatus nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG. Sollte die Klägerin erst nach dem 1. Juli 1990 ihren ständigen Wohnsitz in Polen aufgegeben haben, sei ihre Klage ebenfalls unbegründet. In diesem Fall könne ihr sowohl gemäß § 27 Abs. 2 BVFG a.F. als auch nach der gleichlautenden Vorschrift des § 27 Abs. 2 BVFG n.F. ein Aufnahmebescheid nur erteilt werden, wenn die Versagung des Aufnahmebescheids eine besondere Härte bedeuten würde und die sonstigen Voraussetzungen vorlägen. Die Versagung des begehrten Aufnahmebescheids stelle jedoch keine besondere Härte für die Klägerin dar. Eine besondere Härte liege vor, wenn das nach § 27 Abs. 1 BVFG den Regelfall bildende Erfordernis eines Aufnahmebescheides vor Verlassen des Vertreibungsgebiets zu einem unbilligen Ergebnis führen würde, das vom Gesetz so nicht beabsichtigt sei. Ein solcher Ausnahmefall liege hier nicht vor. Er ergebe sich insbesondere nicht aus der allein in Betracht kommenden individuellen Situation der Klägerin. Aus ihrer deutschen Staatsangehörigkeit lasse sich eine besondere Härte nicht herleiten. Nach dem Bundesvertriebenengesetz sei das Erfordernis eines vor Verlassen des Vertreibungsgebietes ergangenen Aufnahmebescheids gerade auch für deutsche Staatsangehörige vorgeschrieben. Dadurch werde das für alle Deutschen geltende Grundrecht der Freizügigkeit nach Art. 11 GG nicht eingeschränkt. Dieses Grundrecht gewährleiste das Recht, an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen und auch zu diesem Zweck in das Bundesgebiet einzureisen. Die Klägerin sei aber als deutsche Staatsangehörige nicht gehindert, auch ohne Erteilung eines Aufnahmebescheids Aufenthalt und Wohnsitz im Bundesgebiet zu nehmen, und habe auch von diesem Recht Gebrauch gemacht. Zwar könne sie deshalb die mit dem Erwerb des Aussiedlerstatus verbundenen Vergünstigungen nicht in Anspruch nehmen. Darin liege jedoch auch keine mittelbare Einschränkung des Grundrechts auf Freizügigkeit. Eine solche Einschränkung komme allenfalls dann in Betracht, wenn die fehlende Möglichkeit, die für Aussiedler vorgesehenen Vergünstigungen in Anspruch nehmen zu können, objektiv geeignet sei, einen beherrschenden Einfluß auf die Willensbildung des Aufnahmebewerbers auszuüben. Dafür seien jedoch im vorliegenden Fall keine greifbaren Anhaltspunkte ersichtlich. Die Klägerin behaupte insbesondere nicht, daß ihre wirtschaftliche Existenz im Bundesgebiet ohne die Gewährung der vorgesehenen Vergünstigungen nicht gesichert sei.

Mit ihrer Revision macht die Klägerin geltend, daß die Auffassung des Berufungsgerichts gegen Art. 11 Abs. 1 GG verstoße: Dessen Argumentation laufe darauf hinaus, daß der Gesetzgeber die Einreisefreiheit deutscher Staatsangehöriger einschränken dürfe, wenn sie bestimmte staatliche Vergünstigungen für den Fall der Übersiedlung ausnutzen wollten. Nach Art. 11 Abs. 2 GG sei eine Einschränkung der Einreisefreiheit jedoch nur durch die dort bezeichneten schwerwiegenden Gründe des Allgemeinwohls zulässig. Wenn der Gesetzgeber die Gewährung der im Bundesvertriebenengesetz vorgesehenen Leistungen von einem jahrelangen Verzicht auf das Grundrecht der Einreise abhängig mache, umgehe er daher in verfassungswidriger Weise den Vorbehalt des Art. 11 Abs. 2 GG, soweit Personen betroffen seien, die unstreitig alle Voraussetzungen als Aussiedler erfüllten. Deshalb müsse § 27 Abs. 2 BVFG verfassungskonform dahin ausgelegt werden, daß die Inanspruchnahme des Rechts auf Freizügigkeit regelmäßig als Härtefall anzusehen sei.

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.

Der Oberbundesanwalt hält es ebenfalls für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Klägerin ist begründet. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts steht ihr der geltend gemachte Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheids gemäß § 27 Abs. 2 BVFG i.d.F. des AAG zu.

