Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsbedingte Kündigung. Soziale Auswahl
Leitsatz (redaktionell)
1. Erfolgt die soziale Auswahl bei einer betriebsbedingten Kündigung aufgrund von Auswahlrichtlinien nach § 95 BetrVG, haben die Gerichte für Arbeitssachen die Auswahl nur daraufhin zu überprüfen, ob die Grundwertung des § 1 Abs 3 S 1 und S 2 KSchG eingehalten ist, also wenigstens die sozialen Gesichtspunkte Lebensalter, Betriebszugehörigkeit und Unterhaltungsverpflichtungen angemessen berücksichtigt sind, auf die betrieblichen Bedürfnisse nur bei der Frage abgestellt worden ist, ob sie einer Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten entgegenstehen und schließlich zur Vermeidung von unbilligen Härten, die die Anwendung jeden Schemas mit sich bringen kann, eine individuelle Überprüfung der Auswahl stattgefunden hat (im Anschluß an das Urteil des Senats vom 24. März 1983 2 AZR 21/82 = DB 1983, 1822 zum Abdruck in der Amtlichen Sammlung bestimmt).
2. Dem Arbeitgeber, der die Auswahl des zu Kündigenden aufgrund von Auswahlrichtlinien in einem Interessenausgleich nach § 112 Abs 1 BetrVG vornimmt, steht der gleiche Beurteilungsspielraum zu, der ihm bei der Auswahl aufgrund von Richtlinien nach § 95 BetrVG gewährt wird.
Normenkette
BetrVG §§ 95, 112 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 3 Fassung 1969-08-25
Verfahrensgang
Hessisches LAG (Entscheidung vom 30.10.1981; Aktenzeichen 13 Sa 645/81) |
ArbG Marburg (Entscheidung vom 16.02.1981; Aktenzeichen 2 Ca 301/80) |
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer von der Beklagten ausgesprochenen ordentlichen Kündigung. Der Kläger war bei der Beklagten, die eine Eisengießerei betreibt, seit September 1971 als Gießereiarbeiter beschäftigt. Die Beklagte stellt im sog. Kundenguß Gußteile für die Automobilindustrie her. Anfang November 1980 beschäftigte sie rund 2.600 Arbeitnehmer. Der Kläger arbeitete zuletzt in der Abteilung Transport-, Haus- und Platzdienste und hatte dort per Bahn oder Lkw angelieferte Materialien zu entladen.
Ab dem 2. Quartal 1980 kam es bei der Beklagten zu Auftragsrückgängen, deren Umfang im einzelnen streitig ist. Von Juni 1980 bis Dezember 1980 wurde Kurzarbeit durchgeführt. Zugleich nahm die Beklagte mit dem in ihrem Betrieb bestehenden Betriebsrat Verhandlungen über einen größeren Personalabbau auf. Unter dem 16. Oktober 1980 vereinbarte die Beklagte mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich. Danach sollten im Werk S 187 Mitarbeiter aus betriebsbedingten Gründen entlassen werden. Allen Mitarbeitern, die älter als 59 Jahre waren, wurde ein Angebot über das vorzeitige Ausscheiden unterbreitet. Für die Auswahl der zu entlassenden Mitarbeiter sah der Interessenausgleich eine Punktwertung folgenden Inhalts vor: Jeweils mit einem Punkt zugunsten des Arbeitnehmers bewertet wurden jedes Jahr der Betriebszugehörigkeit, jedes Lebensjahr ab Vollendung des 40. Lebensjahres und jeder Unterhaltsberechtigte. Demgegenüber wurden die durchschnittlichen Fehltage in der Zeit vom 1. Januar 1978 bis 31. August 1980 in der Weise zulasten des Arbeitnehmers berücksichtigt, daß jeder Fehltag über 20 Fehltage mit 2 %-Punkten bewertet wurde, bis zu maximal 50 %-Punkten bei 45 Fehltagen und mehr. Abgestellt wurde hierbei auch und vor allem auf krankheitsbedingte Fehltage mit Ausnahme von Erkrankungen infolge von Betriebsunfällen und Einmalerkrankungen (z.B. Blinddarmoperationen, Knochenbruch).
