Entscheidungsstichwort (Thema)
Beschäftigungszeit. Anrechnung wegen unbilliger Härte
Leitsatz (amtlich)
Nach § 19 Abs. 1 Unterabs. 3 BAT-O gilt die vor dem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis liegende Zeit als Beschäftigungszeit, wenn die Nichtanrechnung eine unbillige Härte bedeuten würde. Einer “Anrechnung” durch eine Handlung des Arbeitgebers bedarf es nicht. Die genannte Vorschrift ist keine tarifliche Bestimmungsnorm (ebenso: BAGE 48, 35, 40 = AP Nr. 5 zu § 8 Soldatenversorgungsgesetz).
- Das Tarifmerkmal der Härte wird durch jede Nichtanrechnung erfüllt. Nicht erforderlich ist, daß die vor dem Ausscheiden liegende Zeit einen bestimmten Mindestumfang erreicht.
- Dafür, ob die Härte für den Angestellten unbillig wäre, kommt es auf die Abwägung der wechselseitigen Interessen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls an. Wertungsgesichtspunkte sind u.a. die heutigen verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Wertentscheidungen. Dies gilt auch für die Beurteilung einer Zeit, die in einem Arbeitsrechtsverhältnis in der ehemaligen DDR zurückgelegt wurde. Auf die gesellschaftspolitischen Vorstellungen, die dort herrschten, ist grundsätzlich nicht abzustellen.
- Hat das Berufungsgericht den in der Revisionsinstanz nur beschränkt nachprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriff der unbilligen Härte verkannt, kann das Revisionsgericht die Interessenabwägung selbst vornehmen, wenn die hierfür erforderlichen Tatsachen feststehen.
Normenkette
Tarifvertrag zur Anpassung des Tarifrechts – manteltarifliche Vorschriften – (BAT-O) vom 10. Dezember 1990 § 19 Abs. 1 Unterabsätze 1 u. 3; Übergangsvorschrift § 19 BAT-O Nr. 2 Buchst. c; BAT § 19 Abs. 1 Unterabs. 3, § 20 Abs. 3 S. 2; BGB § 315 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 2; MuSchG § 10 Abs. 1, § 6 Abs. 2; AGB-DDR § 246; BErzGG § 15; BRRG § 48a Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Klägerin verlangt die Anrechnung von Zeiten ihrer früheren Tätigkeit als Beschäftigungszeiten bei der Beklagten.
Die Klägerin war seit dem 1. August 1972 beim Rat des Stadtbezirks Dresden-Ost als Kindergärtnerin beschäftigt. Im Jahr 1984 gebar die Klägerin Zwillinge, die wenige Tage nach der Geburt verstarben. Am 14. Oktober 1986 gebar sie ein weiteres Kind. Vom 3. März 1987 bis zum 3. April 1988 war sie nach § 246 Arbeitsgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 16. Juni 1977 (AGB-DDR) von der Arbeit freigestellt. Auf eigenen Wunsch schloß die Klägerin mit dem Rat des Stadtbezirks Dresden-Ost am 6. April 1988 einen Aufhebungsvertrag mit Wirkung zum 13. April 1988, weil sie ihr Kind bis zum 3. Lebensjahr selbst betreuen wollte. Seit dem 1. Februar 1990 war die Klägerin aufgrund eines Arbeitsvertrages vom 13. Februar 1990 zunächst beim Rat des Stadtbezirks Dresden-West beschäftigt. Sie ist jetzt bei der Beklagten wieder als Kindergärtnerin tätig. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft beiderseitiger Tarifbindung der Tarifvertrag zur Anpassung des Tarifrechts – Manteltarifliche Vorschriften – (BAT-O) vom 10. Dezember 1990 Anwendung. Mit Schreiben vom 25. November 1992 teilte die Beklagte der Klägerin mit, daß ihre Beschäftigungszeit nach § 19 BAT-O am 1. Februar 1990 begonnen habe.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, auch die Zeit vom 1. August 1972 bis zum 13. April 1988 sei ihr als Beschäftigungszeit anzurechnen, weil die Nichtanrechnung eine unbillige Härte im Sinne von § 19 Abs. 1 Unterabs. 3 BAT-O darstellen würde. Bei der Anrechnung von Beschäftigungszeiten seien die heutigen gesellschaftspolitischen Wertungen maßgeblich, wie sie sich u.a. aus dem Bundeserziehungsgeldgesetz ergäben. Die Anrechnung habe auch nach einem Beschluß des Arbeitgeberkreises der BAT-Kommission vom 29. Mai 1989 zu erfolgen.