Dem steht nicht entgegen, daß – wie die Beklagte meint – die Klägerin eines Aufnahmebescheids zum Erwerb des erstrebten Aussiedlerstatus (§ 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG) schon nicht bedürfe, weil dieser Status auch ohne Erteilung eines Aufnahmebescheids bereits entstanden sei. Die Beklagte schließt dies aus dem Umstand, daß sich das Landratsamt B. bei Ausstellung des der Klägerin am 3. Juli 1989 erteilten Staatsangehörigkeitsausweises für örtlich zuständig gehalten habe; die Klägerin müsse deshalb – so folgert sie weiter – das Aussiedlungsgebiet nicht erst – wie in dem Bescheid vom 24. Juli 1991 angenommen – am 4. Oktober 1990 unter der Geltung des mit Wirkung vom 1. Juli 1990 maßgebenden, die Erteilung eines Aufnahmebescheids zum Statuserwerb zwingend erfordernden Rechts verlassen haben, sondern schon im Jahre 1989, also zu einer Zeit, als zum Erwerb des Aussiedlerstatus die Erteilung eines Aufnahmebescheids weder vorgesehen noch erforderlich gewesen sei. Diese Folgerung kann jedoch aus Rechtsgründen nicht gezogen werden. Richtig ist, daß die örtliche Zuständigkeit des Landratsamts B. einen „dauernden Aufenthalt” der Klägerin in dessen Bereich voraussetzte (§ 27 Abs. 1 i.V.m. § 17 1. StARegG). Ein Verlassen des Aussiedlungsgebiets im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG liegt indessen – neben der Überschreitung der Grenze dieses Gebiets – nur vor, wenn der dort bestehende Wohnsitz aufgegeben wird (Urteil vom 15. Januar 1975 – BVerwG 8 C 27.74 – Buchholz 412.3 § 10 BVFG Nr. 2; Urteil vom 26. April 1988 – BVerwG 9 C 284.86 – Buchholz 412.3 § 1 BVFG Nr. 38, S. 7; Urteil vom 21. Juni 1988 – BVerwG 9 C 282.86 – Buchholz 412.3 § 6 Nr. 39; Urteil vom 4. April 1995 – BVerwG 9 C 400.94 – Buchholz 412.3 § 1 BVFG Nr. 51). Ein dauernder Aufenthalt an einem bestimmten Ort führt jedoch nicht ohne weiteres zur Aufgabe eines anderenorts bestehenden Wohnsitzes. Nach § 7 BGB, der nach ständiger Rechtsprechung auch im Vertriebenenrecht maßgebend ist (Urteil vom 27. Juni 1989 – BVerwG 9 C 6.89 – BVerwGE 82, 177, 179 m.w.N.), liegt eine Aufgabe des Wohnsitzes nur vor, „wenn die Niederlassung mit dem Willen aufgehoben wird, sie aufzugeben”. Das setzt eine tatsächliche Aufhebung der Niederlassung voraus. Nach ihrem nicht in Zweifel gezogenen Vortrag hat die zunächst nach Zabrze zurückgekehrte Klägerin ihren dortigen Haushalt jedoch erst anläßlich ihrer erneuten Einreise zu ihrer Tochter Gabriele am 4. Oktober 1990 aufgelöst. Sie bedarf daher zum Erwerb des von ihr erstrebten Aussiedlerstatus eines Aufnahmebescheids, weil für dessen Erteilung nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG nicht nur Voraussetzung ist, daß die Klägerin, die unstreitig die deutsche Staatsangehörigkeit seit ihrer Geburt besitzt, das Aussiedlungsgebiet – wie hier – nach dem 1. Juli 1990 und vor dem 1. Januar 1993 verlassen hat, sondern hinzukommen muß, daß dies während des genannten Zeitraums im Wege des Aufnahmeverfahrens geschehen ist.

Der Klägerin steht ein Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheids auch zu. Da sie das Aussiedlungsgebiet verlassen hat, ohne – wie nach §§ 26, 27 Abs. 1 BVFG in aller Regel erforderlich – die Erteilung eines Aufnahmebescheids im Aussiedlungsgebiet abzuwarten, kommt als Rechtsgrundlage nur die Vorschrift des § 27 Abs. 2 BVFG in Betracht, nach der in solchen Fällen ein Aufnahmebescheid erteilt werden kann, wenn die Versagung eine besondere Härte bedeuten würde und – was hier nicht streitig ist – die sonstigen Voraussetzungen vorliegen. Die Klägerin kann sich auf eine besondere Härte berufen. Der Härtegrund liegt unter den hier gegebenen besonderen Umständen in der bereits im Zeitpunkt des Verlassens des Aussiedlungsgebiets gegebenen deutschen Staatsangehörigkeit der Klägerin.

