Umkleidezeiten im Krankenhaus sind Arbeitszeit
Zwischen einer Krankenschwester und ihrem Arbeitgeber war streitig, ob Umkleide- und innerbetriebliche Wegezeiten „Arbeit“ im Sinne des Arbeitszeitgesetzes sind.
Der Fall: Umkleidezeit für OP-Schwester wurde in Dienstvereinbarung reduziert
Die Klägerin ist seit 1974 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgänger, dem Freistaat Bayern, als Krankenschwester im OP-Dienst in Vollzeit beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder vom 12. Oktober 2006 (TV-L) Anwendung. Nach dem früher geltenden § 15 Abs. 7 BAT begann und endete die Arbeitszeit an der Arbeitsstelle, wobei nach der Protokollnotiz zu § 15 Abs. 7 BAT der Begriff der Arbeitsstelle weiter war als der Begriff des Arbeitsplatzes. Er umfasste in der bis März 1991 gültigen Fassung z.B. die Dienststelle oder den Betrieb, während unter dem Arbeitsplatz der Platz zu verstehen ist, an dem der Angestellte täglich arbeitet. Seit April 1991umfasste er „z.B. den Verwaltungs-/Betriebsbereich in dem Gebäude/Gebäudeteil, in dem der Angestellte arbeitet.“ Im TV-L findet sich keine dem § 15 Abs. 7 BAT vergleichbare Regelung. § 25 Abs. 2 TVÜ-Länder ordnet dagegen an, dass bestehende Regelungen zur Anrechnung von Wege- und Umkleidezeiten auf die Arbeitszeit durch das In-Kraft-Treten des TV-L unberührt bleiben.
Die Beklagte hat das Pflegepersonal im OP-Bereich zum Tragen von Berufs- und Bereichskleidung verpflichtet und das Umkleiden wie folgt geregelt: Die Beschäftigten im OP-Bereich müssen zunächst an einer Umkleidestelle im Tiefparterre des Klinikgebäudes Berufskleidung anziehen. Sodann begeben sie sich in den OP-Bereich im Dachgeschoss des Klinikgebäudes, wo sie die Berufskleidung wieder ausziehen und Bereichskleidung - dunkelblaue Hosen und Hemden mit V-Ausschnitt - anlegen. Der zweite Umkleidevorgang dauert einschließlich der Desinfektion der Hände ca. vier Minuten.
Bis zum 31. Juli 2007 wertete die Beklagte bei Beschäftigten im OP-Bereich pro Arbeitstag insgesamt 30 Minuten für Umkleiden und innerbetrieblichen Weg als vergütungspflichtige Arbeitszeit. Seit dem 1. August 2007 hat die Beklagte Umkleide- und innerbetriebliche Wegezeiten zu Dienstbeginn und Dienstende nicht mehr auf die Arbeitszeit angerechnet und - zunächst - nicht vergütet. Am 22. März 2010 schloss sie auf Anregung des Arbeitsgerichts München mit dem Personalrat eine „Dienstvereinbarung über die vergütungs- bzw. arbeitszeitliche Behandlung von Wege- und Umkleidezeiten des betroffenen OP- und Anästhesiepflegepersonals am Klinikum der Universität M“ (im Folgenden: DV 2010), in der es u.a. heißt: „Die Arbeitszeit beginnt bzw. endet mit Aufnahme bzw. Beendigung der vertraglich geschuldeten Tätigkeit. Die Zeiten für das An- und Ablegen von Dienst- und Schutzkleidung und die Wegezeiten von den Umkleideräumen zu den OP-Sälen gelten für die Beschäftigten, die in den Geltungsbereich dieser Dienstvereinbarung fallen, als vergütungspflichtige Arbeitszeit. Unter Zugrundelegung der durch zusätzliches Umkleiden und Zurücklegen der erforderlichen Wege anfallenden Zeiten haben die Beschäftigten Anspruch auf Vergütung einer pauschalierten zuschlagslosen Wege- und Umkleidezeit von:.. 15 Minuten pro Anwesenheitsschicht am Campus G,…“. In der DV wurde zudem geregelt, dass für Zeiten bis zum In-Kraft-Treten dieser Vereinbarung am 1.4.2010 den Beschäftigten eine einmalige Vergütungspauschale gewährt werden sollte, wobei eine Vollzeitkraft, die seit dem 01.08.2007 ununterbrochen im Anästhesie- oder Operationsdienst am Campus G tätig ist, einen Betrag in Höhe von 2.190,00 Euro brutto (vollexaminiertes Pflegepersonal) bzw. 1.752,00 Euro brutto (sonstiges Pflegepersonal) erhalten sollte.
