Entscheidungsstichwort (Thema)

Mitbestimmung bei Erlaß eines Disziplinarbescheids

 

Leitsatz (amtlich)

Der Personalrat hat nach § 75 Abs. 1 Nr. 12 Nds. PersVG beim Erlaß einer Disziplinarmaßnahme mitzubestimmen.

 

Normenkette

Nds. PersVG § 75 Abs. 1 Eingangshalbsatz, Abs. 1 Nr. 12, § 81 Abs. 1; RVO §§ 351-352, 699; SGB IV § 33 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LAG Niedersachsen (Urteil vom 23.11.1990; Aktenzeichen 3 Sa 1798/89)

ArbG Lüneburg (Urteil vom 25.10.1989; Aktenzeichen 1 Ca 990/89)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 23. November 1990 – 3 Sa 1798/89 – wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Rechtmäßigkeit einer gegen den Kläger erlassenen Disziplinarmaßnahme.

Der Kläger ist seit dem 1. Juli 1967 bei der beklagten AOK als Angestellter gemäß den Bestimmungen der Dienstordnung für Krankenkassenangestellte (DO) beschäftigt. Am 1. Januar 1973 wurde er zum Oberamtmann (Amtsrat) befördert. Bis zum 15. August 1988 war der Kläger als Leiter der Leistungsabteilung tätig.

Die DO für die DO-Angestellten der Beklagten enthält entsprechend der Musterdienstordnung für dienstordnungsmäßige Krankenkassen-Angestellte in Niedersachsen (MDO Nds. vom 27. Juni 1978, Nds. MBl. 1978 S. 973) in § 29 u.a. folgende Bestimmungen über “Dienstvergehen, Disziplinarmaßnahmen”:

  • Gegen Angestellte, die ihre Pflichten schuldhaft verletzten, kann wegen Dienstvergehens Disziplinarverfolgung eingeleitet werden. Im Ruhestand befindliche Angestellte unterliegen dem Disziplinarrecht unter den gleichen Voraussetzungen und im gleichen Umfange wie Ruhestandsbeamte des Landes.
  • Werden Tatsachen bekannt, die den Verdacht eines Dienstvergehens rechtfertigen, so hat der Geschäftsführer oder ein vom Vorstand bestimmter Angestellter die zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlichen Ermittlungen zu veranlassen. Die Vorschriften des § 26 Abs. 1 bis 5 der Niedersächsischen Disziplinarordnung i. d. F. vom 8.9.1970 (Nds. GVBl. S. 317) zuletzt geändert durch Art. V des Sechsten Gesetzes zur Änderung des Niedersächsischen Beamtengesetzes vom 30.5.1978 (Nds. GVBl. S. 454), sowie des § 39 der Niedersächsischen Disziplinarordnung über die Verteidigung im Disziplinarverfahren gelten entsprechend oder sinngemäß.

  • Nach Abschluß der Ermittlungen entscheidet der Vorstand, ob das Verfahren eingestellt oder eine Disziplinarmaßnahme verfügt wird.

  • Disziplinarmaßnahmen sind entsprechend der Niedersächsischen Disziplinarordnung:

    • Verweis,
    • Geldbuße bis zur Höhe der einmonatigen Dienstbezüge,
    • Gehaltskürzung um höchstens ein Fünftel der jeweiligen Dienstbezüge auf längstens fünf Jahre,
    • Versetzung in eine Stelle mit geringerem Endgrundgehalt,
    • Entfernung aus dem Dienst nach näherer Bestimmung des § 30,

  • Disziplinarmaßnahmen sind in den Personalakten zu vermerken. Ihre Tilgung richtet sich nach den Vorschriften der Niedersächsischen Disziplinarordnung.”

