Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifvertraglicher Freistellungs- und Entgeltfortzahlungsanspruch für die Teilnahme an Zusammenkünften gewerkschaftlicher Art
Leitsatz (amtlich)
Eine tarifvertragliche Bestimmung, die einen Anspruch auf Arbeitsbefreiung unter Fortzahlung der Vergütung für die Teilnahme an Zusammenkünften gewerkschaftlicher Art einräumt, soweit der Teilnahme nicht zwingende dienstliche Gründe entgegenstehen, kann diesen Anspruch auch einem Arbeitnehmer für die Zeit seiner Teilnahme an Tarifverhandlungen als Mitglied einer gewerkschaftlichen Tarifkommission geben. Gegen die Wirksamkeit einer solchen Bestimmung bestehen keine rechtlichen Bedenken.
Normenkette
Manteltarifvertrag für das Institut für Rundfunktechnik GmbH Nr. 362.1; TVG § 1 Tarifverträge: Rundfunk
Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 21. März 1997 – 1 Sa 994/96 – aufgehoben.
2. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 7. Mai 1996 – 12 Ca 12960/95 – abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.985,25 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem Nettobetrag seit dem 2. August 1995 sowie weitere 1.169,45 DM netto nebst 4 % Zinsen seit dem 1. März 1996 zu zahlen.
3. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger Entgelt für Zeiten geschuldet hat, in denen er als Gewerkschaftsvertreter an Tarifverhandlungen teilgenommen hat.
Der bei der Beklagten für ein monatliches Gehalt von etwa 10.000,00 DM beschäftigte Kläger ist Mitglied der IG Medien, Druck und Papier. Er ist für diese Gewerkschaft ehrenamtlich tätig. Unter anderem ist er Mitglied im Tarifausschuß des Bayerischen Rundfunks, des Tarifausschusses öffentlich-rechtlicher Rundfunk und der von seiner Gewerkschaft beauftragte Fachmann für die betriebliche Altersversorgung im Gesamtbereich der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD).
Gesellschafter der Beklagten sind öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten in Deutschland, der Schweiz und Österreich.
In den Monaten März bis Juni 1995, für die der Kläger sein volles Gehalt erhalten hat, hatte der Kläger während 37,5 Stunden seiner Arbeitszeit für seine Gewerkschaft an Tarifverhandlungen teilgenommen. In der Abrechnung für Juli 1995 behielt die Beklagte deshalb einen Betrag von 1.985,25 DM brutto ein. Wegen erneuter Teilnahmen des Klägers an Tarifverhandlungen in der Folgezeit zog die Beklagte in der Abrechnung für März 1996 weitere 1.169,45 DM netto vom Gehalt ab.
Der Kläger hat den Standpunkt eingenommen, die Beklagte dürfe diese Beträge nicht von seinem Gehalt einbehalten. Sie sei verpflichtet gewesen, ihm während seiner Teilnahme an Tarifverhandlungen das laufende Gehalt weiter zu zahlen. Der Kläger hat seine Forderung auf einen Manteltarifvertrag (MTV) gestützt, den die Beklagte mit einer Rechtsvorgängerin der IG Medien, Druck und Papier im Jahre 1975 abgeschlossen hat. In dessen Nr 362.1 heißt es u.a.:
„Ferner hat der Arbeitnehmer Anspruch auf Arbeitsbefreiung unter Fortzahlung der Vergütung für die Dauer der notwendigen Abwesenheit:
zur Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten; 362.11
zur Teilnahme an Zusammenkünften gewerkschaftlicher Art, sofern nicht zwingende dienstliche Gründe entgegenstehen. 362.12
…”
Zu der Regelung in Nr. 362.12 enthält der Manteltarifvertrag eine Protokollnotiz mit dem folgenden Wortlaut:
„Unter Zusammenkünften gewerkschaftlicher Art werden hierbei solche Zusammenkünfte verstanden, die von gewerkschaftlichen Organen oder Gliederungen zu gewerkschaftlichen Zwecken veranstaltet werden.”