Nach erfolglosem außergerichtlichem Verlangen hat die Klägerin mit der am 17. August 2009 beim Arbeitsgericht München eingereichten Klage zuletzt für den Zeitraum 1. August 2007 bis 31. Mai 2010 die Bewertung der Umkleide- und innerbetrieblichen Wegezeiten als Arbeitszeit und deren Vergütung als Überstunden geltend gemacht. Entsprechend der langjährigen Übung der Beklagten seien für alle Arbeitstage einschließlich der Zeiten von Urlaub und Krankheit mit Entgeltfortzahlung jeweils 15 Minuten zu Dienstbeginn und Dienstende anzusetzen.
Die Entscheidung: Umkleidezeit ist Arbeitszeit
Das Arbeitsgericht hat der Klägerin für die Zeit vom 1. August 2007 bis zum 31. März 2010 den Pauschalbetrag von 2.190,00 Euro brutto aufgrund der DV 2010 zugesprochen und die Beklagte weiter verurteilt, an die Klägerin für die Monate April und Mai 2010 246,91 Euro brutto zu zahlen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht festgestellt, dass die Umkleidezeiten der Klägerin vergütungspflichtige Arbeitszeit darstellen und die Beklagte zur Zahlung von 3.710,08 Euro brutto nebst Zinsen verurteilt. Die Beklagte beantragte Klageabweisung. Die Revision der Beklagten war teilweise begründet. Die Feststellungen des Landesarbeitsgerichts tragen die Höhe der zugesprochenen Forderung nicht. Das führt zur teilweisen Aufhebung des Berufungsurteils und im Umfange der Aufhebung zur Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht.
Das LAG hat zu Recht erkannt, dass die unter Ausschöpfung der persönlichen Leistungsfähigkeit der Klägerin erforderlichen Umkleidezeiten (Berufs- und Bereichskleidung) einschließlich der innerbetrieblichen Wegezeiten von der Umkleidestelle bis zum OP-Bereich vergütungspflichtige Arbeitszeit sind. Zwar enthält der auf den Arbeitsvertrag anzuwendenden TV-L keine ausdrückliche Regelung hierzu. § 6 Abs. 1 TV-L regelt lediglich die Dauer der durchschnittlichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit, definiert aber nicht, was tarifliche Arbeitszeit ist. Lediglich § 25 Abs. 2 TVÜ-Länder könnte mit der Anordnung, dass bestehende Regelungen zur Anrechnung von Wege- und Umkleidezeiten auf die Arbeitszeit durch das Inkrafttreten des TV-L unberührt bleiben, darauf hindeuten, es entspräche dem Willen der Tarifvertragsparteien, Umkleide- und Wegezeiten wie im vorliegenden Fall nach dem TV-L nicht mehr als Bestandteil der tariflichen Arbeitszeit zu werten. Ein derartiger Normsetzungswillen hat aber im TV-L keinen Niederschlag gefunden. Andererseits haben die Tarifvertragsparteien in § 6 Abs. 4 TV-L von den Öffnungsklauseln des § 7 Abs. 1 und Abs. 2 ArbZG und des § 12 ArbZG Gebrauch gemacht. Zusammen mit dem Fehlen einer Definition dessen, was tarifliche Arbeitszeit sein soll, belegt dies, dass die Tarifvertragsparteien den Begriff der Arbeitszeit mit der Bedeutung verwenden, die der Begriff im Arbeitszeitrecht gefunden hat. § 25 Abs. 2 TVÜ-Länder stellt lediglich klar, dass außerhalb des Tarifvertrags bereits bestehende Regelungen durch das Inkrafttreten des TV-L nicht beeinträchtigt werden sollten.