Zur Regelung der Arbeitszeit besteht eine zwischen der Beklagten und dem Personalrat getroffene Dienstvereinbarung über die gleitende Arbeitzeit, die durch drei Nachträge ergänzt wurde. Nach Ziffer 1.6 und 1.8 des 2. Nachtrags zur Dienstvereinbarung vom 24. Oktober 1985 sind die Arbeitnehmer verpflichtet, die Zeiten der Frühstücks- und Kaffeepausen in die Zeiterfassung einzugeben. Den Arbeitnehmern wird eine Mittagspause von 30 Minuten und zusätzlich eine Kaffeepause von 10 Minuten als vergütete Arbeitszeit gewährt. Aus technischen Gründen wird die Kaffeepause in dem Zeiterfassungsgerät automatisch in der Mittagspause miterfaßt, die danach rechnerisch 40 Minuten beträgt.

Dem Kläger wurde von der Beklagten zur Last gelegt, in der Zeit vom 29. März bis 11. August 1988 in einer Vielzahl nachweisbarer Fälle die von ihm genommenen Arbeitspausen wissentlich nicht in die Gleitzeiterfassungsanlage eingegeben und damit der für die Mitarbeiter der Beklagten geltenden Vereinbarung über die gleitende Arbeitszeit zuwidergehandelt zu haben. Nach Abschluß der Vorermittlungen und Anhörung des Klägers vor dem Personalausschuß wurde vom Vorstand der Beklagten mit der “Verfügung einer Disziplinarmaßnahme nach § 29 DO” vom 25. Oktober 1988 gegen den Kläger als Disziplinarmaßnahme die Kürzung seines Gehalts um 1/10 der jeweiligen Dienstbezüge für die Dauer von vier Jahren festgelegt.

Mit Urteil vom 9. Juni 1988 – 1 Ca 189/89 – hat das Arbeitsgericht den Bescheid vom 25. Oktober 1988 aufgehoben. Nach Rechtskraft des Urteils hat die Beklagte wegen desselben Sachverhalts am 27. Juli 1989 einen neuen Disziplinarbescheid erlassen, wonach das Gehalt des Klägers “als Disziplinarmaßnahme wegen eines Dienstvergehens” um 1/10 der Dienstbezüge für die Dauer von 20 Monaten gekürzt wurde.

Diese Maßnahme hält der Kläger ebenfalls für rechtsunwirksam. Er bestreitet nicht, verschiedentlich in dem genannten Zeitraum Pausenzeiten nicht in das Zeiterfassungsgerät eingegeben zu haben; jedoch wendet er sich aus verschiedenen rechtlichen Gründen gegen das Maß der verhängten Disziplinarmaßnahme. Insbesondere hat er geltend gemacht, bei der Verfügung der Disziplinarmaßnahme habe die Beklagte das seines Erachtens nach § 75 Abs. 1 Nr. 12 Nds. PersVG gegebene Mitbestimmungsrecht des Personalrats nicht beachtet. Er hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 27. Juli 1989 aufzuheben.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hält die Verfügung einer Disziplinarmaßnahme gegen den Kläger für rechtswirksam und vertritt die Auffassung, daß die Festsetzung einer Disziplinarmaßnahme nicht dem Mitbestimmungsrecht des Personalrats unterliege.

Das Arbeitsgericht hat den Disziplinarbescheid der Beklagten vom 27. Juli 1989 aufgehoben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß festgestellt wird, die Verfügung einer Disziplinarmaßnahme mit Bescheid vom 27. Juli 1989 sei rechtsunwirksam.

Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter, während der Kläger um Zurückweisung der Revision bittet.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet.

I. Die Klage ist zulässig.

1. Die Gerichte für Arbeitssachen sind für den vorliegenden Rechtsstreit zuständig. DO-Angestellte werden wie die übrigen Arbeitnehmer aufgrund eines privatrechtlichen Arbeitsvertrages beschäftigt. Damit erweist sich ihr Dienstverhältnis zu ihrer Anstellungskörperschaft als ein solches bürgerlich-rechtlicher Art mit der Folge, daß für Streitigkeiten aus diesem Rechtsverhältnis der Zivilrechtsweg gegeben ist und gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a ArbGG die Arbeitsgerichte sachlich zuständig sind (statt vieler BAGE 31, 381, 383 f. = AP Nr. 49 zu § 611 BGB Dienstordnungs-Angestellte; BAGE 39, 76, 80 = AP Nr. 53 zu § 611 BGB Dienstordnungs-Angestellte, zu I der Gründe).

2. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht den Antrag des Klägers dahin ausgelegt, daß die Feststellung der Rechtsunwirksamkeit der Verfügung einer Disziplinarmaßnahme begehrt wird. Dies ergibt sich aus dem Antrag in Verbindung mit der Klagebegründung. Mit diesem Antrag verlangt der Kläger die Feststellung eines Rechtsverhältnisses. Rechtsverhältnis ist die rechtlich geregelte Beziehung von einer Person zu einer anderen (vgl. statt vieler Zöller, ZPO, 17. Aufl., § 256 Rz 3, m.w.N.). Mit der Feststellung der Rechtswirksamkeit oder -unwirksamkeit der Disziplinarmaßnahme wird u.a. geklärt, ob die Beklagte dem Kläger für die umstrittene Zeit das volle Gehalt schuldet oder ein Zehntel abziehen darf. Für diesen Antrag besteht das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse, weil die Parteien gerade über die Rechtswirksamkeit dieses Disziplinarbescheids streiten. Dementsprechend hat der Senat im Urteil vom 25. Mai 1982 (BAGE 39, 76 = AP Nr. 53 zu § 611 BGB Dienstordnungs-Angestellte) den Antrag eines Arbeitnehmers auf Feststellung der Rechtsunwirksamkeit eines Verweises ohne weitere Problematisierung für zulässig gehalten. Auch der Siebte Senat hat im Urteil vom 28. April 1982 (BAGE 39, 32 = AP Nr. 4 zu § 87 BetrVG 1972 Betriebsbuße) für die Feststellung der Rechtsunwirksamkeit eines Dienststrafbescheids ein rechtliches Interesse im Sinne von § 256 Abs. 1 ZPO bejaht.

II. Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht angenommen, die Klage sei begründet, so daß die Revision der Beklagten zurückzuweisen war.

1. Entgegen der Auffassung der Beklagten war das Urteil des Landesarbeitsgerichts nicht deshalb aufzuheben, weil ein absoluter Revisionsgrund vorliegt. Die Beklagte rügt zu Unrecht, das angefochtene Urteil sei nicht mit Gründen versehen (§ 551 Nr. 7 ZPO). Richtig ist, daß das am 23. November 1990 verkündete Urteil nicht innerhalb von fünf Monaten nach der Verkündung vollständig abgefaßt und von den beteiligten Richtern unterschrieben zur Geschäftsstelle gelangt ist. Dieses ergibt sich mittelbar aus dem Ausfertigungsvermerk, der vom 17. Juni 1991 datiert. Daraus folgt aber noch kein absoluter Revisionsgrund. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist eine Entscheidung nicht mehr mit Gründen versehen, wenn zwischen Verkündung des Urteils und der Zustellung der Entscheidung mehr als ein Jahr liegt (vgl. BAGE 38, 55, 57 f. = AP Nr. 1 zu § 68 ArbGG 1979). Wird diese äußerste Frist nicht überschritten, kann nicht zwingend angenommen werden, bei der Abfassung der schriftlichen Entscheidungsgründe sei dem Gericht das Ergebnis der letzten mündlichen Verhandlung nicht mehr geläufig und gegenwärtig gewesen. Ein absoluter Revisionsgrund kann dann nur vorliegen, wenn sich aus besonderen Umständen ergibt, daß die Entscheidungsgründe nicht mehr das eigentliche Beratungsergebnis wiedergeben (BAG Urteil vom 15. August 1984, BAGE 46, 163 = AP Nr. 8 zu § 1 KSchG 1969, zu I 3 der Gründe, m.w.N.; Germelmann/Matthes/Prütting, ArbGG, 1990, § 73 Rz 37). Dies wird von der Revision im Streitfall nicht behauptet.

2. Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht angenommen, die mit Bescheid vom 27. Juli 1989 verfügte Disziplinarmaßnahme der Beklagten sei rechtsunwirksam, da die Beklagte das Mitbestimmungsrecht des Personalrats nach § 75 Abs. 1 Nr. 12 Nds. PersVG nicht beachtet habe.

a) Nach § 75 Abs. 1 Nr. 12 Nds. PersVG hat der Personalrat mitzubestimmen bei der Regelung der Ordnung in der Dienststelle und des Verhaltens der Bediensteten. Für die inhaltsgleiche Vorschrift des § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG hat der Senat in ständiger Rechtsprechung (BAGE 27, 366 = AP Nr. 1 zu § 87 BetrVG 1972 Betriebsbuße; BAGE 39, 32 = AP Nr. 4 zu § 87 BetrVG 1972 Betriebsbuße und BAGE 63, 169 = AP Nr. 12 zu § 87 BetrVG 1972 Betriebsbuße) entschieden, daß das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei den Fragen der Ordnung des Betriebs und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb das Recht beinhalte, sowohl bei der Aufstellung einer Bußordnung als auch bei der Verhängung einer Betriebsbuße im Einzelfall mitzubestimmen.

b) Vorliegend hat das Landesarbeitsgericht im Ergebnis zu Recht angenommen, die Mitbestimmung bei der Aufstellung einer Bußordnung sei ausgeschlossen, weil hierfür eine gesetzliche Regelung bestehe (§ 75 Abs. 1 Eingangshalbsatz Nds. PersVG).

Die Disziplinarordnung des § 29 der DO der Beklagten ist ein Gesetz im Sinne von § 75 Abs. 1 Eingangshalbsatz Nds. PersVG. Dieses ist wirksam zustande gekommen. § 29 DO beruht auf der den Krankenkassen in §§ 351, 352 RVO erteilten gesetzlichen Ermächtigung, die Folgen der Nichterfüllung von Pflichten ihrer DO-Angestellten zu regeln. Als autonome Satzung bedarf die DO nicht der Zustimmung des Personalrats. Das hat der Senat ausführlich im Urteil vom 25. Mai 1982 (BAGE 39, 76 = AP Nr. 53 zu § 611 BGB Dienstordnungs-Angestellte) für die für Berufsgenossenschaften geltende Parallelvorschrift des § 699 RVO begründet. Bei dem Erlaß einer DO handelt es sich um einen Akt rechtsetzender Gewalt, die den Sozialversicherungsträgern als Selbstverwaltungskörperschaften zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben vom Staat verliehen worden ist. Die Dienstordnungen werden gemäß § 33 Abs. 1 SGB IV von der Vertreterversammlung als dem für die Gesetzgebung im Selbstverwaltungsbereich der Sozialversicherungsträger zuständigen Organ beschlossen und bedürfen der Genehmigung nach § 700 Abs. 2 RVO bzw. § 355 Abs. 2 Satz 1 RVO. Die Mitbestimmungsrechte des Personalrats nach den Personalvertretungsgesetzen begründen keine gleichberechtigte Teilhabe des Personalrats an der autonomen Satzungsgewalt der Sozialversicherungsträger (vgl. dazu auch Wolber, PersV 1983, 275, 276; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. 1, S. 162 ff.; Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand: Juli 1990, § 699 Rz 2; Kasseler Kommentar-Peters, § 351 Rz 7 f.). Weiter hat der Senat in dem Urteil vom 25. Mai 1982 entschieden, daß unter einer “gesetzlichen Regelung” im Sinne von § 75 Abs. 3 Eingangshalbsatz BPersVG nicht nur ein formelles Gesetz, sondern jedes Gesetz im materiellen Sinne zu verstehen ist. Deshalb ist auch eine nach den Vorschriften der RVO erlassene Dienstordnung als autonomes Satzungsrecht einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft eine insoweit das Mitbestimmungsrecht des Personalrats ausschließende gesetzliche Regelung.