Der Kläger ist der Auffassung, er habe nach diesen Bestimmungen einen tarifvertraglichen Anspruch auf Arbeitsbefreiung und auf Fortzahlung der Vergütung gehabt. Hierfür spreche auch die langjährige Praxis der Beklagten. Sie habe sowohl den Vorgänger des Klägers als auch den Kläger selbst als auch sonstige bei ihr beschäftigte Gewerkschaftsmitglieder seit 1971 für Tarifverhandlungen unter Fortzahlung des Arbeitsentgeltes von der Arbeit freigestellt. Die Klage sei deshalb jedenfalls wegen dieser betrieblichen Übung begründet.
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen an den Kläger 1.985,25 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem entsprechenden Nettobetrag seit dem 2. August 1995 sowie 1.169,45 DM netto nebst 4 % Zinsen seit dem 1. März 1996 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, der Anspruch könne nicht auf den Tarifvertrag gestützt werden. Über die Arbeitsfreistellungen zu Tarifverhandlungen sei in jedem Einzelfall entschieden worden. In der Vergangenheit sei die Vergütung für diese Zeiten irrtümlich fortgezahlt worden. 1995 sei der Kläger weit häufiger als zuvor wegen der Teilnahme an Tarifverhandlungen der Arbeit ferngeblieben. Außerdem sei verstärkt ein sparsamer Umgang mit den Rundfunkgebühren der Bürger gefordert worden. Daraufhin habe der Justiziar des Bayerischen Rundfunks die Rechtslage überprüft. Er sei zu dem Ergebnis gekommen, daß dem Kläger für Tarifverhandlungen keine bezahlte Freizeit zustehe. Ein Anspruch aus betrieblicher Übung bestehe nicht.
Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger seinen Sachantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers hat Erfolg. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist die Klage begründet. Der Kläger kann von der Beklagten verlangen, daß sie die einbehaltenen Restgehälter für Juli 1995 und März 1996 auszahlt. Die Gehaltsansprüche des Klägers sind insoweit nicht durch Aufrechnung nach § 389 BGB erloschen. Die Beklagte hatte keinen Gegenanspruch aus § 812 BGB wegen Gehaltsüberzahlung, mit dem sie wirksam hätte aufrechnen können. Sie hat nicht ohne Rechtsgrund geleistet. Der Kläger hatte während der Zeiten, in denen die Beklagte ihn für die Teilnahme an Tarifverhandlungen auf Seiten der Industriegewerkschaft Medien, Druck und Papier von der Arbeitspflicht befreit hatte, nach Nr. 362.1 MTV Anspruch auf Fortzahlung der Vergütung.
I. Auch die Teilnahme an Tarifverhandlungen auf Seiten einer Gewerkschaft ist eine Teilnahme an Zusammenkünften gewerkschaftlicher Art, die nach Nr. 362.12 MTV einen tarifvertraglichen Anspruch auf Arbeitsbefreiung unter Fortzahlung der Vergütung gibt.
1. Für dieses Verständnis spricht schon der Wortlaut der tariflichen Bestimmung.
a) Die Tarifvertragsparteien haben mit dem Begriff Zusammenkunft gewerkschaftlicher Art die denkbar weiteste Formulierung gewählt, um ein von Seiten der Gewerkschaft veranlaßtes Zusammenkommen mehrerer Menschen zu umschreiben. Hierzu gehören formlose Treffen und Begegnungen ebenso wie förmlich einberufene Versammlungen oder Sitzungen (vgl. Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 1986, S. 1482).
