Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebliche Altersversorgung: Betriebliche Übung – Voraussetzungen, Inhalt und Auslegung. Betriebliche Altersversorgung. Anspruch aus betrieblicher Übung. Voraussetzungen der betrieblichen Übung. Auslegungsgrundsätze. Inhalt der betrieblichen Übung. Freiwilligkeitsvorbehalt und Vorschaltzeit. Inhaltsbestimmung einer betrieblichen Übung
Orientierungssatz
- Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist die betriebliche Übung ein gleichförmiges und wiederholtes Verhalten des Arbeitgebers, das den Inhalt der Arbeitsverhältnisse gestaltet und geeignet ist, vertragliche Ansprüche auf eine Leistung zu begründen, wenn die Arbeitnehmer aus dem Verhalten des Arbeitgebers schließen durften, ihnen werde die Leistung auch künftig gewährt. Eine solche betriebliche Übung hat nach der ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmung des § 1b Abs. 1 Satz 4 BetrAVG nF im Bereich der betrieblichen Altersversorgung anspruchsbegründende Qualität.
- Ist es Inhalt einer solchen gleichförmigen betrieblichen Praxis, allen Mitarbeitern, die mindestens eine zehnjährige Betriebszugehörigkeit aufzuweisen haben, nachfolgend eine betriebliche Altersversorgung zu versprechen, so kommt es nicht darauf an, daß die Versorgungszusage stets zum gleichen Zeitpunkt (also etwa genau nach 10 Jahren) gemacht wird. Entscheidend ist, daß alle Mitarbeiter, in deren Person die Voraussetzungen der (internen) Versorgungsrichtlinie vorliegen, eine Versorgungszusage erhalten. Die Versorgungszusagen selbst dürfen gebündelt und/oder rückwirkend auf den Ablauf einer bestimmten Wartefrist datiert werden. Solche Verfahrensfragen stehen der Annahme einer betrieblichen Übung nicht entgegen.
- Die Prüfung der Frage, ob und mit welchem Inhalt Ansprüche von Arbeitnehmern auf künftige Gewährung von Leistungen aus betrieblicher Übung erwachsen, hat das Bundesarbeitsgericht bislang in erster Linie als tatrichterliche Aufgabe gesehen. Dementsprechend hat es angenommen, daß im Revisionsrechtszug nur überprüft werden kann, ob der angenommene Erklärungswert des tatsächlichen Verhaltens den Auslegungsregeln der §§ 133, 157 BGB entspricht, ob er mit den Gesetzen der Logik und den allgemeinen Erfahrungssätzen vereinbar ist und ob vom Berufungsgericht auch alle von ihm festgestellten wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt sind (16. September 1998 – 5 AZR 598/97 – AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 54 = EzA BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 41, zu I 3b der Gründe; 16. April 1997 – 10 AZR 705/96 – AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 53 = EzA BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 39, zu II 1b der Gründe). Dafür spricht, daß nach der zutreffenden ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die betriebliche Übung in die Einzelarbeitsverhältnisse eingeht und so die Arbeitsverträge ergänzt (17. September 1970 – 5 AZR 539/69 – BAGE 22, 429, zu 2a der Gründe). Wegen des lang andauernden, gleichförmigen und oft den gesamten Betrieb erfassenden Charakters der betrieblichen Übung erwägt der Senat aber, wie bei Formularverträgen die gefundenen Auslegungsergebnisse einer vollen revisionsrechtlichen Überprüfung zu unterziehen (18. Oktober 1972 – 4 AZR 482/71 – AP BAT §§ 22, 23 Lehrer Nr. 3; 1. März 1972 – 4 AZR 200/71 – AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 11 = EzA BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 3). Vorliegend brauchte die Frage nicht entschieden zu werden, da die Auslegung des Berufungsgerichts auch dem bisherigen, eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstab nicht stand hielt.
- Werden nach Ablauf einer bestimmten Wartefrist (hier: 10 Jahre) Versorgungszusagen stets nur mit dem Inhalt der bei Fristablauf gültigen Versorgungsrichtlinie gemacht, so entspricht es nicht der betrieblichen Übung, den Mitarbeitern inhaltliche Versorgungszusagen auf den Stand ihres Firmeneintritts zu versprechen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Versorgungsregelungen nur als arbeitgeberinterne Richtlinie zur Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer dient und den Arbeitnehmern nicht in allgemeiner Form bekannt gemacht wird. Allerdings muß der Arbeitgeber bei der inhaltlichen Ausfüllung des Versorgungsversprechens nach Ablauf der Wartefrist die Grundsätze der Billigkeit (§ 315 BGB) beachten.
