Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 29. Juni 2000 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte erstattet der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des gesamten Rechtsstreits zu einem Drittel; im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die am 28. April 1981 geborene Klägerin ist bei der beklagten Krankenkasse krankenversichert. Der von ihrem behandelnden Zahnarzt unter dem 24. April 1998 erstellte kieferorthopädische Behandlungsplan wurde von der Beklagten nicht genehmigt, weil die gesetzlichen Leistungsvoraussetzungen nicht erfüllt seien (Bescheid vom 7. Juli 1998; Widerspruchsbescheid vom 10. November 1998). Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, die Kosten für eine kieferorthopädische Behandlung entsprechend dem vorgelegten Behandlungsplan zu erstatten (Gerichtsbescheid vom 27. April 1999 – zugestellt am 29. April 1999).
Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 29. Juni 2000 diese Entscheidung geändert und die Klage abgewiesen; allerdings wurde die Beklagte wegen Veranlassung des Rechtsstreits durch unzureichende Sachaufklärung verpflichtet, ein Drittel der außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen zu tragen. Zur Begründung der Klageabweisung beruft sich das LSG auf das von ihm eingeholte Sachverständigengutachten, wonach bei der Klägerin weder für die Umformung des Kiefers noch für die Einstellung der Bisslage die Punktzahl von mehr als acht erreicht werde, die nach den am 1. Januar 1994 in Kraft getretenen Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen für die kieferorthopädische Behandlung (KFO-RL 1994) notwendig sei, um die Leistungspflicht der Krankenkasse zu begründen. Die Bedenken der Klägerin gegen die Objektivität des Sachverständigen seien nicht begründet. Die Anwendung der Richtlinien scheitere nicht daran, dass der Bundesausschuss entgegen dem Gesetzeswortlaut keine Indikationsgruppen beschrieben, sondern ein Indikationssystem mit einer Punktbewertung eingeführt habe.
Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzungen von §§ 29, 92 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) und macht Verfahrensfehler geltend. Die KFO-RL 1994 hätten entgegen § 29 Abs 4 SGB V keine befundbezogenen, objektiv überprüfbaren Indikationsgruppen festgelegt, bei denen die in § 29 Abs 1 SGB V genannten Voraussetzungen vorlägen. Das stattdessen geschaffene Punktbewertungssystem beziehe sich nur auf das Ausmaß der Umformung des Kiefers bzw der Bissverlagerung und lasse die in § 29 Abs 1 SGB V genannten Behinderungen beim Kauen, Beißen, Sprechen oder Atmen außer Betracht. Dieses Vorgehen sei mit der angestrebten Herausnahme von 10 % leichterer Gebissanomalien aus der Leistungspflicht nicht zu rechtfertigen. Außerdem habe für das LSG Anlass bestanden, sich mit den widersprüchlichen Äußerungen der gehörten Ärzte auseinander zu setzen oder ein weiteres Gutachten einzuholen.
Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 29. Juni 2000 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Trier vom 27. April 1999 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die vom LSG in der Hauptsache getroffene Entscheidung für zutreffend. Der Bundesausschuss habe festgestellt, dass die von § 29 Abs 4 SGB V geforderte Festlegung von Indikationsgruppen nicht zu verwirklichen gewesen sei. Selbst bei einer Rechtswidrigkeit der Richtlinien würde sich kein Anspruch der Klägerin ergeben, da die Voraussetzungen des § 29 Abs 1 SGB V nicht nachgewiesen seien. Gegen die Verurteilung zur teilweisen Übernahme der Prozesskosten wendet die Beklagte ein, dass eine möglicherweise unzureichende Sachverhaltsaufklärung nicht kausal für die Durchführung des Streitverfahrens war.
Die Klägerin hat auf Rückfrage des Senats mitgeteilt, dass sie die Behandlung bisher aus Kostengründen nicht durchgeführt habe.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg; ihr steht ein Anspruch auf die begehrte kieferorthopädische Behandlung nicht zu, weil sie diese nicht vor Vollendung des 18. Lebensjahres begonnen hat.