Zu solchen Zusammenkünften gewerkschaftlicher Art gehört auch das Treffen von Gewerkschaftsmitgliedern in Verhandlungs- oder Beratungskommissionen aus Anlaß von Tarifvertragsverhandlungen. Fachkompetente haupt- und ehrenamtliche Funktionäre treffen sich hier auf Veranlassung von Vorstand oder Bezirksleitung der zuständigen Gewerkschaft. Sie beraten miteinander über die gewerkschaftlichen Positionen gegenüber dem Verhandlungspartner auf Arbeitgeberseite und legen ggf. in getrennten Runden das weitere Vorgehen in der Verhandlung nach dem Erreichen von Zwischenergebnissen fest. Daß daneben bei den eigentlichen Verhandlungen auch der tarifliche Gegenspieler anwesend ist, ändert an der gewerkschaftlich veranlaßten Zusammenkunft der Gewerkschaftsmitglieder nichts.
Die Protokollnotiz, welche die tarifliche Regelung in Nr. 362.12 MTV erläutert, steht diesem Normverständnis nicht entgegen. Zwar werden Tarifverhandlungen nicht allein „von gewerkschaftlichen Organen oder Gliederungen zu gewerkschaftlichen Zwecken veranstaltet”. Das verlangt die Protokollnotiz aber auch nicht. Es genügt, daß die Tarifverhandlungen jedenfalls auch von der zuständigen Gewerkschaft „veranstaltet” werden. Sie dienen der grundlegenden Aufgabe jeder Gewerkschaft, entsprechend dem Auftrag des Art. 9 Abs. 3 GG Vereinbarungen zur Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu treffen. Die Zusammenkunft der sich zu der konkreten Tarifverhandlung treffenden Gewerkschaftsmitglieder ist ausschließlich gewerkschaftlich veranlaßt. Die Gewerkschaft entscheidet durch ihre Organe darüber, wer wann und mit welcher Aufgabenstellung Mitglied ihrer Tarifkommission ist.
b) Der Hinweis des Landesarbeitsgerichts auf § 52 Abs. 4 Unterabs. 1 und 2 BAT rechtfertigt kein engeres Normverständnis.
Es ist schon sehr fraglich, ob eine tarifliche Regelung, die andere Tarifvertragsparteien für einen anderen Bereich des Arbeitslebens getroffen haben, bei einer Tarifauslegung überhaupt hilfreich sein kann. Dies gilt gerade auch für die Auslegung von Tarifverträgen im Bereich der Medien, die traditionell eigenständig konzipiert sind.
Nimmt man gleichwohl einen Vergleich von Nr. 362.12 MTV mit § 52 Abs. 4 BAT vor, dann spricht ein solcher Vergleich nicht für einen engen, sondern für einen weiten Anwendungsbereich der hier einschlägigen tariflichen Bestimmung. In Unterabs. 1 des § 52 Abs. 4 BAT haben die Tarifvertragsparteien den gewählten Vertretern der Vorstände der Gewerkschaften verschiedener gewerkschaftlicher Organisationseinheiten einen Anspruch auf zeitlich begrenzte Freistellung unter Fortzahlung der Vergütung zur Teilnahme an Tagungen eingeräumt, sofern dem nicht dringende dienstliche oder betriebliche Interessen entgegenstehen. Unterabs. 2 ordnet demgegenüber ohne Einschränkung eine Fortzahlung der Vergütung für den Fall an, daß eine vertragschließende Gewerkschaft Arbeitnehmer zur Teilnahme an Tarifverhandlungen angefordert hat, soweit diese Verhandlungen mit den Tarifvertragsparteien des Bundes-Angestelltentarifvertrages auf Arbeitgeberseite geführt werden. Die Parteien dieses Tarifvertrages haben sowohl den Kreis der Berechtigten als auch den der hinreichenden Veranlassungen eng gezogen. Nr. 362.12 MTV wird demgegenüber durch eine denkbar allgemeine Formulierung gekennzeichnet, die weder den berechtigten Personenkreis, noch die in Betracht kommenden Veranstaltungen eingrenzt.
2. Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts sprechen auch systematische Erwägungen für einen weites Verständnis der tariflichen Bestimmung.
a) Nach Auffassung des Arbeitsgerichts ist Nr. 362.1 MTV als Ausnahmevorschrift gegenüber § 616 BGB, über den sie hinausgehe, zu verstehen. Aus dem Ausnahmecharakter der Bestimmung ergebe sich die Notwendigkeit, sie eng auszulegen.
Dem ist nicht zu folgen. Das Bundesarbeitsgericht hat die vom Arbeitsgericht angezogene Regel, wonach die erweiternde Auslegung einer Ausnahmebestimmung grundsätzlich der Regelungsabsicht des Normgebers widerspricht, stets nur als Auslegungsregel innerhalb eines Normensystems verstanden (BAG Urteil vom 25. Oktober 1995 – 4 AZR 478/94 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Einzelhandel Nr. 57; vgl. auch Larenz, Methodenlehre des Rechtswissenschaft, 6. Aufl., S. 355, 356). Tarifvertragsparteien, die eine allgemeine Regel aufstellen, wollen im Zweifel mit einer Ausnahmebestimmung eben auch nur den speziell genannten Fall aus der von ihnen allgemein gewollten Regel ausnehmen. Dasselbe gilt für den Gesetzgeber. Die wiedergegebene Auslegungsregel kann aber nicht auf Bestimmungen angewendet werden, in denen die Tarifvertragsparteien zugunsten der Arbeitnehmer ein vom Gesetz abweichendes Regelungssystem geschaffen haben. Daß die gesetzliche Bestimmung zu einer solchen Vereinbarung im Regel-/Ausnahmeverhältnis steht, ist nur dann anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien die gesetzliche Bestimmung ausdrücklich in ihr Tarifwerk übernommen und durch die Herstellung eines entsprechenden Regelungszusammenhangs den Ausnahmecharakter der begünstigenden Norm deutlich gemacht haben. Dies ist im Falle der Regelung in Nr. 362.12 MTV nicht geschehen.
b) Die Tarifsystematik spricht dafür, die Teilnahme an Tarifverhandlungen zu den Zusammenkünften gewerkschaftlicher Art zu zählen. Die Tarifvertragsparteien haben in Nr. 362.1 MTV als Anlaß für einen Anspruch auf Arbeitsbefreiung unter Fortzahlung der Vergütung die Erfüllung staatsbürgerliche Pflichten und die Teilnahme an Zusammenkünften gewerkschaftlicher Art nebeneinander gestellt. Der Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten ähneln am ehesten solche Zusammenkünfte gewerkschaftlicher Art, die in besonderer Weise der gesamtgesellschaftlichen Aufgabenstellung der Gewerkschaften entsprechen. Die Teilnahme an von Art. 9 Abs. 3 GG geforderten Verhandlungen zur Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen liegt näher an der Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten als etwa die Teilnahme an einer vom Kreisvorstand einer Gewerkschaft einberufenen Versammlung zur turnusmäßigen Neuwahl des Vorstandes oder an einer vergleichbaren Veranstaltung.
3. Das Auslegungsergebns entspricht auch dem im Tarifvertrag zum Ausdruck gebrachten Sinn und Zweck der Regelung. Wenn Tarifvertragsparteien überhaupt übereinstimmend eine Befreiung von der Arbeitspflicht unter Fortzahlung der Bezüge für gewerkschaftliche Zwecke festlegen, dann im Zweifel eher für solche Zwecke, die im gemeinsamen Interesse liegen, als für stärker konfrontative Ziele.
Der Senat folgt in diesem Zusammenhang nicht der Beurteilung des Landesarbeitsgerichts, eine Entgeltfortzahlung an Arbeitnehmer, die auf Gewerkschaftsseite an Tarifverhandlungen teilnehmen, wäre deshalb ungewöhnlich, weil der Arbeitgeber damit den gewerkschaftlichen Gegenspieler in einem Bereich finanziere, in dem sich Gewerkschaft und Arbeitgeber in einem echten Interessenkonflikt mit der jederzeitigen Möglichkeit eines Arbeitskampfes gegenübertreten. Zwar müssen Tarifverhandlungen häufig unter dem Druck möglicher Arbeitskämpfe geführt werden. Sie dienen jedoch dazu, möglichst ohne Arbeitskampf die gegensätzlichen Interessen zum Ausgleich zu bringen. Die Verfassung stellt die Tarifvertragsparteien vor die gemeinsame Aufgabe, privatautonom einvernehmliche Lösungen zu finden.
4. Die weite Auslegung von Nr. 362.12 MTV wird durch die mehr als 20-jährige Praxis der Beklagten bestätigt. Nach übereinstimmendem Vortrag beider Parteien wurden Arbeitnehmer während dieser Zeit unter Fortzahlung der Vergütung für die Teilnahme an Tarifverhandlungen freigestellt.
Zwar liefert eine nach Abschluß des Tarifvertrages entstehende tarifliche Übung nur einen Hinweis darauf, wie die Tarifvertragsparteien den Tarifvertrag bei Tarifschluß verstanden haben (Wank in Wiedemann, TVG, 6. Aufl., § 1 Rn. 807, m.z.w.N.). Entspricht eine solche tarifliche Übung aber einem nach Wortwahl, Systematik sowie Sinn und Zweck der tariflichen Bestimmung naheliegenden Tarifinhalt, dann unterstreicht sie die Richtigkeit der nach den allgemeinen Regeln vorgenommen Auslegung. Dies gilt um so mehr, wenn der Arbeitgeber den Tarifvertrag selbst mit abgeschlossen hat und die Tarifanwendung nicht stereotyp oder aufgrund einer einmaligen Umsetzungsentscheidung erfolgt ist, sondern in jedem Einzelfall auf eine Prüfung und Einzelfallentscheidung zurückgegangen ist, wie dies die Beklagte vorgetragen hat.
II. Nr. 362.12 MTV ist mit dem festgestellten Inhalt rechtswirksam. Die Vorschrift verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Mit ihr wird weder die Grenze tariflicher Rechtsetzungsbefugnis noch der Grundsatz der Gegnerunabhängigkeit noch der Gleichheitssatz verletzt.
1. Eine tarifliche Regelung, die sämtlichen Arbeitnehmern einen Anspruch auf Befreiung von der Arbeitspflicht unter Fortzahlung des Arbeitsentgeltes für den Fall einräumt, daß sie an Zusammenkünften gewerkschaftlicher Art teilnehmen sofern dem betriebliche Belange nicht entgegenstehen, ist eine Inhaltsnorm i.S.v. § 1 Abs. 1 TVG. Sie regelt die Rechte und Pflichten der Arbeitnehmer im Arbeitsverhältnis.
Eine solche Regelung könnte auch für allgemeinverbindlich erklärt werden. Es kann deshalb dahinstehen, ob diese Möglichkeit Wirksamkeitsvoraussetzung für eine tarifvertragliche Inhaltsnorm ist, wie insbesondere Bulla (BB 1975, 889, 892) im Zusammenhang mit tariflichen Sonderbestimmungen für gewerkschaftliche Vertrauensleute gemeint hat (dagegen Wiedemann, TVG, 6. Aufl., Einleitung Rn. 447).
Eine Regelung wie Nr. 362.12 MTV bleibt auch im übrigen innerhalb der Tarifmacht. Sie wird nicht durch allgemeine Zumutbarkeitserwägungen begrenzt. Die Beklagte kann sich im übrigen schon deshalb nicht auf die Unzumutbarkeit einer solchen Bestimmung berufen, weil sie als Partei des Tarifvertrages bei Tarifabschluß selbst entscheiden konnte, welche Belastungen für sie zumutbar sind und welche nicht. An diese Entscheidung bleibt sie gebunden (vgl. Wiedemann, TVG, 6. Aufl., Einleitung Rn. 447).
2. Nr. 362.12 MTV verstößt nicht gegen den Grundsatz der Gegnerunabhängigkeit. Er besagt, daß eine Koalition, die die Arbeits- und Wirtschaftbedingungen ihrer Mitglieder durch Abschluß von Tarifverträgen wahren und fördern will, dem tariflichen Gegenspieler gegenüber unabhängig genug sein muß, um die Interessen ihrer Mitglieder wirksam und nachhaltig vertreten zu können. Die Gewerkschaft muß über ihre eigene Organisation und ihre Willensbildung selbst entscheiden können (BVerfGE 58, 233, 247 = AP TVG § 2 Nr. 31, zu B I 1 der Gründe; BAG 17. Februar 1998 – 1 AZR 364/97 – AP GG Art. 9 Nr. 87, zu II 1 b bb der Gründe).
Die Gegnerunabhänigkeit wird deshalb nicht schon dadurch verletzt, daß das zwischen den Tarifvertragsparteien bestehende Kräfteverhältnis irgendwie verändert wird. Erst dann, wenn durch personelle Verflechtungen, auf organisatorischem Weg oder durch wesentliche finanzielle Zuwendungen die eigenständige Interessenwahrnehmung der Tarifvertragspartei gefährdet wird, ist die Gegnerunabhängigkeit beeinträchtigt. Eine tarifvertragliche Bestimmung, die für alle Arbeitnehmer unter dem Vorbehalt, daß betriebliche Belange nicht entgegenstehen, für gewerkschaftliche Zusammenkünfte Freistellung unter Entgeltfortzahlung gewährt, ist nicht von solchem Gewicht, daß diese Voraussetzung erfüllt wäre.
3. Nr. 362.12 MTV verstößt auch nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Jeder bei der Beklagten beschäftigte Arbeitnehmer kann sich grundsätzlich auf die sich aus dieser Tarifbestimmung ergebenden Rechte berufen. Auch ein Arbeitnehmer, der nicht Mitglied einer Gewerkschaft ist, kann unter Befreiung von der Arbeitspflicht und Fortzahlung des laufenden Arbeitsentgeltes an Zusammenkünften gewerkschaftlicher Art teilnehmen. Dies gilt zwar nicht für alle Zusammenkünfte gewerkschaftlicher Art, insbesondere nicht für die Teilnahme an Tarifverhandlungen. Insoweit muß aber die besondere Rechts- und Pflichtenlage aus Art. 9 Abs. 3 GG berücksichtigt werden. Sie erlaubt es, den Mandatsträger einer Gewerkschaft ebenso wie denjenigen, der kraft Gesetzes zur Wahrnehmung staatbürgerlicher Aufgaben berufen ist, im notwendigen Umfang von Nachteilen aus solcher Aufgabenerfüllung freizuhalten. Es geht in Nr. 362.12 nicht um zusätzliche Leistungen, die Gewerkschaftsmitglieder erhalten sollen, sondern darum, daß notwendige gewerkschaftliche Aktivitäten während der Arbeitszeit nicht zu einer Arbeitsentgeltminderung führen.
III. Die Beklagte muß die von ihr nach alledem zu Unrecht einbehaltenen Beträge an den Kläger auszahlen. Ihre Verzinsungspflicht folgt §§ 284 Abs. 2, 288 Abs. 1 BGB. Die Gehaltszahlungen des Klägers waren zum Monatsersten fällig.
IV. Da die Beklagte im Rechtsstreit unterlegen ist, hat sie dessen Kosten nach § 91 ZPO zu tragen.
Unterschriften
Schmidt, Kremhelmer, Bepler, Dr. Offergeld, G. Hauschild
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 20.04.1999 durch Kaufhold, Regierungssekretärin als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 436219 |
DB 1999, 2318 |
FA 1999, 343 |
NZA 1999, 1339 |
SAE 2000, 81 |
ZTR 2000, 23 |
AP, 0 |
PersR 1999, 466 |
ZfPR 2000, 45 |
AUR 2000, 71 |