Entscheidend ist damit, ob die streitgegenständlichen Umkleide- und innerbetrieblichen Wegezeiten „Arbeit“ i.S. des ArbZG sind. Arbeit ist jede Tätigkeit, die als solche der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses dient (BAG 22. April 2009 - 5 AZR 292/08). Zur Arbeit gehört auch das Umkleiden für die Arbeit, wenn der Arbeitgeber das Tragen einer bestimmten Kleidung vorschreibt und das Umkleiden im Betrieb erfolgen muss. Die Fremdnützigkeit des Umkleidens ergibt sich schon aus der Weisung des Arbeitgebers, die ein Anlegen der Arbeitskleidung zu Hause und ein Tragen auf dem Weg zur Arbeitsstätte ausschließt. Im Streitfall kommt hinzu, dass das Tragen der Berufs- und Bereichskleidung der Beschäftigten im OP-Bereich primär hygienischen Zwecken und damit betrieblichen Belangen der Beklagten dient. Da die Arbeit in diesem Falle mit dem Umkleiden beginnt, zählen auch die innerbetrieblichen Wege zur Arbeitszeit, die dadurch veranlasst sind, dass der Arbeitgeber das Umkleiden nicht am Arbeitsplatz ermöglicht, sondern dafür eine vom Arbeitsplatz getrennte Umkleidestelle einrichtet, die der Arbeitnehmer zwingend benutzen muss. Nicht zur Arbeitszeit zählende Wegezeit bleibt aber der Weg von der Wohnung des Arbeitnehmers bis zu der Stelle, an der die Arbeit beginnt, im Streitfall also auch der Weg vom Eingang des Klinikgebäudes bis zur Umkleidestelle im Tiefparterre.
In welchem zeitlichen Umfang Umkleide- und innerbetriebliche Wegezeiten zur Arbeitszeit rechnen, ergibt sich nach allgemeinen Grundsätzen. Der Arbeitnehmer darf seine Leistungspflicht nicht willkürlich selbst bestimmen, er muss vielmehr unter angemessener Ausschöpfung seiner persönlichen Leistungsfähigkeit arbeiten.
Dem steht § 2 Abs. 2 DV 2010, der eine Pauschalierung auf 15 Minuten pro Anwesenheitsschicht am Campus G vorsieht, nicht entgegen; denn diese Bestimmung ist unwirksam. Art. 73 Abs. 1 iVm. Art. 75 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 BayPersVG lässt eine Dienstvereinbarung nur über Beginn und Ende, nicht aber die Dauer der Arbeitszeit zu.
Die Klägerin hat somit Anspruch auf Vergütung der im Streitzeitraum angefallenen, bei Ausschöpfung ihrer persönlichen Leistungsfähigkeit erforderlichen Umkleide- und innerbetrieblichen Wegezeiten von der Umkleide- bis zur Arbeitsstelle als Überstunden nach näherer Maßgabe des TV-L. Die Klägerin war auf Anweisung der Beklagten gehalten, sich außerhalb der dienstplanmäßig festgesetzten Arbeitsstunden umzukleiden und die Wege von der Umkleide- zur Arbeitsstelle zurückzulegen. Damit hat die Beklagte iSd. tariflichen Vorschriften Überstunden angeordnet, die nicht ausgeglichen wurden. Die Dauer der Inanspruchnahme kann das Gericht wegen fehlender Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht bestimmen. Die Anzahl der angefallenen Überstunden hat das LAG deshalb, ev. durch Einholung eines Gutachtes, zu ermitteln.
Ein Anspruch auf Vergütung der Umkleide- und innerbetrieblichen Wegezeiten besteht dagegen nicht für Krankheits- und Urlaubstage, da die Umkleide- und Wegezeiten nicht als Teil der tariflichen Arbeitszeit behandelt wurden, sondern als Überstunden zu vergüten sind, was nach § 21 Satz 3 TV-L nicht in die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle und die Urlaubsvergütung einfließt.
BAG, Urteil vom 19.9.2012, 5 AZR 678/11
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