c) Das Mitbestimmungsrecht ist aber nur insoweit ausgeschlossen, als das Gesetz den Arbeitgeber bindet, also dem Arbeitgeber jeden Regelungsspielraum entzieht (Senatsbeschlüsse vom 18. April 1989, BAGE 61, 296 = AP Nr. 18 zu § 87 BetrVG 1972 Tarifvorrang) und vom 6. November 1990 (– 1 ABR 88/89 – zur Veröffentlichung vorgesehen). Nur wenn der Arbeitgeber ohne Entscheidungsspielraum Gesetz oder Tarifvertrag anwenden muß, fehlt das Bedürfnis für eine gleichberechtigte Teilhabe des Personalrats an der Entscheidung, dem § 75 Abs. 1 Eingangshalbsatz Nds. PersVG ebenso wie § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG Rechnung trägt.

d) Bei dem Ausspruch von Dienstbußen aufgrund von § 29 DO steht dem Personalrat nach dem Nds. PersVG ebenso wie dem Betriebsrat sei der Verhängung einer Betriebsbuße aufgrund der Betriebsbußenordnung ein Mitbestimmungsrecht zu.

aa) Allerdings umfaßt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der entsprechende Mitbestimmungstatbestand des § 75 Abs. 3 Nr. 15 BPersVG nur generelle Regelungen und nicht auch Disziplinarmaßnahmen im Einzelfall (BVerwG Beschluß vom 6. Februar 1979 – 6 P 20.78 – Buchholz 238.3.A, § 75 BPersVG Nr. 9 = PersV 1980, 421; Beschluß vom 23. August 1982 – 6 P 45.79 – PersV 1983, 375; ebenso schon zu § 66 Abs. 1 Buchst. g PersVG 1955: BVerwG Beschluß vom 11. November 1960 – VII P 9.59 – AP Nr. 2 zu § 66 PersVG). Demgegenüber hat das Bundesarbeitsgericht zu § 66 PersVG 1955 entschieden, daß der Personalrat auch bei der Verhängung von Disziplinarmaßnahmen im Einzelfall ein Mitwirkungsrecht hat (Urteil vom 25. Februar 1966 – 4 AZR 179/63 – AP Nr. 8 zu § 66 PersVG). Der Senat hat in der Entscheidung vom 25. Mai 1982 diese Frage offengelassen.

bb) Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann nicht auf § 75 Abs. 1 Nr. 12 Nds. PersVG übertragen werden. Das Bundesverwaltungsgericht hat seine Auffassung, dem Personalrat stehe nur ein Mitbestimmungsrecht bei der Aufstellung der Disziplinarordnung, nicht aber beim Erlaß der einzelnen Disziplinarmaßnahme zu, vor allem mit dem Wortlaut des § 75 Abs. 3 Nr. 15 BPersVG begründet (BVerwG Beschluß vom 23. August 1982 – 6 P 45.79 – PersV 1983, 375, m.w.N. aus der Rechtsprechung des BVerwG), wonach der Personalrat bei der Regelung der Ordnung in der Dienststelle und des Verhaltens der Beschäftigten mitzubestimmen hat. Dies sei aber etwas wesentlich anderes – nämlich weniger –, als wenn der Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG in Fragen der Ordnung des Betriebs und des Verhaltens der Arbeitnehmer mitzubestimmen habe. Eine Regelung liegt nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts (aaO) begrifflich nur vor, wenn für die Ordnung in der Dienststelle oder das Verhalten der Beschäftigten Vorschriften aufgestellt werden. Diese Ansicht setzt voraus, daß das Gesetz – wie § 75 Abs. 3 Eingangshalbsatz BPersVG – die Möglichkeit zur Aufstellung einer Disziplinarordnung durch Abschluß einer Dienstvereinbarung gibt. Einen anderen Sinn muß das Beteiligungsrecht des Personalrats bei gleichem Wortlaut haben, wenn das Gesetz die Aufstellung einer Disziplinarordnung durch Abschluß einer Dienstvereinbarung gerade ausschließt.