Die Zu- bzw. Abrechnung der Prozentpunkte erfolgte jeweils von einem Ausgangswert in Höhe von 50 %. Ein 45-jähriger Arbeitnehmer beispielsweise mit 5-jähriger Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten gegenüber vier Personen und durchschnittlich 30 Fehltagen in der maßgebenden Zeit erreichte danach folgenden Punktwert: 50 % - 5 % (Betriebszugehörigkeit) - 5 % (Lebensalter) - 4 % (Unterhaltsberechtigte) = 36 % + 20 % (10 Fehltage über 20) = 56 %. In dem Interessenausgleich heißt es abschließend zu dem Berechnungsschema: "In Einzelfällen kann von dieser Regelung abgewichen werden, z.B. wenn die Weiterbeschäftigung bestimmter Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter für den Betrieb notwendig ist oder erhebliche Bedeutung für einen geordneten Betriebsablauf hat, oder die Entlassung für die einzelnen Mitarbeiter eine besondere soziale Härte bedeuten würde."
Die Beklagte kündigte insgesamt 112 Arbeitnehmern, darunter am 12. November 1980 auch dem Kläger, der in der Wertung nach der Punktetabelle mit durchschnittlich 117 krankheitsbedingten Fehltagen pro Jahr geführt worden war, bezogen auf die Zeit vom 1. Januar 1978 bis 31. August 1980.
Mit seiner Klage hat der Kläger die Rechtsunwirksamkeit der ordentlichen Kündigung geltend gemacht. Er hält die von der Beklagten getroffene soziale Auswahl für fehlerhaft. Die Berücksichtigung betrieblicher Belange bei der Auswahl stelle lediglich auf Nützlichkeitserwägungen ab.
Der Kläger hat beantragt festzustellen, daß das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten vom 12. November 1980 nicht aufgelöst worden ist.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie hat zur Begründung vorgetragen, die Kündigung sei wegen erheblichen Auftragsrückganges notwendig geworden. Für eine entsprechende Anzahl von Mitarbeitern habe keine Beschäftigungsmöglichkeit mehr bestanden. Die soziale Auswahl sei nicht zu beanstanden. Sie habe sich streng an die mit dem Betriebsrat vereinbarten Kriterien gehalten. Die Zustimmung des Betriebsrats zu den betriebsbedingten Entlassungen begründe eine tatsächliche Vermutung für die hinreichende Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte. Im Rahmen der Sozialauswahl dürften auch betriebliche Gesichtspunkte berücksichtigt werden, wie sie es hier mit der Einbeziehung der Fehltage getan habe. Fehltage wirkten sich auf den Betriebsablauf in besonders störender Weise aus. Ein Interessenausgleich habe sich an den betrieblichen Notwendigkeiten zu orientieren. Auswahlrichtlinien in diesem Rahmen unterlägen daher anderen Kriterien als eine betriebsbedingte Kündigung, die nur unter dem Mitbestimmungsrecht des § 102 BetrVG stehe. Im übrigen habe sie in Härtefällen in Übereinstimmung mit dem Betriebsrat auch abweichend vom Interessenausgleich entschieden. Abgesehen davon stehe dem Arbeitgeber bei der sozialen Auswahl ein Ermessensspielraum zu, der nur einer eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung unterliege. Schließlich sei es Sache des Klägers, eine unrichtige Auswahl im einzelnen darzulegen und zu beweisen. Zumindest müsse er zunächst einzelne Arbeitnehmer benennen, die seiner Meinung nach sozial stärker seien. Nur vorsorglich teile sie daher die Sozialdaten der ihrer Meinung nach vergleichbaren Arbeitnehmer der Abteilung des Klägers mit.
Der Kläger hat die von der Beklagten behaupteten betrieblichen Gründe bestritten. Er hat die Auffassung vertreten, die Beklagte sei verpflichtet, zunächst die Einzelheiten der von ihr getroffenen sozialen Auswahl darzulegen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihr Klageabweisungsbegehren weiter, während der Kläger die Zurückweisung der Revision beantragt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung.
A. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Kündigung sei sozialwidrig, weil die Beklagte bei der Auswahl des Klägers soziale Gesichtspunkte nicht hinreichend berücksichtigt habe. Dauerhafter Auftragsrückgang in einem erheblichen Umfange könne zwar ein die Kündigung rechtfertigendes dringendes betriebliches Erfordernis darstellen im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG. Das Landesarbeitsgericht hat offengelassen, ob derartige dringende betriebliche Erfordernisse vorliegen, weil nach seiner Auffassung die Kündigung jedenfalls wegen fehlerhafter sozialer Auswahl rechtsunwirksam ist.
Der Beklagten sei zwar einzuräumen, daß sie die drei wichtigsten Kriterien der sozialen Auswahl (Lebensalter, Betriebszugehörigkeit und Zahl der Unterhaltsberechtigten) berücksichtigt habe. Weitere soziale Kriterien enthalte das Bewertungsschema nicht. Vielmehr sei den drei sozialen Daten der betriebliche Gesichtspunkt "Fehlzeiten" gegenübergestellt, wobei sich diese Fehlzeiten in erster Linie aus Krankheiten ergäben. Eine Differenzierung nach entschuldigten oder unentschuldigten krankheitsbedingten Ausfalltagen erfolge nicht, einbezogen seien also auch die durch ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen belegten Fehltage. Diese Wertung stelle in einer nicht gerechtfertigten Weise zu sehr auf die betrieblichen Belange zulasten der sozialen Gesichtspunkte ab. Sie führe im Ergebnis zu einer Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer allein nach den Fehltagen, während die eigentlichen sozialen Kriterien völlig in den Hintergrund träten. Nach der konkreten Punkteverteilung könne ein Fehltag (ab dem 21. Fehltag) nur aufgewogen werden durch z.B. zwei Kinder, zwei Jahre Betriebszugehörigkeit oder zwei Jahre Lebensalter über 40. Ein 40 Jahre alter, verheirateter Arbeitnehmer mit fünf Kindern, fünf Jahren Betriebszugehörigkeit und durchschnittlich 26 Fehltagen in den letzten Jahren stehe schlechter da als ein nichtverheirateter 20-jähriger Arbeitnehmer ohne Unterhaltspflichten bei nur einem Jahr Betriebszugehörigkeit mit immerhin auch durchschnittlich 20 Fehltagen (52 zu 49 Punkten). Es sei klar, daß hier die eigentlichen sozialen Kriterien gegenüber den betrieblichen Bedürfnissen in einem solchen Maße zurückgedrängt würden, daß kaum noch von einer sozialen Auswahl die Rede sein könne, sondern vielmehr von einer Auswahl nach der Zahl der Fehltage gesprochen werden müsse. Es liege auf der Hand, daß die Entlassung von Mitarbeitern, die krankheitsanfälliger sind, dem Betrieb nützlich sei, weil sie ihm produktionstechnische und finanzielle Vorteile bringe. Nützlichkeitserwägungen seien aber nicht ausreichend, um betrieblichen Kriterien den Vorrang vor sozialen einzuräumen. Der soziale Schutzzweck der Norm spreche gegen die Einbeziehung betrieblicher Gründe in die soziale Auswahl. Gerade der unverschuldet leistungsschwache Arbeitnehmer werde von einer Kündigung besonders hart getroffen, da seine Chancen, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, erheblich geringer seien als die eines Leistungsstärkeren. Andererseits habe der Betrieb ein anerkennenswertes Interesse am Erhalt einer leistungsfähigen Belegschaft. Betriebliche Gesichtspunkte könnten deshalb auch berücksichtigt werden. Denn nach § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG träten die Kriterien der sozialen Auswahl zurück, wenn betriebstechnische, wirtschaftliche oder sonstige berechtigte Bedürfnisse die Weiterbeschäftigung eines oder mehrerer Arbeitnehmer bedingen. Die Weiterbeschäftigung der sozial stärkeren Arbeitnehmer müsse aber von erheblicher Bedeutung für den Betrieb sein.
Es lasse sich nicht abstrakt sagen, wann eine solche Erheblichkeit vorliege. Je stärker der Arbeitgeber die Auswahl nach Leistungsgesichtspunkten vollziehe, desto höhere Anforderungen seien an die Darlegung und den Nachweis einer erheblichen betrieblichen Betroffenheit zu stellen. Vorliegend lägen die Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG nicht vor, die Beklagte habe hierzu überhaupt nichts vorgetragen. Es gehe auch nicht an, im Rahmen einer sozialen Auswahl nahezu ausschließlich auf krankheitsbedingte Fehlzeiten abzustellen und somit eine Kündigung wegen Krankheit auf dem Umweg über die soziale Auswahl auszusprechen.
Die fehlerhafte soziale Auswahl werde auch nicht durch die Beteiligung des Betriebsrats geheilt. Ob soziale Gesichtspunkte ausreichend berücksichtigt worden sind, richte sich allein nach § 1 Abs. 3 KSchG. An diese Vorschrift sei auch der Betriebsrat gebunden. Insoweit seien die kollektivrechtliche und die individualrechtliche Ebene voneinander zu trennen. Auch die kollektive Festlegung der sozialen Auswahl in einem Interessenausgleich könne die Bindung von Arbeitgeber und Betriebsrat an § 1 Abs. 3 KSchG nicht aufheben. Das fehlerhafte Schema des Interessenausgleichs habe vorliegend auch zu einer fehlerhaften sozialen Auswahl geführt, weil nach den hauptsächlich zu berücksichtigenden Sozialdaten z.B. die Arbeitnehmer D, M und P als sozial stärker anzusehen seien.
B. Dieser Würdigung des Berufungsgerichts kann nicht in allen Teilen gefolgt werden.
I. Die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts zu der Frage, ob die Kündigung rechtsunwirksam ist, weil die Beklagte bei der Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer soziale Gesichtspunkte nicht ausreichend berücksichtigt hat, unterliegen nur einer beschränkten revisionsrechtlichen Nachprüfung, weil der Begriff der ausreichenden Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte ebenso wie der der Sozialwidrigkeit ein unbestimmter Rechtsbegriff ist (BAG 16, 149, 151 = AP Nr. 15 zu § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung; BAG vom 12. Oktober 1979 - 7 AZR 959/77 - AP Nr. 7 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung und BAG vom 24. März 1983 - 2 AZR 21/82 - zu B III der Gründe = DB 1983, 1822, auch zum Abdruck in der Amtlichen Sammlung bestimmt). Auch dieser eingeschränkten Nachprüfung hält das Urteil des Landesarbeitsgerichts nicht stand.