Nachdem die Behandlung bisher nicht durchgeführt wurde, muss das im Revisionsverfahren formulierte Kostenerstattungsbegehren, das sinngemäß auf die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung zielt, als Antrag auf Verurteilung zur Gewährung der Sachleistung verstanden werden. Bei dieser Deutung bestehen keine Bedenken gegen die Zulässigkeit der Klage. Kieferorthopädische Behandlungen gehören jedenfalls seit 1. Januar 1999 zu den Sachleistungen der Krankenversicherung, wie insbesondere durch die seitdem in § 29 Abs 3 Satz 1 SGB V angeordnete Abrechnung des behandelnden Zahnarztes mit der Kassenzahnärztlichen Vereinigung klargestellt ist (vgl die durch Gesetz vom 19. Dezember 1998 –BGBl I 3853– geänderte Fassung). Die frühere Rechtslage ist für den Anspruch der Klägerin unerheblich, wie noch auszuführen sein wird.
Die Leistungspflicht der Krankenkassen für kieferorthopädische Behandlungen beschränkt sich auf Kinder und Jugendliche. Die kieferorthopädische Behandlung von Versicherten, die zu Beginn der Behandlung das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben, gehört nach § 28 Abs 2 Satz 6 SGB V nicht zur zahnärztlichen Behandlung im Sinne des Gesetzes. Eine Ausnahme gilt nur bei schweren Kieferanomalien, die kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Maßnahmen erfordern (§ 28 Abs 2 Satz 7 SGB V). Ein solches Krankheitsbild besteht bei der Klägerin nicht, wie die vom LSG wieder gegebenen Befunde zeigen und wie auch die Revision nicht in Zweifel zieht. Da die Klägerin inzwischen zweiundzwanzig Jahre alt ist, ohne die beantragte Behandlung begonnen zu haben, kommt die Gewährung kieferorthopädischer Leistungen durch die Krankenkasse nicht (mehr) in Betracht. Auf die ursprünglich allein streitige Frage, ob die bei ihr bestehende Kiefer- oder Zahnfehlstellung ein Ausmaß erreicht, das nach den Kriterien des § 29 Abs 1 und den Richtlinien gemäß § 29 Abs 3 SGB V einen Behandlungsanspruch zu begründen vermag, kommt es nicht an.
Dass die Klägerin das achtzehnte Lebensjahr erst während des Prozesses (am Tag vor der Zustellung des erstinstanzlichen Urteils) vollendet hat und zurzeit der Antragstellung und der Verwaltungsentscheidung noch zum anspruchsberechtigten Personenkreis gehörte, rechtfertigt kein anderes Ergebnis. Das Sozialrecht kennt keinen allgemeinen Grundsatz des Inhalts, dass eine für den Betroffenen in einem früheren Verfahrensstadium bestehende günstige Sach- oder Rechtslage vom Versicherungsträger oder dem Gericht auch dann noch zu Grunde zu legen ist, wenn sie im Zeitpunkt der das Verfahren abschließenden Entscheidung wegen einer zwischenzeitlich eingetretenen Sachverhalts- oder Rechtsänderung nicht mehr besteht. Ob eine Sozialleistung zu gewähren ist, beurteilt sich vielmehr im jeweiligen Zusammenhang nach der Sach- und Rechtslage, auf die es nach dem anzuwendenden materiellen Recht für die Entscheidung ankommt. Diesem sind nicht nur die tatbestandlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Leistungsanspruchs zu entnehmen, sondern auch die Antwort auf die Frage, zu welchem Zeitpunkt diese Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Diesen Grundsatz hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in ständiger Rechtsprechung für das allgemeine Verwaltungsrecht aufgestellt und gerade für Fälle der Überschreitung einer Altersgrenze während des Prozesses wiederholt bekräftigt (BVerwGE 97, 214, 220 f = Buchholz 442.151 § 45 Nr 31 = NJW 1995, 1371 mwN; BVerwGE 78, 243, 244 = Buchholz 402.25 § 28 Nr 11; BVerwG Buchholz 402.240 § 20 Nr 4 = NVwZ-RR 1998, 517; BVerwG Buchholz 402.240 § 23 Nr 7 = NVwZ-RR 1998, 677). Für das Sozialrecht gilt nichts anderes, wie das Bundessozialgericht (BSG) im Zusammenhang mit der Frage des maßgeblichen Zeitpunkts bei Rechtsänderungen bereits entschieden hat (BSG SozR 3-4100 § 152 Nr 7 S 17 f; im gleichen Sinne Senatsurteil vom 19. Juni 2001 – BSGE 88, 166, 167 = SozR 3-2500 § 28 Nr 5 S 26 mwN).