Wie im Urteil vom 19. April 1994 – BVerwG 9 C 343.93 – (a.a.O.) unter Zusammenfassung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im einzelnen ausgeführt, sind Fälle einer – gerichtlich voll überprüfbaren – besonderen Härte unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß auf den zu beurteilenden Sachverhalt das Gesetz zwar nach seinem Tatbestand, nicht jedoch auch nach seinem normativen Gehalt paßt, wenn also die Anwendung der gesetzlichen Vorschrift im Einzelfall zu einem Ergebnis führt, das dem Gesetzeszweck nicht mehr entspricht, die Anwendung der Härtevorschrift aber ein Ergebnis ermöglicht, das dem Regelergebnis in seiner grundsätzlichen Zielsetzung gleichwertig ist. Eine besondere Härte kann daher auch dann gegeben sein, wenn bei einem Verlassen des Aussiedlungsgebiets ohne vorherige Erteilung eines Aufnahmebescheids der in § 27 Abs. 1 BVFG mit dem Erfordernis, die Erteilung eines Aufnahmebescheids im Aussiedlungsgebiet abzuwarten, zum Ausdruck kommende Gesetzeszweck nicht beeinträchtigt wird. Dieser Zweck besteht darin, durch eine vorläufige Prüfung der Aussiedlereigenschaft (nunmehr der Spätaussiedlereigenschaft) den durch die Veränderungen in den Ostvertreibungsgebieten entstandenen erhöhten Zustrom von Ausweisbewerbern in geordnete Bahnen zu lenken (vgl. BTDrucks 11/6937, S. 5 und 6). Es soll durch diese vorgängige Prüfung vor dem Verlassen des Aussiedlungsgebiets verhindert werden, daß Personen nach Deutschland übersiedeln, die nicht „zum schutzbedürftigen Personenkreis des Gesetzes gehören” (BTDrucks 11/6937, S. 5), also die dafür maßgebenden Voraussetzungen nicht erfüllen. Gleichzeitig sollen die in solchen Fällen entstehenden Belastungen vermieden werden (BTDrucks 11/6937, S. 6), wobei es – entgegen der Ansicht der Beklagten – nicht um eine Einsparung der Mittel für die Integration berechtigter Personen geht, sondern um die Vermeidung der „Belastungen insbesondere für die Kommunen, wie sie durch die Betreuung nicht berechtigter Personen auftreten” (BTDrucks 11/6937, S. 6).

Wie das Berufungsgericht in seinem rechtlichen Ansatz zu Recht ausführt, trifft dieser Gesetzeszweck für die Rechtslage zwischen dem 1. Juli 1990 (Inkrafttreten des Aussiedleraufnahmegesetzes) und dem 1. Januar 1993 (Inkrafttreten des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes) an sich auch auf Personen zu, die den Aussiedlerstatus unter Berufung auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 erwerben wollten. Aus § 27 Abs. 1 BVFG in der Fassung des Aussiedleraufnahmegesetzes in Verbindung mit § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG ergibt sich eindeutig, daß jemand, der behauptete, deutscher Staatsangehöriger zu sein, die Erteilung des Aufnahmebescheids im Aussiedlungsgebiet in gleicher Weise abwarten mußte wie jemand, der sich auf seine deutsche Volkszugehörigkeit berief. Auch die Behauptung, deutscher Staatsangehöriger zu sein, bedurfte grundsätzlich zur Vermeidung einer Übersiedlung nicht berechtigter Personen einer vorgängigen Prüfung durch das Bundesverwaltungsamt, da die Behauptung, deutscher Staatsangehöriger zu sein, in gleicher Weise unrichtig sein konnte wie die Behauptung, deutscher Volkszugehöriger zu sein. Entgegen der Ansicht der Revision liegt darin auch kein Verstoß gegen Art. 11 Abs. 1 GG. Die deutschen Staatsangehörigen durch diese Vorschrift gewährte Freizügigkeit umfaßt zwar auch das Recht, nach Deutschland einzureisen (BVerfGE 2, 266). Die bloße Behauptung, deutscher Staatsangehöriger zu sein, gewährt jedoch schon ganz allgemein ein solches Recht nicht. Vielmehr ist eine der Einreise vorgeschaltete Prüfung zulässig. Grundrechte bedürfen allgemein, sollen sie ihre Funktion in der sozialen Wirklichkeit erfüllen, geeigneter Verfahrensregelungen (BVerfGE 56, 216, 236). Dadurch wird die Einreisefreiheit lediglich vorübergehend bis zur positiven Entscheidung suspendiert, nicht jedoch aufgehoben (vgl. BVerfGE 2, 266, 279). Hiervon abgesehen, wird einem sich auf seine deutsche Staatsangehörigkeit berufenden Aufnahmebewerber ein Verbleiben im Aussiedlungsgebiet lediglich angesonnen, wenn er den Status als Aussiedler erwerben will. Die Einreisefreiheit wird dadurch lediglich mittelbar berührt. Mittelbare Einwirkungen auf die Einreisefreiheit stellen jedoch in der Regel keinen Verstoß gegen Art. 11 Abs. 1 GG dar (vgl. Schmidt-Bleibtreu-Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 9. Aufl., Art. 11 GG Anm. 3; Jarras-Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl., Art. 11 GG Anm. 7; Krüger in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 2. Aufl., Art. 11 GG Anm. 20; Randelzhofer in: Bonner Kommentar, Art. 11 GG Rn. 24; Gusy, in: Mangoldt-Klein-Starck, Das Bonner Grundgesetz, 4. Aufl., Art. 11 GG Anm. 49; Hailbronner in: Isensee/Kirchhof, HSTR, Band VI, § 131 Rn. 37 f.; BSG, SozR 2200, § 1265 Nr. 88; vgl. auch BVerfGE 8, 95, 97). Allenfalls dann, wenn mittelbare Einwirkungen objektiv geeignet sind, einen beherrschenden Einfluß auf die Willensbildung auszuüben, kann ein Verstoß gegen Art. 11 GG in Betracht kommen. Dergleichen Umstände liegen nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hier jedoch nicht vor.

Das Berufungsgericht hat jedoch einen im Falle der Klägerin gegebenen besonderen Umstand nicht hinreichend berücksichtigt, der eine vorgängige Prüfung, ob die Klägerin deutsche Staatsangehörige sei, durch das Bundesverwaltungsamt entbehrlich machte. Dieser Umstand liegt darin, daß diese Prüfung bereits zu dem Zeitpunkt, als die Klägerin das Aussiedlungsgebiet verließ, von einer deutschen Dienststelle, nämlich dem Landratsamt B., mit positivem Erfolg durchgeführt und ihr die deutsche Staatsangehörigkeit durch den am 3. Juli 1989 erteilten Staatsangehörigkeitsausweis bescheinigt worden war. Dieser nach § 39 RuStAG erteilte Ausweis, dessen Richtigkeit nicht in Frage steht, stellte ein Beweismittel dar, das eine – tatsächliche – Vermutung für das Bestehen der deutschen Staatsangehörigkeit im Zeitpunkt der Ausstellung erzeugte (Urteil vom 21. Mai 1985 – BVerwG 1 C 52.82 – BVerwGE 71, 309, 316) und – was die Beklagte ebenfalls annimmt – auch den Rückschluß rechtfertigte, daß die Klägerin seit ihrer Geburt deutsche Staatsangehörige war (vgl. Urteil vom 3. November 1992 – BVerwG 9 C 6.92 – BVerwGE 91, 140, 142, 143; Urteil vom 3. November 1998 – BVerwG 9 C 18.97 – Buchholz 412.3 § 1 BVFG Nr. 55). War aber die deutsche Staatsangehörigkeit der Klägerin bereits bei ihrer Übersiedlung nach Deutschland aufgrund amtlicher Prüfung durch den Staatsangehörigkeitsausweis nachgewiesen, entbehrt ihre nochmalige vorgängige Prüfung durch das Bundesverwaltungsamt zum Zwecke der Verhinderung einer Aufenthaltsnahme nicht berechtigter Personen eines hinreichenden Sinnes. Vielmehr widerstreitet ein Verlassen des Aussiedlungsgebiets und eine Übersiedlung nach Deutschland ohne Aufnahmebescheid unter den hier gegebenen besonderen Umständen dem Gesetzeszweck nicht, sondern führt die nachträgliche Erteilung eines Aufnahmebescheids nach § 27 Abs. 2 BVFG zu einem Ergebnis, „das dem Regelergebnis in seiner grundsätzlichen Zielrichtung gleichwertig ist” (Urteil vom 26. Januar 1966 – BVerwG 5 C 88.64 – BVerwGE 23, 149, 158).

Die Klägerin war deshalb davon befreit, die Erteilung eines Aufnahmebescheids im Aussiedlungsgebiet abzuwarten. Er ist ihr nunmehr nachträglich, und zwar bezogen auf den Zeitpunkt der Entstehung des Härtegrundes zu erteilen und steht einem bei Verlassen des Vertreibungsgebiets bereits vorliegenden Aufnahmebescheid gleich (vgl. Urteil vom 19. April 1994 – BVerwG 9 C 20.93 – BVerwGE 95, 311, 317; Urteil vom 19. April 1994 – BVerwG 9 C 343.93 – DVBl 1994, S. 938).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

 

Unterschriften

Dr. Säcker, Dr. Bender, Schmidt, Dr. Rothkegel, Dr. Franke

 

Fundstellen

BVerwGE

BVerwGE, 92

NVwZ-RR 2000, 644

DÖV 2000, 741

DVBl. 2000, 1547

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