Beteiligte
Kläger und Revisionskläger, Gebrechlichkeitspfleger |
Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gemäß § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.
Der am 27. April 1936 geborene Kläger leidet an chronischer Schizophrenie. Er wurde im Februar 1958 erstmals in einer Nervenklinik behandelt. Voll 1959 bis 1963 war er insgesamt 44 Monate als Hilfsarbeiter versicherungspflichtig beschäftigt. In der Folgezeit bis Juli 1967 befand er sich wiederholt in klinischer Behandlung. In diesem Zeitraum arbeitete er vom 1. Februar bis zum 13. August 1965 als Hilfsarbeiter in einer Lackfabrik und war vom 1. April bis 3. Oktober 1966 bei einem Kaufhaus als Lagerarbeiter und vom 16. März bis 26. Juli 1967 in einer Gastwirtschaft als Kellerarbeiter tätig. Auch während dieser Beschäftigungen wurden für ihn Beiträge zur Arbeiterrentenversicherung entrichtet, und zwar für zusammen 19 Kalendermonate. Seit Juli 1967 befindet sich der Kläger ständig in der Landesnervenklinik Berlin. Seit diesem Zeitpunkt hat er weder versicherungspflichtige Tätigkeiten verrichtet, noch Beiträge zur Rentenversicherung geleistet. Lediglich hat er als Klinikinsasse ab Januar 1968 an einem sog. Berufsfindungslehrgang teilgenommen. Ein sodann unternommener Versuch, ihn zum Elektroinstallateur auszubilden, mußte im September 1968 aus gesundheitlichen Gründen abgebrochen werden. Seither wird der Kläger in der Klinik nur noch therapeutisch beschäftigt.
Im Februar 1970 beantragte der Pfleger des Klägers für diesen die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte zog ein anläßlich des im April 1968 erfolgten Ausbildungsbeginns erstattetes Gutachten ihres ärztlichen Dienstes und einen Befundbericht der Landesnervenklinik bei. Mit Bescheid vom 11. November 1970 lehnte sie den Rentenantrag ab, weil der Kläger bereits seit August 1965 erwerbsunfähig sei und deshalb die seither zurückgelegten Versicherungszeiten auf die Wartezeit nicht angerechnet werden könnten, so daß die Wartezeit mit nur 51 anrechenbaren Kalendermonaten nicht erfüllt sei. Der hiergegen erhobenen Klage hat das Sozialgericht (SG) Berlin nach Einholung eines am 10. März 1972 von dem Nervenarzt Dr. E erstatteten Gutachtens durch Urteil vom 19. Oktober 1972 stattgegeben. Es hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Februar 1970 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Berlin dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 15. Mai 1974). In den Entscheidungsgründen, auf die Bezug genommen wird, hat das LSG ein von ihm eingeholtes Gutachten des Nervenarztes Dr. B… abschnittsweise wiedergegeben und dazu ausgeführt: Dr. B… habe in diesem Gutachten überzeugend dargelegt, warum der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit entgegen der Ansicht des Sachverständigen Dr. K… nicht erst im Jahre 1968, sondern mit Sicherheit schon 1963 eingetreten sei. Entscheidend für den Eintritt des Versicherungsfalles sei beim Kläger nicht eine vordergründige Betrachtung seiner Arbeits- bzw. Ausbildungsverhältnisse, sondern die Berücksichtigung seiner psychotisch bedingten Wesensveränderung, die schon 1963 ihren Höhepunkt erreicht habe. Das SG habe allerdings auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hingewiesen, nach der eine tatsächliche Arbeitsleistung für das Vorhandensein der Fähigkeit zu dieser Arbeitsleistung spreche. Dieser Grundsatz, der für den Bereich organisch-körperlicher Erkrankungen aufgestellt worden sei, könne jedoch dann nicht angewandt werden, wenn es sich - wie beim Kläger - um eine psychische Erkrankung handele, bei der nach ärztlicher Auffassung schon zur Zeit der Arbeitsleistung Störungen auf dem Gebiet des Antriebs und der Affektivität vorgelegen haben, die bei rückschauender Betrachtungsweise des gesamten Krankheitsverlaufs letztlich als Ursache für die mangelnde Erwerbsfähigkeit angesehen werden müßten. Gehe man aber vom Eintritt des Versicherungsfalles im Jahre 1963 aus, so seien für die Wartezeit nur 44 Kalendermonate zurückgelegt. Dem Kläger stehe deshalb keine Rente zu, weil er die Wartezeit von 60 Kalendermonaten nicht erfüllt habe.