II. 1. Der erkennende Senat hat im Urteil vom 24. März 1983 (aa0; vgl. dazu die Besprechungen von Berkowsky, BB 1983, 2057 und Neyses, DB 1983, 2414) näher begründet, weshalb die rechtliche Überprüfung der sozialen Auswahl durch die Gerichte mit Hilfe eines Punkteschemas gegen § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG verstößt (vgl. B IV der Gründe). Der Senat hat das u.a. damit begründet, er könne schon deshalb keine Rechtsgrundlage für die Schaffung von Punktesystemen durch die Gerichte erkennen, weil der Gesetzgeber Arbeitgeber und Betriebsrat in § 95 BetrVG die Aufstellung von Auswahlkriterien zugewiesen habe (B IV 2 a der Gründe). In diesem Zusammenhang hat der Senat weiter ausgeführt, Auswahlrichtlinien nach § 95 BetrVG seien bei Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse des jeweiligen Betriebes durchaus geeignet, einen sachgerechten Ausgleich zwischen der individuellen Abwägung und der erwünschten Rechtssicherheit zu schaffen (vgl. auch Hueck, KSchG, 10. Aufl., § 1 Rz 136; Zeuner, Festschrift für G. Müller, 1981, 665 ff. und insbesondere das von Neyses sorgfältig erarbeitete Muster für Auswahlrichtlinien bei betriebsbedingter Kündigung, DB 1983, 2414). Damit hat der Senat zugleich zum Ausdruck bringen wollen, er sei wegen der Zuweisung der Auswahlrichtlinienkompetenz durch den Gesetzgeber bereit, bei einer sozialen Auswahl, die aufgrund von Arbeitgeber und Betriebsrat vereinbarten Auswahlrichtlinien erfolgt, einen gewissen Ermessensspielraum zu gewähren (vgl. Gamillscheg, Anm. EzA § 95 BetrVG 1972 Nr. 1). Das bedeutet, daß die Gerichte für Arbeitssachen die Wertung der Betriebspartner nicht durch ihre eigene ersetzen, sofern jene überhaupt vertretbar erscheint. Voraussetzung ist allerdings, daß die Auswahlkriterien die Wertung des § 1 Abs. 3 Satz 1 und 2 KSchG beachten (vgl. dazu Urteil des Senats vom 11. März 1976, BAG 28, 40 = AP Nr. 1 zu § 95 BetrVG m.zust.Anm. von G. Hueck). Danach sind bei der sozialen Auswahl nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG ausschließlich soziale Gesichtspunkte zu berücksichtigen (Urteil des Senates vom 24. März 1983, aaO; grundsätzlich auch Neyses, aaO; Berkowsky, Betriebsbedingte Kündigung, 1982, Rz 164; derselbe, BB 1983, 2057, 2061). Die Auswahlrichtlinien dürfen auch nicht unter Vernachlässigung aller anderen sich auf die Berücksichtigung eines einzigen Kriteriums - etwa der Betriebszugehörigkeit - beschränken (BAG 28, 40). Vielmehr müssen zumindest die drei Grunddaten Betriebszugehörigkeit, Lebensalter und Unterhaltsverpflichtungen in erheblichem und ausgewogenem Maße berücksichtigt werden (vgl. zur näheren Begründung BAG 28, 40). Außerdem müssen die Auswahlkriterien Raum lassen für eine abschließende Berücksichtigung der individuellen Besonderheiten des Einzelfalles (wie das geschehen kann, zeigt z.B. Neyses, DB 1983, 2414, 2415 in seinem Muster). Leistungsgesichtspunkte werden zugunsten des Arbeitgebers in § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG berücksichtigt, d.h. bei der Prüfung, ob betriebliche Bedürfnisse einer Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten entgegenstehen. Insoweit verlangt der Senat seit dem Urteil vom 24. März 1983 (aaO) unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 20. Januar 1961, AP Nr. 7 zu § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung) nicht mehr, daß für den Arbeitgeber eine "gewisse Zwangslage" besteht, vielmehr reicht es aus, wenn die Weiterbeschäftigung eines bestimmten Arbeitnehmers erforderlich ist. Auch Leistungsgesichtspunkte können in diesem Rahmen eine Rolle spielen. Als berechtigte betriebliche Bedürfnisse können u.a. folgende Umstände ausreichen: Das Interesse an der Weiterbeschäftigung eines ganz erheblich leistungsstärkeren Mitarbeiters und das Interesse an der Aufrechterhaltung eines Kreises von Mitarbeitern mit besonderer fachlicher Qualifikation, die vielseitig einsetzbar sind, insbesondere für Spezialarbeiten (vgl. Neyses, aaO, 2418). Reine Nützlichkeitserwägungen stehen einer sozialen Auswahl aber nach wie vor nicht entgegen.
2. Vorliegend ist die soziale Auswahl aufgrund eines Punkteschemas erfolgt, das Arbeitgeber und Betriebsrat in einem Interessenausgleich gem. § 112 Abs. 1 BetrVG vereinbart hatten. Der Interessenausgleich kann im Gegensatz zu den Auswahlrichtlinien nach § 95 Abs. 2 BetrVG nicht erzwungen werden. Er hat auch nicht die normative Wirkung einer Betriebsvereinbarung, also keine unmittelbare Wirkung für den einzelnen Arbeitnehmer wie der Sozialplan nach § 112 Abs. 1 Satz 3 BetrVG (vgl. Fitting/Auffarth/Kaiser, BetrVG, 13. Aufl., § 112 Rz 3 a; Gnade/Kehrmann/Schneider/Blanke, BetrVG, 2. Aufl. 1983, § 112 Rz 1; GK-Fabricius, BetrVG, 2. Bearbeitung 1983, § 112 Rz 20; Dietz/Richardi, BetrVG, 6. Aufl. 1982, Band 2, § 112 Rz 20 m.w.N.). Der Interessenausgleich löst gemäß § 113 Abs. 1 BetrVG für den entlassenen Arbeitnehmer erst Ansprüche aus, wenn der Unternehmer davon ohne zwingenden Grund abgewichen ist.
Dennoch hält es der Senat für sachlich gerechtfertigt und geboten, auch bei einer sozialen Auswahl aufgrund von Auswahlrichtlinien, die Arbeitgeber und Betriebsrat in einem Interessenausgleich vereinbart haben, den gleichen Ermessensspielraum wie bei den Auswahlkriterien nach § 95 BetrVG zuzubilligen. Der Gesetzgeber hat nämlich Betriebsrat und Arbeitgeber auch im Rahmen des Interessenausgleichs die Vereinbarung von Auswahlrichtlinien bei betriebsbedingten Kündigungen zugewiesen. Bei Meinungsverschiedenheiten über eine geplante Betriebsänderung soll der Interessenausgleich klären, ob, wann und in welcher Weise die vorgesehene unternehmerische Maßnahme durchgeführt werden soll (Fitting/Auffarth/Kaiser, aaO, § 112 Rz 3 m.w.N.; Dietz/-Richardi, aaO, Rz 10 m.w.N.). Inhalt des Interessenausgleichs kann alles sein, was nicht dem Sozialplan zugeordnet ist (Rumpff, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, 2. Aufl. 1978, S. 286; Galperin/Löwisch, BetrVG, 6. Aufl., § 112 Rz 5, 6; Stege/Weinspach, BetrVG, 4. Aufl. 1981, § 112 Rz 3; Fitting/Auffarth/Kaiser, aaO, Rz 3 und Dietz/Richardi, aaO, Rz 10). Dazu gehören auch die wegen der geplanten Betriebsänderung erforderlichen Einzelmaßnahmen, also auch die Bestimmung des Zeitpunktes, der Modalitäten und der Auswahlkriterien der infolge der Betriebsänderung notwendig werdenden Kündigungen (Fitting/Auffarth/Kaiser, aaO, Rz 10; Stege/Weinspach, aaO, Rz 2 und Galperin/Löwisch, aaO, § 112 Rz 6 m.w.N.). Da von einer Betriebsänderung in der Regel eine größere Anzahl von Arbeitnehmern betroffen ist, läßt sich zudem - wie das Landesarbeitsgericht auch gesehen hat - oftmals eine gewisse Schematisierung nicht vermeiden. Da der Interessenausgleich eine Einigung zwischen Betriebsrat und Unternehmer voraussetzt, bestehen auch keine durchgreifenden materiellen Bedenken, den Betriebspartnern einen Ermessensspielraum unter den gleichen Voraussetzungen wie bei den Auswahlrichtlinien nach § 95 BetrVG einzuräumen. Insbesondere spricht hiergegen nicht, daß der Betriebsrat den Interessenausgleich im Gegensatz zu den Auswahlrichtlinien nach § 95 BetrVG in Betrieben mit mehr als tausend Arbeitnehmern nicht erzwingen kann. Setzt sich der Betriebsrat mit seinen Vorstellungen über die soziale Auswahl nicht durch, kann ihn der Arbeitgeber auch über die Einigungsstelle nicht zum Abschluß eines Interessenausgleichs zwingen. Der Betriebsrat kann vielmehr den ihm unzumutbar erscheinenden Interessenausgleich verhindern. Da nicht die Gefahr besteht, daß der Arbeitgeber über die Einigungsstelle einen dem Betriebsrat unangemessen erscheinenden Interessenausgleich erzwingt, besteht rechtlich auch kein mittelbarer Druck auf den Betriebsrat, der ihn veranlassen könnte, von seinen Vorstellungen Abstriche zu machen.
3. Abschließend zur Frage des Inhalts und der Grenzen des Beurteilungsspielraums Stellung zu nehmen, besteht allerdings vorliegend kein Anlaß, weil die Auswahlkriterien für betriebsbedingte Kündigungen im vorliegenden Interessenausgleich schon der Grundwertung des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG nicht entsprechen.
a) Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht hervorgehoben, bei der sozialen Auswahl nach dem Punkteschema im Interessenausgleich seien zwar die drei sozialen Daten Lebensalter, Betriebszugehörigkeit und Zahl der Unterhaltsberechtigten berücksichtigt, denen werde aber zulasten des Arbeitnehmers das Kriterium Fehlzeiten gegenübergestellt. Dabei handelt es sich in erster Linie um krankheitsbedingte Fehlzeiten. Da bei der sozialen Auswahl nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG ausschließlich soziale Gesichtspunkte rechtlich relevant sind und krankheitsbedingte Fehlzeiten nur zu berücksichtigen sind, wenn sich Hinweise auf eine besondere Schutzbedürftigkeit des betreffenden Arbeitnehmers geben (vgl. BAG vom 30. Oktober 1981 - 7 AZR 316/79 - nicht veröffentlicht und das Urteil des Senates vom 24. März 1983 - aaO, zu B V 2 d der Gründe mit ausführlicher Begründung), widerspricht das Punkteschema im Interessenausgleich § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG. Das Berufungsgericht hat auch zutreffend herausgestellt, daß die Gewichtung von sozialen Kriterien und Fehltagen vorliegend nicht zu einer Auswahl des zu Kündigenden nach sozialen Gesichtspunkten, sondern zu einer Auswahl nach Fehltagen führt, denn jeder Fehltag ab dem 21. Fehltag kann nur aufgewogen werden durch zwei Unterhaltsberechtigte, zwei Jahre Betriebszugehörigkeit oder zwei Jahre Lebensalter über dem 40. Jahr. Ein 40 Jahre alter verheirateter Arbeitnehmer mit fünf Kindern, fünf Jahren Betriebszugehörigkeit und durchschnittlich 26 Fehltagen in den letzten Jahren soll danach gekündigt werden vor einem ledigen, 20 Jahre alten Arbeitnehmer ohne Unterhaltspflichten und nur einem Jahr Betriebszugehörigkeit und einer Fehlzeit von durchschnittlich 20 Tagen (52 zu 49 Punkten). Das ist im Rahmen der sozialen Auswahl eine gesetzeswidrige Berücksichtigung von Fehlzeiten.
b) Auch die Rüge der Revision, die Kündigung des Klägers sei gerechtfertigt, weil seine erhöhten Fehlzeiten erhebliche Auswirkungen auf den Betriebsablauf gehabt hätten, kann keinen Erfolg haben. Zwar ist nach § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG zu prüfen, ob betriebliche Bedürfnisse einer Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten nicht entgegenstehen. Dementsprechend regelt der Interessenausgleich abschließend: "In Einzelfällen kann von dieser Regelung abgewichen werden, wenn die Weiterbeschäftigung bestimmter Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter für den Betrieb notwendig ist oder erhebliche Bedeutung für einen geordneten Betriebsablauf hat...". Auch Fehltage können eine Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten ausschließen, wenn die Voraussetzungen einer krankheitsbedingten Kündigung vorliegen (Urteil des Senats vom 24. März 1983 - aaO, unter B V 2 e der Gründe; LAG Hamm vom 9. Juli 1976 - 3 Sa 141/76 - DB 1976, 1822). Aber im vorliegenden Fall fehlt jeder Tatsachenvortrag der Beklagten in den Vorinstanzen zu den Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG. Sie hat vielmehr konkret unter Hinweis auf die Liste der vergleichbaren Arbeitnehmer in der Abteilung des Klägers und das Punkteschema behauptet, aufgrund ihrer Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten habe dem Kläger gekündigt werden müssen.
4. a) Die Unvereinbarkeit des Punkteschemas im Interessenausgleich mit der Grundwertung des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG führt aber noch nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung. Auch unrichtige Erwägungen können zufällig zu dem zutreffenden Ergebnis führen, daß dem am wenigsten schutzbedürftigen Arbeitnehmer gekündigt wird. Es ist dann allerdings zunächst Sache des Arbeitgebers, näher darzulegen, weshalb die unzulässige Berücksichtigung von Fehltagen trotzdem im Ergebnis nicht zu einer unrichtigen sozialen Auswahl führt. Daran hat sich die Beklagte auch gehalten, indem sie die rechtserheblichen Sozialdaten vergleichbarer Arbeitnehmer mitgeteilt hat. Daraufhin war der Kläger, der nach § 1 Abs. 3 Satz 3 KSchG die Tatsachen zu beweisen hat, die die Kündigung als sozial ungerechtfertigt im Sinne des Satzes 1 erscheinen lassen, gehalten, die Arbeitnehmer namentlich zu benennen, denen seiner Auffassung nach hätte gekündigt werden müssen (KR-Becker, § 1 KSchG Rz 375; Weng, DB 1978, 884, 889).
b) Vorliegend hat der Kläger nicht dargelegt, welcher andere Arbeitnehmer weniger schutzbedürftig sein soll, obwohl die Beklagte die Gründe angegeben hat, die zu der getroffenen sozialen Auswahl geführt haben (§ 1 Abs. 3 Satz 1, 2. Halbsatz KSchG). Indem das Landesarbeitsgericht von Amts wegen drei Arbeitnehmer aufgrund des mit § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG ohnehin nicht zu vereinbarenden Punkteschemas im Interessenausgleich für sozial weniger schutzbedürftig erklärt hat, hat es § 1 Abs. 3 KSchG verletzt, weil es angenommen hat, die Kündigung sei sozial ungerechtfertigt, ohne eine konkrete Einzelprüfung vorgenommen zu haben. Dies hat die Revision zu Recht gerügt.
III. Der Rechtsstreit war zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen, weil das Berufungsgericht nicht geprüft hat, ob die Kündigung durch dringende betriebliche Gründe bedingt ist. Bei der erneuten Verhandlung wird das Landesarbeitsgericht dies nachzuholen haben. Sollte der Kläger nach Zurückverweisung einen Arbeitnehmer benennen, der weniger sozial schutzbedürftig sein soll als er, wird das Berufungsgericht auch die soziale Auswahl unter Beachtung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts noch einmal zu überprüfen haben.
Hillebrecht Triebfürst Dr. Weller
Thieß Dr. Kirchner
Fundstellen
Haufe-Index 437627 |
BAGE 43, 357-368 (LT1-2) |
BAGE, 357 |
BB 1984, 671-673 (LT1-2) |
DB 1984, 563-565 (LT1-2) |
NJW 1984, 1648-1649 (LT1-2) |
ARST 1984, 121-122 (LT1-2) |
BlStSozArbR 1984, 246-247 (T) |
JR 1985, 440 |
SAE 1985, 215-218 (LT1-2) |
AP § 1 KSchG, Nr 13 |
AR-Blattei, ES 1020 Nr 240 (LT1-2) |
AR-Blattei, Kündigungsschutz Entsch 240 (LT1-2) |
EzA § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung, Nr 28 (LT1-2) |
EzBAT § 53 BAT Betriebsbedingte Kündigung, Nr 7 (LT1-2) |
ZfSH/SGB 1984, 411-412 (LT1-3) |