Normenkette
BetrAVG § 1b Abs. 1 S. 4, § 17 Abs. 3 S. 3; BGB §§ 133, 157, 315; ZPO § 561 a.F.
Verfahrensgang
LAG Niedersachsen (Urteil vom 31.01.2001; Aktenzeichen 6 Sa 837/00 B) |
ArbG Hannover (Urteil vom 23.03.2000; Aktenzeichen 3 Ca 249/99 B) |
Tenor
- Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 31. Januar 2001 – 6 Sa 837/00 B – aufgehoben.
- Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 23. März 2000 – 3 Ca 249/99 B – abgeändert.
- Die Klage wird abgewiesen.
- Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darum, ob die Beklagte auf Grund betrieblicher Übung gegenüber der Klägerin verpflichtet ist, deren Vordienstzeiten bei der Betriebsrentenberechnung zu berücksichtigen.
Die am 6. März 1942 geborene Klägerin war bei der Beklagten seit dem 1. April 1974 als Buchhalterin beschäftigt. Die an sie gerichtete Einstellungszusage vom 28. Januar 1974 wies zwar auf verschiedene Nebenleistungen wie 13. Monatsgehalt oder Urlaubsgeld, nicht jedoch auf eine betriebliche Altersversorgung durch die Beklagte hin.
Bei der Beklagten besteht eine mit dem 1. Januar 1939 beginnende Tradition der zusätzlichen Invaliditäts-, Alters- und Hinterbliebenenversorgung. Im Sommer 1938 hatten Aufsichtsrat und Vorstand beschlossen, künftig eine zusätzliche Versorgung für Betriebsangehörige, die eine zehnjährige ununterbrochene Betriebszugehörigkeit vorweisen können, zu versprechen. Zwar sollte der Anspruch auf zusätzliche Fürsorge bei einem Ausscheiden vor dem Versorgungsfall hinfällig werden; zugleich wurden aber die Kündigungsmöglichkeiten für die Arbeitgeberseite eingeschränkt. Bei der Höhe der Betriebsrente sollten Vordienstzeiten ab dem 21. Lebensjahr zur Hälfte als pensionsfähige Dienstzeit angerechnet werden. Gemäß diesen Grundsätzen wurden ab Januar 1939 Einzelversorgungszusagen an die Betriebsangehörigen gemacht.
Diese Verfahrensweise blieb in den nächsten Jahrzehnten im wesentlichen unverändert, allerdings wurde die Regelung 1958 dahin geändert, daß der Begünstigte nach der gesonderten Verpflichtungserklärung des Vorstandes eine “Gegenerklärung” zu unterzeichnen hat, mit er die Rechtsverbindlichkeit wie die Freiwilligkeit der Leistungen der Genossenschaft anerkennt. 1978 wurden erstmalig auch die Anrechnungsbestimmungen für Vordienstzeiten geändert: Einerseits eingeschränkt, in dem die hälftige Anrechnung anderweitig verbrachter Berufsjahre nur noch “in der Regel” erfolgen sollte, andererseits aber auch erweitert, weil bei besonderen Leistungen auch eine volle Anrechnung möglich werden sollte. Eine entscheidende Änderung erfuhr die Anrechnungsbestimmung jedoch mit dem Beschluß von Vorstand und Aufsichtsrat der Beklagten vom 16. September 1982. Ziff. II.2. Satz 1 der Zusagevoraussetzungen wurde dahingehend abgeändert, daß die vor dem Eintritt in die Genossenschaft anderweitig verbrachten Berufsjahre nicht angerechnet werden. – Die jeweils von den Organen beschlossenen Versorgungsregelungen wurden nie in allgemeiner Form der Belegschaft mitgeteilt.