Mit der - zugelassenen - Revision rügt der Kläger Verletzung formellen und materiellen Rechts. Er meint, das LSG habe seine Aufklärungspflicht dadurch verletzt, daß es sich der Ansicht des Sachverständigen Dr. B… angeschlossen habe, ohne aufzuklären, ob und inwieweit dieser Sachverständige die von ihm gezogenen Schlußfolgerungen habe ziehen dürfen. Zumindest hätte das LSG den Sachverständigen auffordern müssen, sein Gutachten zu erläutern. Außerdem habe das LSG § 1247 Abs. 2 RVO verletzt, indem es hinsichtlich der Frage der Erwerbsunfähigkeit einen Unterschied mache zwischen organisch-körperlich Erkrankten einerseits und psychisch Erkrankten andererseits. Maßgebend könne insoweit nur die Tatsache der Erkrankung als solche sein. Andernfalls würden den organisch Erkrankten Chancen eingeräumt, die den psychisch Erkrankten nicht zugute kämen. Er, der Kläger, habe trotz seines Leidens mindestens bis 1968 wirtschaftlich verwertbare Leistungen erbracht, die ihren Niederschlag in den an die Beklagte abgeführten Beitragen gefunden hätten. Bei einem psychisch Erkrankten müsse die Arbeitsleistung versicherungsmäßig ebenso gewertet werden wie bei einem organisch Erkrankten, weil sonst ein Schizophrener stets erwerbsunfähig sei und trotz geleisteter Arbeit niemals in den Genuß einer Erwerbsunfähigkeitsrente kommen könne.
Der Kläger beantragt,das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen,hilfsweise,den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für überzeugend.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des Klägers ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Nach § 1247 Abs. 3 RVO ist die Wartezeit für die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erfüllt, wenn vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt ist. Das ist hier der Fall. Der Kläger hat in der Zeit von September 1959 bis Juli 1967 eine Versicherungszeit von 63 Kalendermonaten zurückgelegt; Erwerbsunfähigkeit (§ 1247 Abs. 2 RVO) lag bei ihm jedoch bis Ende Juli 1967 nicht vor.
Der gegenteiligen Auffassung des LSG kann nicht beigetreten werden. Das LSG hat ausgeführt, der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit sei beim Kläger wahrscheinlich schon 1958, mit Sicherheit aber 1963 eingetreten. Der Senat folge damit der Auffassung des medizinischen Sachverständigen Dr. B…, die dieser in seinem Gutachten vom 10. Januar 1974 dargelegt habe. Dieses Gutachten sei in sich schlüssig und widerspruchsfrei begründet. Dr. B… habe darin überzeugend dargelegt, warum der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit entgegen der Ansicht des Sachverständigen Dr. K… nicht erst im Jahre 1968 eingetreten sei, sondern mit Sicherheit schon 1963.
Diese Ausführungen deuten darauf hin, daß das LSG die Frage nach dem Eintritt der Erwerbsunfähigkeit für eine allein von einem ärztlichen Sachverständigen zu beantwortende medizinische Frage hält. Es handelt sich dabei jedoch nicht nur um eine medizinische, sondern vielmehr auch und vorrangig um eine Rechtsfrage (Jantz-Zweng-Pappai, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 2. Aufl. RVO § 1247 Anm. II B 1 S. 4; § 1246 Anm. II B 6 S. 50 ff.). Die der Beurteilung durch einen ärztlichen Sachverständigen unterliegende körperliche und geistige Leistungsfähigkeit des Versicherten stellt mithin lediglich eine von mehreren Komponenten des komplexen Begriffs der Erwerbsfähigkeit dar. Die bei einem Versicherten erhobenen medizinischen Befunde dürfen deshalb bei der Ermittlung seiner Erwerbsfähigkeit nicht isoliert betrachtet werden. Auch kommt diesen Befunden in der Regel kein so starker Beweiswert zu wie dem Umstand, daß der Versicherte eine Erwerbstätigkeit tatsächlich noch ausübt. Wie der erkennende Senat bereits entschieden hat (BSG SozR Nr. 24 zu § 1246 RVO), ist deshalb aus dem Umstand, daß ein Versicherter durch Ausübung