Die Klägerin hat beantragt,
festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, die Zeit vom 1. August 1972 bis 13. April 1988 als Beschäftigungszeit im Sinne von § 19 BAT-O anzuerkennen.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und der Auffassung der Klägerin widersprochen, die Nichtanrechnung stelle eine unbillige Härte dar. Die Klägerin sei freiwillig aufgrund persönlicher Umstände aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden. Der Beschluß des Arbeitgeberkreises der BAT-Kommission habe nur den Charakter einer Empfehlung.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter. Die Beklagte bittet um Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt unter Aufhebung des Urteils des Landesarbeitsgerichts zur Zurückweisung der Berufung der Beklagten.
I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Anrechnung der vor dem 13. April 1988 liegenden Zeiten als Beschäftigungszeit scheide nach § 19 Abs. 1 Unterabs. 3 BAT-O aus, weil die Klägerin auf eigenen Wunsch aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden sei und die Nichtanrechnung keine unbillige Härte darstelle. Bei der Beurteilung dieser Frage sei zu berücksichtigen, daß die Klägerin seinerzeit bewußt auf wesentliche Rechte (z.B. Altersversorgung) verzichtet habe. Die Motive der Klägerin seien zwar verständlich; die Klägerin sei aber nicht gezwungen gewesen, zur Versorgung ihres Kindes ihre Berufstätigkeit aufzugeben. In der DDR sei es nicht üblich gewesen, eine dreijährige “Babypause” einzulegen. Der Beschluß des Arbeitgeberkreises der BAT-Kommission vom 29. Mai 1989 stelle nur die Empfehlung einer Tarifvertragspartei an ihre Mitglieder dar. Außerdem habe dieser Beschluß auf die Verhältnisse in den alten Bundesländern abgestellt und könne nicht auf Arbeitsverhältnisse in der DDR übertragen werden.
Diese Ausführungen des Landesarbeitsgerichts halten einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand.
II. Die Klage ist begründet.
Die Zeit vom 1. August 1972 bis zum 13. April 1988 gilt als Beschäftigungszeit der Klägerin (§ 19 Abs. 1 Unterabs. 3 Halbsatz 1 BAT-O). Die Nichtanrechnung würde für die Klägerin eine unbillige Härte i. S. d. § 19 Abs. 1 Unterabs. 3 Halbsatz 2 BAT-O darstellen.
1. Es kann dahinstehen, ob es sich bei dem Rat des Stadtbezirks Dresden-Ost und der beklagten Stadt Dresden um denselben Arbeitgeber i. S. d. § 19 Abs. 1 Unterabs. 1 BAT-O handelt, wie das Berufungsgericht offenbar angenommen hat. Jedenfalls gilt die von der Klägerin bei dem Rat des Stadtbezirks Dresden-Ost zurückgelegte Zeit nach Nr. 2 Buchst. c Übergangsvorschrift § 19 BAT-O als Beschäftigungszeit der Klägerin. Die Klägerin ist Angestellte eines Mitglieds eines Mitgliedverbandes der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände. Die beklagte Stadt hat unstreitig die Aufgaben der Kinderbetreuung von den Einrichtungen des Rates des Stadtbezirks Dresden-Ost, bei dem die Klägerin in der Zeit vom 1. August 1972 bis zum 13. April 1988 beschäftigt war, übernommen.
2. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts scheitert die Anrechnung nicht an § 19 Abs. 1 Unterabs. 3 BAT-O. Diese Tarifvorschrift bestimmt für den Fall, der Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf eigenen Wunsch des Angestellten, daß die vor dem Ausscheiden liegende Zeit nicht als Beschäftigungszeit gilt, es sei denn, daß der Angestellte das Arbeitsverhältnis wegen eines mit Sicherheit erwarteten Personalabbaus oder wegen Unfähigkeit zur Fortsetzung der Arbeit infolge einer Körperbeschädigung oder einer in Ausübung oder infolge seiner Arbeit erlittenen Gesundheitsbeschädigung aufgelöst hat oder die Nichtanrechnung der Beschäftigungszeit aus sonstigen Gründen eine unbillige Härte darstellen würde. Die Klägerin ist zwar zum 13. April 1988 auf eigenen Wunsch aus dem am 1. August 1972 begonnenen Arbeitsverhältnis ausgeschieden. Die Nichtanrechnung dieser Zeit als Beschäftigungszeit würde für die Klägerin jedoch entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts eine unbillige Härte darstellen.