Nach Sinn und Zweck der Anspruchsnormen des Krankenversicherungsrechts – insbesondere § 27 SGB V – ist der Behandlungsanspruch auf den Zeitpunkt der Erbringung der Leistung zu beziehen. Deshalb bestimmt sich die Zuständigkeit der Krankenkasse nach diesem Zeitpunkt (BSGE 89, 86, 87 f = SozR 3-2500 § 19 Nr 4 S 18 f), und deshalb ist auch beim Kostenerstattungsanspruch auf diesen Zeitpunkt abzustellen (BSG SozR 3-2500 § 92 Nr 12 S 70; BSG SozR 3-2500 § 135 Nr 12). Solange die Behandlung nicht durchgeführt ist, muss infolgedessen regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abgestellt werden. Etwas anderes kann nur gelten, wenn es ausdrücklich angeordnet ist oder wenn sich aus Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung oder aus anderen Umständen ergibt, dass für die Erfüllung einzelner Anspruchsvoraussetzungen ausnahmsweise ein früherer Zeitpunkt maßgebend sein soll (vgl Urteil des 6. Senats des BSG vom 12. September 2001 – BSG SozR 3-5520 § 25 Nr 5 zur Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung der Vorschriften über die Altersgrenze für die Zulassung als Vertragsarzt; Urteile des BVerwG vom 18. November 1997 – Buchholz 402.240 § 20 Nr 4 und vom 30. April 1998 – Buchholz 402.240 § 23 Nr 7 zur Maßgeblichkeit des Antragszeitpunkts für die Frage der Minderjährigkeit eines Bewerbers um eine Aufenthaltserlaubnis).
Aus den krankenversicherungsrechtlichen Vorschriften über die kieferorthopädische Behandlung ergeben sich keine Gesichtspunkte, die es rechtfertigen könnten, die Altersgrenze des § 28 Abs 2 Satz 6 SGB V auf einen früheren Zeitpunkt als den der gerichtlichen Entscheidung über das Sachleistungsbegehren zu beziehen. Der Wortlaut wie auch der Sinn und Zweck dieser Regelungen schließen eine solche Interpretation im Gegenteil aus. § 28 Abs 2 Satz 6 SGB V nennt selbst ausdrücklich den Behandlungsbeginn als den Stichtag, an dem das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet sein darf. Da der Behandlungsbeginn beim Streit um die Sachleistung immer in der Zukunft liegt, würde eine Rückbeziehung der Altersgrenze auf den Beginn des Verwaltungs- oder Gerichtsverfahrens gegen die eindeutige Anordnung des Gesetzes verstoßen. Sie wäre auch nicht mit den Motiven zu vereinbaren, die den Gesetzgeber zum Ausschluss kieferorthopädischer Leistungen bei Erwachsenen aus dem Krankenversicherungsschutz bewogen haben. Mit der Beschränkung auf Kinder und Jugendliche sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, dass der medizinische Nutzen kieferorthopädischer Maßnahmen nach Abschluss des Skelettwachstums in der zahnmedizinischen Wissenschaft umstritten ist und sich medizinische und andere – etwa kosmetische – Behandlungsziele nur schwer voneinander abgrenzen lassen (BT-Drucks 12/3608 S 79 zu § 28; siehe dazu näher: Senatsurteil vom 9. Dezember 1997 – BSGE 81, 245, 250 = SozR 3-2500 § 28 Nr 3 S 12). Diese Gründe für den Leistungsausschluss verbieten es, die Krankenkasse gleichwohl zur Gewährung einer Behandlung im Erwachsenenalter unter Berufung darauf zu verpflichten, dass der Leistungsantrag noch vor Vollendung des achtzehnten Lebensjahrs gestellt worden war.
In diesem Zusammenhang hilft der Klägerin auch nicht, dass sie zugleich mit der Antragstellung im April 1998 einen von ihrem Zahnarzt erstellten kieferorthopädischen Behandlungsplan vorgelegt hat. Allerdings hat der Senat den Zeitpunkt der Aufstellung des Behandlungsplans im Regelfall als den Beginn der Behandlung angesehen (BSGE 81, 245, 246 = SozR 3-2500 § 28 Nr 3 S 7). Daran ist mit der damals gegebenen Begründung festzuhalten. Ein Behandlungsplan stellt jedoch dann nicht den “Beginn der Behandlung” im Sinne der hier einschlägigen Vorschrift dar, wenn er nicht in angemessenem zeitlichen Abstand nach seiner Aufstellung umgesetzt wird. Ein kieferorthopädischer Behandlungsplan dient wie jeder andere Behandlungsplan dazu, auf der Grundlage des aktuellen Gesundheitszustands des Patienten die Absichten des Arztes zu dokumentieren und dadurch insbesondere der Krankenkasse eine Kontrolle zu ermöglichen. Da der Gesundheitszustand sich ändert, kann ein zunächst aufgestellter Plan für eine erst nach Jahren beginnende Behandlung keine medizinische Grundlage sein. Darauf hat der Senat bereits im Urteil vom 9. Dezember 1997 – allerdings in Bezug auf eine behauptete etwa zwanzigjährige “Behandlungsunterbrechung” – hingewiesen (BSGE 81, 245, 246 = SozR 3-2500 § 28 Nr 3 S 8). Für den Heil- und Kostenplan beim Zahnersatz haben die Vertragspartner der Bundesmantelverträge einen Vordruck vereinbart, der den Hinweis enthält, dass die Behandlung binnen sechs Monaten nach Aufstellung des Plans zu beginnen hat (vgl § 17 Abs 1 Satz 2 Bundesmantelvertrag Zahnärzte –BMV-Z– iVm Anlage 3; § 9 Abs 6 Satz 1 Ersatzkassenvertrag Zahnärzte –EKV-Z– iVm Anlage 8). Eine entsprechende Regelung ist in den Vereinbarungen zum kieferorthopädischen Behandlungsplan nicht enthalten; die Krankenkasse hat lediglich bei der Bewilligung festzulegen, ab welchem Quartal der Anspruch besteht (§ 17 Abs 1 Satz 2 BMV-Z iVm Anlage 8; § 9 Abs 4 Satz 1 EKV-Z iVm Anlage 15a). Ein Zeitraum, nach dem einem kieferorthopädischen Behandlungsplan aus zahnmedizinischen Gründen generell keine Bedeutung mehr zukommt, lässt sich aus den genannten Vereinbarungen daher nicht ableiten.
Vor dem Hintergrund der Altersgrenze in § 28 Abs 2 Satz 6 SGB V hat der Behandlungsplan nicht nur die erwähnte zahnmedizinische, sondern darüber hinaus anspruchsbegründende Bedeutung. Nach dem erwähnten Senatsurteil vom 9. Dezember 1997 belegt das Datum des Behandlungsplans in nachprüfbarer Weise die Feststellung der Behandlungsnotwendigkeit sowie den Behandlungswunsch des Versicherten und die Behandlungsbereitschaft des Zahnarztes; das deckt sich mit dem Erfordernis der Rechtssicherheit und den Vorstellungen des Gesetzgebers (vgl die Begründung zum Gesetzentwurf, BT-Drucks 12/3608 S 79). Wird der Plan jedoch nicht umgesetzt, ist die Annahme regelmäßig widerlegt, der Versicherte wolle die in Aussicht genommene Behandlung tatsächlich durchführen, und der Schluss auf Behandlungswunsch und Behandlungsbereitschaft ist nicht mehr gerechtfertigt.
Darüber hinaus wird die Feststellung der Behandlungsnotwendigkeit hierdurch in Frage gestellt. Die Partner der Bundesmantelverträge haben enge Zeitvorgaben für die Durchführung des durch einen Behandlungsplan ausgelösten Genehmigungs- und Gutachterverfahrens vereinbart. Den Primärkassen stehen regelmäßig nur vier Wochen zur Verfügung, um über die Genehmigung oder die Einleitung des Gutachterverfahrens zu entscheiden (BMV-Z Anl 6 § 2 Abs 1, § 3 Abs 1 Satz 2; für die Ersatzkassen gilt diese Frist nicht, vgl EKV-Z Anl 18 § 1 Abs 1). Falls eine Begutachtung erforderlich ist, soll diese unabhängig von der Kassenart innerhalb von (weiteren) vier Wochen abgeschlossen sein (BMV-Z Anl 6 § 3 Abs 3 iVm Anh Nr 3; EKV-Z Anl 18 § 1 Abs 6 iVm Abschn II Nr 2). Gegen das Ergebnis des Gutachtens kann der Zahnarzt oder die Kasse innerhalb eines Monats (bei Primärkassen innerhalb von zwei Monaten) Einspruch einlegen (EKV-Z Anl 18 § 2 Abs 1 Satz 2; BMV-Z Anl 6 § 4 Abs 1 Satz 2). Für das möglicherweise erforderliche Obergutachten stehen wiederum vier Wochen zur Verfügung (EKV-Z Anl 18 § 2 Abs 2; BMV-Z Anl 6 § 4 Abs 2). In diesen Bestimmungen ist die Eilbedürftigkeit des Verfahrens deutlich zum Ausdruck gebracht; ohne die genannten Vorgaben bestünde die Gefahr, dass sich der im Behandlungsplan dokumentierte Gesundheitszustand bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens bereits so verändert hat, dass die beabsichtigte Behandlung schon deshalb nicht mehr unverändert genehmigt werden könnte. Mit dem Sinn und Zweck der getroffenen Regelungen wäre es unvereinbar, wenn es gestattet wäre, die Durchführung eines genehmigten Behandlungsplans beliebig hinauszuzögern; denn die Gefahr, dass der Plan durch zwischenzeitliche Veränderungen obsolet wird, ist vor der Genehmigung nicht anders zu beurteilen als danach.
Aus den aufgezeigten Gründen entfällt bei einem nicht alsbald umgesetzten Behandlungsplan die Rechtfertigung dafür, statt auf den nach dem Wortlaut maßgeblichen Zeitpunkt der tatsächlichen Durchführung auf denjenigen der nachweisbaren Absicht abzustellen. Im Interesse der Rechtssicherheit ist auch insoweit an ein formales Merkmal anzuknüpfen. Ausgehend von einem langwierigen Genehmigungsverfahren, das nach den geschilderten zeitlichen Vorgaben in etwa sechs Monaten abgeschlossen sein müsste, ist der Behandlungsplan nicht mehr als Behandlungsbeginn zu werten, wenn seit seiner Aufstellung ein Jahr lang keine der geplanten Behandlung zuzurechnenden Leistungen erbracht worden sind.
Die hier entwickelte Grundregel steht im Falle der Klägerin der Bewertung des Behandlungsplans als Behandlungsbeginn entgegen. Allerdings beruht die zeitliche Verzögerung nicht auf mangelndem Willen der Versicherten oder ihres Zahnarztes, sondern auf einer Entscheidung der Krankenkasse; darüber hinaus hat die Klägerin ihren fortbestehenden Behandlungswillen dadurch dokumentiert, dass sie diese Entscheidung angefochten hat. Dieser Umstand rechtfertigt jedoch kein anderes Ergebnis, ohne dass es darauf ankommt, ob der Klägerin der Anspruch ursprünglich zustand und die Entscheidung der Beklagten somit rechtswidrig war. Die Klägerin hat es versäumt, auf prozessualem Wege Vorkehrungen dagegen zu treffen, dass sie ihren möglicherweise bestehenden Leistungsanspruch wegen der Prozessdauer verliert. Deshalb kann sie jetzt nicht so gestellt werden, als würde ihr der Anspruch entgegen dem materiellen Recht dennoch zustehen.
Der Versicherte, dem eine Behandlung zu Unrecht verweigert wird und der deshalb um die Gewährung der Behandlung als Sachleistung prozessiert, ist dadurch gegenüber Veränderungen der Sach- und Rechtslage nicht schutzlos gestellt. Er hat in jedem Fall die Möglichkeit, unter Hinweis auf den drohenden Rechtsverlust eine einstweilige Anordnung zu beantragen, gegen deren Erlass das Argument der Vorwegnahme der Entscheidung in der Hauptsache nicht greifen würde, weil es auch gegen die Versagung einer Anordnung anzuführen ist. Bei der Klägerin hätte es dessen gar nicht bedurft, weil das SG die Beklagte zur Leistung verurteilt hat. Da die Berufung der Beklagten nach §§ 154, 97 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) keine aufschiebende Wirkung hatte, wäre die Beklagte – trotz der zwischenzeitlichen Überschreitung der Altersgrenze – zunächst zur Leistung verpflichtet gewesen, hätte allerdings ihrerseits die Aussetzung der Vollziehung beantragen können. Unabhängig davon bleibt dem Versicherten bei Behandlungsleistungen der Weg der Selbstbeschaffung und der Fortführung des Prozesses mit dem Ziel der Kostenerstattung nach § 13 Abs 3 SGB V. Selbst wenn über eventuelle Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz zu Gunsten der Krankenkasse entschieden wird, können sie den Versicherten wegen der regelmäßig zu erwartenden gerichtlichen Äußerungen zur Erfolgsaussicht in die Lage versetzen, das mit einer trotzdem gewählten Selbstbeschaffung verbundene Risiko der eigenen finanziellen Belastung besser abzuschätzen.
Allerdings ist nicht zu verkennen, dass die dargestellten Möglichkeiten den Betroffenen nicht sicher davor bewahren, letztlich für eine Maßnahme bezahlen zu müssen, die er möglicherweise nur für den Fall in Anspruch nehmen will, dass die Krankenkasse zur Leistung verpflichtet ist. In der Regel führt das beschriebene System jedoch dazu, dass ein bestehender materieller Anspruch auch rechtzeitig durchgesetzt werden kann. Dass dabei dem Versicherten ein Kostenrisiko aufgebürdet wird, beruht auf der letztlich zivilprozessualen Prägung des vom Gesetz angeordneten Ausgleichs zwischen dem Interesse an der sofortigen Durchsetzbarkeit eines Anspruchs und demjenigen an einer der Durchsetzung vorausgehenden Prüfung in einem kontradiktorischen Verfahren. Der damit verbundene Nachteil für den Anspruchsteller ist gewollt und lässt für eine materielle Leistungspflicht der Krankenkasse oder einen anderen Ausgleich (etwa im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs) keinen Raum, weil dadurch das gesetzlich festgelegte Gleichgewicht der den Parteien zugeordneten Risiken gestört würde. Aus vergleichbaren Überlegungen heraus hat das BSG den Anspruch eines Schwerbehinderten verneint, dem nach längerem Verwaltungsverfahren die Berechtigung zur unentgeltlichen Beförderung im Nahverkehr zuerkannt wurde und der dafür entschädigt werden wollte, dass er die ihm von Anfang an unstreitig zustehende Berechtigung während der Dauer des Verfahrens nicht nutzen konnte (BSGE 89, 79 = SozR 3-3870 § 59 Nr 1). In derartigen Konstellationen kann der Betroffene allenfalls die Erstattung seiner Prozesskosten und – in besonders liegenden Fällen – Schadenersatz wegen Amtspflichtverletzung erhalten (beispielsweise für die unterlassene Tätigkeit eines Laborarztes, wenn sich deren Beschränkung nachträglich als rechtswidrig herausstellt: vgl BSGE 78, 91 = SozR 3-5540 § 25 Nr 2; BGHZ 150, 172 = LM BGB § 839 (A) Nr 68 = NJW 2002, 1793).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dass der Anspruch der Klägerin bereits im Zeitpunkt der Wirksamkeit des erstinstanzlichen Gerichtsbescheids (Zustellung am Tag nach dem 18. Geburtstag der Klägerin) erloschen war, spricht gegen eine Kostenteilung. Andererseits ist der Anlass zur Klage zu berücksichtigen. Die Vorinstanzen haben übereinstimmend die unzureichende Aufklärung durch die Beklagte im Verwaltungsverfahren gerügt; dem kann die im Berufungsverfahren durch Sachverständigengutachten bestätigte Richtigkeit des Ergebnisses nicht entgegengehalten werden. Außerdem müssen die Vereinbarkeit der ursprünglich anzuwendenden KFO-RL 1994 mit höherrangigem Recht und die Aussichten der Klägerin auf einen Behandlungsanspruch nach dem Gesetzeswortlaut oder im Vorgriff auf die KFO-RL 2002 (vom 17. August 2001 – BAnz 2001 Nr 201 S 22477) als ungeklärt angesehen werden. Beide Gesichtspunkte sind dem Kostenrisiko der Beklagten zuzurechnen, auch wenn sie an die Richtlinien gebunden war. Insgesamt ist die Beklagte mit einem Drittel der Kosten des gesamten Verfahrens zu belasten.
Fundstellen
Haufe-Index 969634 |
BSGE 2004, 32 |
NZS 2003, 597 |
GesR 2003, 363 |