Nach § 75 Abs. 1 Nr. 12 Nds. PersVG hat der Personalrat zwar auch mitzubestimmen bei der “Regelung der Ordnung in der Dienststelle und des Verhaltens der Bediensteten”, aber der Abschluß einer Dienstvereinbarung über diese Angelegenheit wird in § 81 Abs. 1 Nds. PersVG gerade ausgeschlossen. Dienstvereinbarungen dürfen nur über die in § 75 Abs. 1 Nr. 1 bis 7 Nds. PersVG genannten Fragen abgeschlossen werden. Dann muß das Mitbestimmungsrecht über die Regelung der Ordnung der Dienststelle einen anderen Inhalt haben als den der Aufstellung von Vorschriften über die Ordnung der Dienststelle und über das Verhalten der Beschäftigten. Dieser Inhalt erschließt sich aus einer Gesamtbetrachtung der mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten von § 75 Abs. 1 Nr. 8 bis 14 Nds. PersVG, für die der Abschluß von Dienstvereinbarungen ausgeschlossen ist. Hierbei handelt es sich bis auf die “Regelung der Ordnung in der Dienststelle …” durchweg um Einzelmaßnahmen, für die eine generelle Regelung zum Teil nicht in Betracht kommt, zum Teil fernliegt. Es handelt sich im einzelnen um die Gewährung von Gehaltsvorschüssen und Unterstützungen, die Zuweisung von Wohnungen, die Zuweisung von Dienst- oder Pachtland, die Bestellung von Vertrauens-, Vertrags- und Betriebsärzten, Maßnahmen zur Verhütung von Dienst- und Arbeitsunfällen sowie Maßnahmen zur Abwendung von Belastungen, die sich für Bedienstete aus der Einführung neuer Arbeitsmethoden oder aus “sonstigen Maßnahmen zur Hebung der Arbeitsleistung …” ergeben. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich, daß der Gesetzgeber auch hinsichtlich der Regelung der Ordnung in der Dienststelle und des Verhaltens der Arbeitnehmer ein Mitbestimmungsrecht für Einzelmaßnahmen gewährt.

e) Vorliegend ist dieses Mitbestimmungsrecht nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Disziplinarordnung, die den Bußkatalog enthält, satzungsgemäß erlassen worden ist, denn diese beläßt dem Arbeitgeber einen erheblichen Teil seines Bestimmungsrechts für die einzelne Disziplinarmaßnahme: Er kann aufgrund der Disziplinarordnung bei einem Verstoß gegen die betriebliche Ordnung von einem Verweis bis zur Entfernung aus dem Dienst Disziplinarmaßnahmen von sehr unterschiedlichem Gewicht erlassen. Das Mitbestimmungsrecht ist aber nur ausgeschlossen, wenn aufgrund des Gesetzes im Sinne von § 75 Abs. 1 Eingangshalbsatz Nds. PersVG der Dienststellenleiter ohne Entscheidungsspielraum dieses Gesetz anzuwenden hat. Verbleibt bei Anwendung des Gesetzes – wie im vorliegenden Falle – dem Arbeitgeber ein ganz erheblicher Entscheidungsspielraum, besteht insoweit auch noch ein Bedürfnis nach Mitbestimmung, so daß das Mitbestimmungsrecht nicht ausgeschlossen ist.

Da die Beklagte dieses Mitbestimmungsrecht nicht beachtet hat, ist der Eingriff in die Rechtsstellung des Klägers durch die Disziplinarmaßnahme rechtsunwirksam (BAGE 58, 156 = AP Nr. 16 zu § 87 BetrVG 1972 Altersversorgung und Senatsurteil vom 20. August 1991 – 1 AZR 326/90 – EzA § 87 BetrVG 1972 Betriebliche Lohngestaltung Nr. 29).

Dementsprechend hat das Landesarbeitsgericht die Berufung der Beklagten gegen das der Klage stattgebende Urteil des Arbeitsgerichts zu Recht zurückgewiesen, so daß auch die Revision mit der Kostenfolge aus § 97 ZPO zurückzuweisen war.

 

Unterschriften

Dr. Kissel, Matthes, Dr. Weller, Gnade, Heisler

 

Fundstellen

Haufe-Index 838554

NZA 1992, 1144

RdA 1992, 351

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