Bezeichnung einer Sozialarbeiterin als „Trulla“ ist keine Schmähkritik
Wenn das höchste deutsche Gericht sich mit dem Tatbestand der Beleidigung befasst, wird es für die Instanzgerichte häufig spannend. Nicht selten hat das BVerfG in der Vergangenheit Verurteilungen der Instanzgerichte wegen des Tatbestandes der Beleidigung deshalb aufgehoben, weil dem Grundrechtsschutz der Meinungsfreiheit zu wenig Beachtung geschenkt wurde.
Sicherungsverwahrter gerät wegen fehlendem Taschengeld in Panik
So verhielt es sich auch mit einem kürzlich veröffentlichten BVerfG-Beschluss. Ein in Sicherungsverwahrung befindlicher Insasse einer JVA war von einem Strafgericht zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je zwei Euro wegen Beleidigung einer Mitarbeiterin der JVA verurteilt worden.
Anlass der Äußerung war der Umstand, dass infolge eines Computerfehlers das für Einkäufe innerhalb der JVA bestimmte Taschengeld des Betroffenen noch nicht auf dessen Konto verbucht war. Dieser befürchtete, hierdurch eine Bestellmöglichkeit für einen geplanten Einkauf zu verpassen und geriet in Panik.
Sicherungsverwahrter tituliert Sozialarbeiterin als „Trulla“
Darauf stürmte der Sicherungsverwahrte in das Dienstzimmer einer in der JVA angestellten Sozialarbeiterin und machte dieser heftige Vorwürfe. Da er das Gefühl hatte, mit seiner Kritik auf taube Ohren zu stoßen, wurde er immer wütender und ließ sich zu einem Wortschwall hinreißen, während dessen er die Sozialarbeiterin als „Trulla“ titulierte, die offensichtlich nichts im Griff habe.
Verfassungsbeschwerde wegen Verurteilung
Die von der Sozialarbeiterin hierauf erstattete Anzeige führte zu einer Verurteilung des Sicherungsverwahrten wegen Beleidigung. Begründung des Gerichts: Die Bezeichnung „Trulla“ erfülle den Tatbestand der Beleidigung gemäß § 185 StGB, denn im allgemeinen Sprachgebrauch bedeute der Begriff „Trulla“ ein abwertendes Urteil über eine weibliche Person und habe daher ehrverletzende Charakter. Seine gegen das Urteil eingelegte Berufung wurde als unzulässig zurückgewiesen. Mit der gegen die Verurteilung beim BVerfG eingelegten Verfassungsbeschwerde hatte er dann aber Erfolg.
Nicht jede ehrverletzende Äußerung ist strafbar
Die Richter vermissten die im Rahmen einer Verurteilung wegen Beleidigung erforderliche Auseinandersetzung der Instanzgerichte mit der Gesamtsituation, in der die Äußerung gefallen war. Auch nach Auffassung des BVerfGs hatte die Bezeichnung der Sozialarbeiterin als „Trulla“ grundsätzlich ehrverletzenden Charakter.
Damit sei die Äußerung aber nicht automatisch eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Beleidigung. Die Feststellung, dass eine Äußerung ehrverletzend sei, führe nur dann zu einer unmittelbaren Verwirklichung des Beleidigungstatbestandes, wenn es sich um eine Formalbeleidigung oder um eine Schmähung handle oder die Äußerung die Menschenwürde des Betroffenen in nicht hinnehmbare Weise antaste. Die Einordnung als Schmähkritik sei aber im vorliegenden Fall „der Sache nach fast ausgeschlossen“, so das BVerfG.
Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht erforderlich
In allen anderen Fällen ist nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts bei einer ehrverletzenden Äußerung im Rahmen eines Strafverfahrens immer eine Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalls vorzunehmen.
Die Abwägung habe unter Berücksichtigung der gemäß Art. 5 GG geschützten Meinungsfreiheit des sich Äußernden sowie des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Adressaten der Äußerung zu erfolgen. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewähre jedem das Recht, seine Meinung auch in polemischer oder unter bestimmten Voraussetzungen sogar in verletzender Weise zu äußern.
Strafbar sei eine solche Äußerung nur dann, wenn in der konkreten Situation das Gewicht der persönlichen Ehre des Äußerungsadressaten die Meinungsfreiheit des sich Äußernden, auch unter Berücksichtigung seiner berechtigten Interessen im Sinne von § 193 StGB, überwiege.
Die belastende Gesamtsituation muss in Rechnung gestellt werden
Im vorliegenden Fall bewertete das BVerfG die Äußerung „Trulla“ als
„Ausdruck einer - wenngleich nicht vollständig gelungenen - emotionalen Verarbeitung einer als unmittelbar belastend wahrgenommenen Situation“.
Die Äußerung sei in einer situativ bedingt angespannten Atmosphäre spontan erfolgt. Die Situation sei auch davon geprägt gewesen, dass der Beschwerdeführer als Sicherungsverwahrter in besonderer Weise staatlicher Machtentfaltung ausgesetzt sei und sich daher hilflos gefühlt habe. Im wesentlichen sei es ihm darum gegangen, mit der Bestellung der von ihm gewünschten Güter und Lebensmittel nicht bis zur nächsten Einkaufsmöglichkeit zuwarten zu müssen.
Instanzgerichte haben Abwägungserfordernis verkannt
Der Senat rügte, dass die Instanzgerichte die hiernach erforderliche Abwägung komplett versäumt hätten. Damit verletze die Verurteilung wegen des Tatbestands der Beleidigung den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung, dessen Bedeutung die Gerichte erst gar nicht als einschlägig erkannt und erwogen hätten. Die Verurteilung sei daher aufzuheben. Unter Berücksichtigung dieser Rechtsgrundsätze habe das Amtsgericht erneut zu entscheiden.
(BVerfG, Beschluss v. 19.8.2020, 1 BvR 2249/19)
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