Vom Vorstand der Beklagten erhielt die Klägerin am 14. Januar 1985 “mit sofortiger Wirkung” eine zusätzliche Invaliditäts-, Alters- und Hinterbliebenenversorgung “nach der zur Zeit geltenden Regelung” zugesagt. Durch Aufsichtsratsbeschluß vom 20. September 1990 wurde ihr diese betriebliche Altersversorgung “im Rahmen der zur Zeit geltenden Bestimmungen” schon mit Wirkung ab 1. April 1984 zuerkannt und der Beginn ihrer pensionsfähigen Dienstzeit auf den 1. April 1974, also ihren Arbeitsbeginn, festgesetzt. Die Klägerin erkannte die Bedingungen dieser Versorgungszusage mit Erklärung vom 8. November 1990 an.
Seit dem 19. Februar 1997 bezog die Klägerin eine Berufsunfähigkeitsrente und seit dem 1. März 1997 erhält sie eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Kurz nach Bewilligung dieser Renten durch die BfA beantragte sie am 5. August 1998 bei der Beklagten ihre Betriebsrente. Die Beklagte berechnete deren Höhe ohne Berücksichtigung von Vordienstzeiten mit 61 % der letzten Bruttobezüge. Infolge eines Mißverständnisses über die Höhe der gesetzlichen Rentenzahlungen an die Klägerin ging sie weiter davon aus, daß gemäß ihrem Gesamtversorgungssystem aktuell keine Zahlungspflicht bestehe. Im Laufe der nachfolgenden Korrespondenz bekam die Klägerin Kenntnis von der allgemeinen Versorgungsregelung 1982 und den Regelungen aus den Jahren 1965 und 1978. Seitdem ist sie der Auffassung, die Vordienstzeiten seien hälftig zu berücksichtigen, was zu einem Gesamtversorgungsanspruch der Klägerin in Höhe von 70 % des letzten Bruttoentgeltes führen würde.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, sie habe ihren Betriebsrentenanspruch im Wege der betrieblichen Übung oder der Gesamtzusage erworben. Dabei seien für den Inhalt der Anwartschaft die zum Zeitpunkt ihrer Arbeitsaufnahme im Jahr 1974 geltenden Regelungen maßgeblich. Demzufolge sei ihre frühere Beschäftigung hälftig bei der versorgungsfähigen Dienstzeit zu berücksichtigen. Die diesbezügliche Streichung in der Versorgungsregelung 1982 könne den Inhalt ihrer bereits erworbenen Anwartschaft nicht mehr ändern. Zudem sei für diese Neufassung ausdrücklich geregelt, daß sie keine rückwirkende Kraft habe. Mit ihrer Klage begehrt sie Zahlung der Differenzbeträge für den Zeitraum vom 19. Februar 1997 bis zum 30. Juni 1999.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.578,74 DM zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vornehmlich darauf verwiesen, der Klägerin ein auf einer zuvor getroffenen Entscheidung von Vorstand und Aufsichtsrat beruhendes Individualangebot gemacht zu haben, das von der Klägerin mit ihrer Erklärung vom 8. November 1990 angenommen worden sei. Inhaltlich habe sich diese Versorgungsvereinbarung auf die Rentenregelung 1982 bezogen, also auf eine interne Richtlinie, die die Gleichbehandlung gewährleisten sollte, aber weder der Klägerin noch der Belegschaft jemals bekannt gemacht worden sei. Einer solchen Versorgungsrichtlinie könne ebensowenig wie der Versorgungspraxis schon ein Bindungswille der Beklagten entnommen werden: Stets habe es, aufbauend auf den jeweiligen Versorgungsregelungen, eines gesonderten Organbeschlusses und einer nachfolgenden Individualzusage oder -vereinbarung bedurft, um einklagbare Ansprüche der Arbeitnehmer zu begründen. Bei derartigen individualrechtlichen Vereinbarungen sei immer die jeweils gültige Versorgungsregelung vollzogen worden.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten blieb in der Sache erfolglos. Mit der Revision verfolgt sie das Ziel einer Klageabweisung weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch darauf, daß bei der Berechnung ihrer Betriebsrente Dienstzeiten vor ihrem Arbeitsverhältnis zur Beklagten berücksichtigt werden.
Unterschriften
Reinecke, Bepler, Breinlinger, Kaiser, Platow
Fundstellen
Haufe-Index 893652 |
DB 2003, 1004 |
EWiR 2003, 397 |
NZA 2003, 875 |
SAE 2003, 180 |
AP, 0 |
EzA-SD 2003, 17 |
EzA |
ArbRB 2003, 100 |
BAGReport 2003, 159 |