a) Die Klägerin hat den Aufhebungsvertrag vom 6. April 1988 auf ihren eigenen Wunsch geschlossen, weil sie ihr Kind bis zum dritten Lebensjahr selbst betreuen wollte.
b) Die Nichtanrechnung wäre für die Klägerin eine Härte. Auf die Dauer der nicht angerechneten Zeit kommt es dabei nicht an. Der Begriff der Härte im tariflichen Sinn ist durch jede Nichtanrechnung von Beschäftigungszeiten erfüllt. Der Tarifnorm sind keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, daß die nicht angerechnete Zeit einen bestimmten Mindestumfang erreichen muß.
c) Bei der Frage, ob die Nichtanrechnung der Beschäftigungszeit aus sonstigen, also aus anderen als den in der Tarifnorm ausdrücklich genannten Gründen eine unbillige Härte darstellen würde, geht es um die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs, die vom Senat nur beschränkt nachgeprüft werden kann. Eine Rechtsverletzung liegt nur vor, wenn der Rechtsbegriff verkannt, Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt oder wesentliche Umstände bei der Bewertung übersehen worden sind (ständige Rechtsprechung, vgl. BAGE 73, 269 = AP Nr. 193 zu Art. 3 GG; BAGE 60, 270 = AP Nr. 8 zu § 543 ZPO 1977). Das ist hier der Fall. Das Landesarbeitsgericht hat den Rechtsbegriff der unbilligen Härte verkannt.
aa) Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts enthält § 19 Abs. 1 Unterabs. 3 Halbsatz 2 BAT-O keine tarifliche Bestimmungsklausel im Sinne von § 315 Abs. 1 BGB. Es steht nicht im Ermessen des Arbeitgebers, ob und in welchem Umfang er bei Vorliegen einer unbilligen Härte die frühere Beschäftigungszeit anrechnet (BAGE 48, 35, 40 = AP Nr. 5 zu § 8 SoldatenversorgungsG). Stellt die Nichtanrechnung eine unbillige Härte im Sinne von § 19 Abs. 1 Unterabs. 3 Halbsatz 2 BAT-O dar, ist Halbsatz 1 nicht anzuwenden. Die vor dem Ausscheiden liegende Zeit ist dann Beschäftigungszeit im tariflichen Sinne. Einer Anrechnung durch eine Handlung des Arbeitgebers bedarf es nach dem Tarifwortlaut nicht.
bb) Allerdings ist zur Bestimmung des Inhalts des Rechtsbegriffs der Billigkeit die rechtliche Bedeutung heranzuziehen, die diesem Begriff im Rahmen des § 315 BGB beigemessen wird. Denn es ist davon auszugehen, daß Begriffe, die in der Rechtsterminologie einen bestimmten Inhalt haben, von den Tarifvertragsparteien in ihrer allgemeinen rechtlichen Bedeutung angewendet werden, wenn sich – wie hier – aus dem Tarifvertrag nichts anderes ergibt (vgl. BAGE 45, 121, 129 = AP Nr. 134 zu § 1 TVG Auslegung). Der Begriff der Billigkeit erfordert, wie auch das Landesarbeitsgericht nicht verkannt hat, eine Abwägung der wechselseitigen Interessen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. BAGE 63, 267, 271 f. = AP Nr. 6 zu § 88 BetrVG 1972, zu II 1a der Gründe; BAG Urteil vom 13. Mai 1987 – 5 AZR 125/86 – AP Nr. 4 zu § 305 BGB Billigkeitskontrolle; BAGE 47, 363, 375 = AP Nr. 27 zu § 611 BGB Direktionsrecht, zu B III 2c bb der Gründe). Dabei ist den in § 19 Abs. 1 Unterabs. 3 Halbsatz 2 BAT-O genannten Tatbeständen, die für die dort ausdrücklich geregelten Fälle den Begriff der unbilligen Härte konkretisieren, zu entnehmen, von welcher Art und welchem Gewicht auf der Seite des Angestellten die Gründe sein müssen, die ihn veranlaßt haben, von sich aus das Arbeitsverhältnis zu beenden. Zugunsten des Arbeitgebers fällt dessen Interesse am ununterbrochenen Fortbestand des Arbeitsverhältnisses ins Gewicht. Als Wertungsgesichtspunkte sind die verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Wertentscheidungen sowie allgemeine Wertungsgrundsätze, wie die der Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit sowie der Verkehrssitte und Zumutbarkeit, heranzuziehen (vgl. BAGE 63, 267, 271 = AP, aaO; BAGE 62, 59, 67 = AP Nr. 1 zu § 611 BGB Gewissensfreiheit, zu B I 1b der Gründe; MünchKomm-Gottwald, BGB, 3. Aufl., § 315 Rz 19 f.).
d) Das Landesarbeitsgericht hat bei der Interessenabwägung rechtsfehlerhaft Umstände berücksichtigt, auf die es nicht ankommt. Es hat nämlich entscheidend darauf abgestellt, daß der frühere Arbeitgeber der Klägerin an der Auflösung des Arbeitsverhältnisses kein Interesse gehabt habe und die Klägerin zwar aus verständlichen Gründen, aber letztlich aufgrund freier Entscheidung ausgeschieden sei. Außerdem ist das Landesarbeitsgericht von unzutreffenden Wertungsgesichtspunkten ausgegangen, weil es die gesellschaftspolitischen Verhältnisse der DDR zugrundegelegt hat.
aa) Ein eigenes Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses setzt der Tarifbegriff der unbilligen Härte nicht voraus. Zwar ist richtig, daß auch der Arbeitgeber in den in § 19 Abs. 1 Unterabs. 3 Halbsatz 1 BAT-O ausdrücklich genannten Fällen regelmäßig kein Interesse mehr an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses hat. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, daß es sich hierbei um eine Tatbestandsvoraussetzung des Tarifbegriffs der unbilligen Härte handelt. Vielmehr haben die Tarifvertragsparteien in § 19 Abs. 1 Unterabs. 3 Halbsatz 2 BAT-O Sachverhalte genannt, in denen ohne weiteres davon auszugehen ist, daß die Nichtanrechnung von Beschäftigungszeiten eine unbillige Härte darstellen würde, weil ein bei der Abwägung zu berücksichtigendes Interesse des Arbeitgebers an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht ersichtlich ist.
bb) Die freie Entscheidung der Klägerin, das Arbeitsverhältnis aufzulösen, durfte bei der Prüfung, ob die Nichtanrechnung eine unbillige Härte darstellt, nicht zu Lasten der Klägerin gewertet werden. Denn die eigene Entscheidung des Arbeitnehmers führt schon zur Anwendung des Grundsatzes von § 19 Abs. 1 Unterabs. 3 Halbsatz 1 BAT-O. Demgegenüber soll die in § 19 Abs. 1 Unterabs. 3 Halbsatz 2 BAT-O bestimmte Ausnahme gerade solche Fälle erfassen, in denen trotz des auf Beendigung des Arbeitsverhältnisses gerichteten eigenen Wunsches des Angestellten eine Anrechnung der früheren Beschäftigungszeiten erfolgen soll.
cc) Das Landesarbeitsgericht ist bei der Interessenabwägung auch zu Unrecht von den arbeitsrechtlichen und gesellschaftspolitischen Verhältnissen in der ehemaligen DDR und damit von unzutreffenden Wertungsgesichtspunkten ausgegangen. Der BAT-O ist von den Tarifvertragsparteien nach der Wiedervereinigung auf der Grundlage des Rechts der Bundesrepublik Deutschland vereinbart worden. Dessen Wertungen sind zu berücksichtigen. Darauf, daß es in der DDR keine “Babypause” gab, kommt es somit nicht an.
e) Der Senat kann die rechtsfehlerhafte Interessenabwägung des Berufungsgerichts durch eine eigene ersetzen. Zwar ist die Billigkeitsprüfung Aufgabe der Tatsachengerichte, weil sie die Feststellung und Würdigung der tatsächlichen Umstände im Einzelfall erfordert. Stehen die hierfür maßgeblichen Tatsachen jedoch fest, so ist das Revisionsgericht in der Lage, die Beurteilung selbst vorzunehmen (BAG Urteil vom 13. Mai 1987 – 5 AZR 125/86 – AP Nr. 4 zu § 305 BGB Billigkeitskontrolle).
Die Klägerin ist aus dem Arbeitsverhältnis mit dem Rat des Stadtbezirks Dresden-Ost am 13. April 1988 ausgeschieden, weil sie nach dem Tod der Zwillinge ihr jüngstes Kind bis zum dritten Lebensjahr selbst betreuen wollte und eine Beurlaubung hierfür nach dem DDR-Recht nicht in Betracht kam (§§ 246 ff. AGB-DDR). Dieses Interesse ist unter Berücksichtigung der gültigen verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Wertentscheidungen höher zu bewerten als das – im vorliegenden Fall jedenfalls nicht näher belegte – Interesse des Arbeitgebers an der ununterbrochenen Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses.
Nach Art. 6 Abs. 2 GG ist die Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Das Elternrecht umfaßt auch die Entscheidung, in welchem Ausmaß und mit welcher Intensität die Eltern sich selbst dieser Aufgabe widmen wollen (BSGE 68, 171, 176). Gesetzliche Bestimmungen gewähren diese Entscheidungsfreiheit in bestimmtem Umfang auch im bestehenden Arbeitsverhältnis und räumen ihr insoweit gegenüber dem Interesse des Arbeitgebers an der Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers den Vorrang ein.
Nach § 10 Abs. 1 MuSchG kann eine Frau während der Schwangerschaft und während der Schutzfrist nach der Entbindung (§ 6 Abs. 1 MuSchG) das Arbeitsverhältnis ohne Einhaltung einer Frist zum Ende der Schutzfrist nach der Entbindung kündigen. Wird die Frau innerhalb eines Jahres nach der Entbindung in ihrem bisherigen Betrieb wieder eingestellt, so gilt, soweit Rechte aus dem Arbeitsverhältnis von der Dauer der Betriebs- oder Berufszugehörigkeit oder von der Dauer der Beschäftigungs- oder Dienstzeit abhängen, das Arbeitsverhältnis als nicht unterbrochen. Die Vorschrift soll es der berufstätigen Frau und Mutter ermöglichen, sich über die Zeit der Schutzfristen hinaus von ihrer beruflichen Tätigkeit zu lösen, damit sie sich stärker ihrem Kind widmen kann (Gröninger/Thomas, MuSchG, Stand November 1994, § 10 Rz 1). Außerdem sollen die Bestimmungen des am 1. Januar 1986 in Kraft getretenen Bundeserziehungsgeldgesetzes (BErzGG) es den Eltern erleichtern, sich um ihr Kind in seiner ersten Lebensphase intensiver zu kümmern (Zmarzlik/Zipperer/Viethen, Mutterschutzgesetz – Mutterschaftsleistungen – Bundeserziehungsgeldgesetz, 7. Aufl., BErzGG Einführung Rz 1). Zu diesem Zweck gewährt das Gesetz in seiner seit 1. Januar 1992 geltenden Fassung (BGBl. I 1991, S. 2142) u.a. den personensorgeberechtigten Eltern einen Anspruch auf Erziehungsurlaub bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres eines Kindes, wenn sie dieses selbst betreuen und erziehen (§ 15 BErzGG).
Diese Bewertung wird auch der Sache nach geteilt im Besprechungsergebnis, das der Arbeitgeberkreis der BAT-Kommission am 29. Mai 1989 erzielt hat (abgedruckt bei Böhm/Spiertz/Sponer/Steinherr, BAT, Stand September 1995, § 19 Rz 45; Uttlinger/Breier/Kiefer/Hofmann/Rühler, BAT, Stand September 1995, § 19 Erl. 7). Dort wurden mehrheitlich keine Bedenken erhoben, in der Nichtanrechnung der vor einem Ausscheiden auf eigenen Wunsch zurückgelegten Beschäftigungs- bzw. Dienstzeit eine unbillige Härte i.S. von §§ 19 Abs. 1 Satz 3 bzw. 20 Abs. 3 Satz 2 BAT zu sehen, wenn das Arbeitsverhältnis zur Betreuung und Erziehung eines Kindes unter 18 Jahren aufgelöst wurde und die Unterbrechung den Zeitraum einer Beurlaubung nach § 48a Abs. 2 BRRG nicht überschritten hat. Auch diese gesetzlichen Bestimmungen fallen bei der Interessenabwägung ins Gewicht. Der Senat schließt sich insoweit der Beurteilung des genannten Arbeitskreises an, wobei für die Bewertung unerheblich ist, daß die Beurteilung nicht die Anwendung des § 19 Abs. 1 Unterabs. 3 BAT-O, sondern die von denselben Tarifpartnern vereinbarte wortgleiche Bestimmung des § 19 Abs. 1 Unterabs. 3 BAT betraf.
Anhaltspunkte dafür, daß die Klägerin die für die Anwendung von § 19 Abs. 1 Unterabs. 3 BAT-O zu berücksichtigende Treue zu Arbeitgebern des öffentlichen Dienstes gebrochen hat, indem sie etwa zwischenzeitlich bei einem anderen Arbeitgeber gearbeitet hätte, sind nicht ersichtlich.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Dr. Peifer, Dr. Armbrüster, Hauck, Gebert, S. de Hair
Fundstellen
Haufe-Index 872285 |
BAGE, 68 |
NZA 1996, 1054 |