einer zumutbaren Tätigkeit tatsächlich mindestens die Hälfte dessen verdient, was eine Vergleichsperson i.S. des § 1246 Abs. 2. Satz 1 RVO zu erwerben in der Lage ist, in der Regel zu schließen, daß seine Erwerbsfähigkeit trotz Vorliegens einer Krankheit, eines Gebrechens oder einer Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte nicht auf weniger als die Hälfte derjenigen der Vergleichsperson gesunken ist. Dieser Schluß ist selbst dann gerechtfertigt, wenn die erhobenen medizinischen Befunde, für sich allein betrachtet, ein anderes Ergebnis nahelegen, weil die Tatsache der Ausübung einer zumutbaren Tätigkeit in der Regel einen stärkeren Beweiswert hat als die scheinbar dies ausschließenden medizinischen Befunde. Es ist nicht ersichtlich, weshalb das - wie das LSG meint - nur für den Bereich organisch-körperlicher Erkrankungen gelten soll und nicht ebenso auch dann, wenn es sich - wie beim Kläger - um eine psychische Erkrankung handelt. Entgegen der Auffassung des LSG kommt es insoweit nicht entscheidend auf die möglicherweise erst bei rückschauender Betrachtung des gesamten Krankheitsverlaufs zu ermittelnden Ursachen eines schließlich eintretenden Absinkens der Leistungsfähigkeit an. Es ist vielmehr allein entscheidend, ob der Versicherte trotz seiner wie auch immer gearteten Gesundheitsstörungen tatsächlich noch erwerbstätig ist, d.h. eine Arbeit leistet, die er leisten kann und die zu einem für andere wirtschaftlich verwertbaren Ergebnis führt und deshalb geeignet ist, für ihn selbst als Erwerbsquelle zu dienen (BSG SozR Nr. 17 zu § 1247 RVO). Es ist weder nach den Feststellungen des LSG zweifelhaft, noch wird es von der Beklagten bestritten, daß das beim Kläger trotz seiner schon im Februar 1958 in Erscheinung getretenen Erkrankung nicht nur bis 1963, sondern ebenso auch während seiner in den Jahren 1965, 1966 und 1967 versicherungspflichtig ausgeübten Beschäftigungen als Hilfs-, Lager- und Kellerarbeiter der Fall war. Auch besteht kein Anhalt dafür, daß es sich bei den damaligen Arbeitsplätzen des Klägers um vom Regelfall abweichende, besonders günstige Arbeitsgelegenheiten gehandelt hat, die nur aus diesem Grunde von ihm hätten vollwertig mit der Folge wahrgenommen werden können, daß sich aus der Tatsache seiner damaligen Erwerbstätigkeit kein positiver Rückschluß auf seine damalige Erwerbsfähigkeit ziehen ließe (BSG SozR Nr. 24 zu § 1246 RVO).
Ein Versicherter aber, der noch eine Erwerbstätigkeit ausüben kann, ist nicht etwa schon deshalb erwerbsunfähig, weil er infolge eines wie auch immer verursachten Leidens häufig krankheitshalber nicht arbeitsfähig ist (BSGE 9, 192). Auch insoweit besteht kein Unterschied zwischen körperlichen und geistigen Gebrechen; in beiden Fällen sind derartige Krankheitsschübe - wie das SG richtig erkannt hat - wegen der jeweiligen Rückkehr der Leistungsfähigkeit lediglich als Krankheitszeiten zu werten.
Nach alledem war der Kläger auch während seiner letzten versicherungspflichtigen Beschäftigungen als Hilfs-, Lager- und Kellerarbeiter bis Ende Juli 1967 nicht erwerbsunfähig. Die von ihm bis dahin entrichteten Rentenversicherungsbeiträge sind somit auf die Wartezeit anzurechnen, so daß diese mit insgesamt 63 Kalendermonaten erfüllt ist.
Mit der Frage, wann beim Kläger in der Zeit nach Juli 1967 Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist, brauchte sich das LSG von seinem Rechtsstandpunkt aus nicht zu befassen. Diese Frage läßt sich aufgrund der bisherigen Feststellungen des LSG jedoch nicht beantworten. Das Revisionsgericht kann die insoweit erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht selbst treffen. Der Rechtsstreit muß deshalb - ohne daß es noch auf die vom Kläger erhobene Verfahrensrüge nach § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ankommt - zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen