Leitsatz (redaktionell)
1. |
Handel im funktionalen Sinne bezeichnet die Beschaffung von Gütern und deren Verkauf/Absatz in unverändertem Zustand oder nach geringfügiger Be- und/oder Verarbeitung. Der Absatz selbst hergestellter Brot- und Backwaren durch eine Großbäckerei ist kein Handel. |
2. |
Ein aus Produktionsstätte und einer Vielzahl von Verkaufsstellen ("Backshops") bestehender Betrieb, der seine Eigenproduktion in diesen direkt vermarktet, fällt daher auch dann nicht in den fachlichen Geltungsbereich der Tarifverträge für den Einzelhandel, wenn die überwiegende Arbeitszeit der Arbeitnehmer auf den Verkauf entfällt. |
|
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin verfolgt mit ihrer Klage gegenüber der Beklagten Zahlungsansprüche, die sie auf allgemeinverbindliche Tarifverträge für den Einzelhandel im Freistaat Sachsen stützt. Einziger Streitpunkt des Rechtsstreits ist, ob die Beklagte dem fachlichen Geltungsbereich dieser Tarifverträge unterfällt.
Die Klägerin, die über eine abgeschlossene zweijährige Ausbildung zur Fachverkäuferin verfügt, steht seit dem 5. November 1993 als Verkäuferin in den Diensten der Beklagten, einer Großbäckerei mit rund 50 Verkaufsstellen. Keine der Parteien ist organisiert. Die nach der Geburt ihres zweiten Kindes derzeit in Erziehungsurlaub befindliche Klägerin war bis zu dessen Beginn mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 30 Stunden als Verkäuferin in der Verkaufsstelle der Beklagten in D , N als Verkäuferin tätig. Sie erhielt für die Monate Fe-
bruar bis April 1995 ein Monatsgehalt von je 1.550,00 DM brutto, im Mai 1995 von 1.700,00 DM brutto.
Die von der S GmbH in H verwaltete Beklagte
befaßt sich mit der Herstellung und dem Vertrieb von Brot- und Backwaren. Der Hauptbetrieb der Beklagten befindet sich in F , wo ihre Erzeugnisse zum Teil endgefertigt, zum Teil als Rohlinge, die in ihren Verkaufsstellen fertigzustellen sind, hergestellt werden. In den Verkaufsstellen werden neben Brot- und Backwaren auch Kaffee, belegte Brötchen und verschiedene nichtalkoholische Getränke zum sofortigen Verzehr angeboten. Im Juli 1996 beschäftigte die Beklagte insgesamt 254 Arbeitnehmer, davon 53 Bäcker und 162 Verkäuferinnen. In der Filiale, in welcher die Klägerin bisher eingesetzt war, waren insgesamt regelmäßig zwei Vollzeitarbeitnehmer mit je 39 Wochenarbeitsstunden und je ein Teilzeitarbeitnehmer jeweils im Früh- und im Spätdienst beschäftigt. Diese Arbeitnehmer hatten folgende Aufgaben:
- Vorbereitung der Verkaufseinrichtung (Waren auspacken, Verkaufstheke einräumen)
- Kontrolle der gelieferten Waren auf Übereinstimmung mit den Lieferpapieren
- Preisauszeichnung des kompletten Warenangebotes
- Herstellung von Backwaren aus angelieferten, tiefgefrorenen Teiglingen während der gesamten Öffnungszeit entsprechend der Kundennachfrage
- Anfertigung und Verkauf von belegten Brötchen, Kaffeeaus-
schank sowie Verkauf der übrigen Waren
- Kassenabrechnung und Einlieferung der Tageseinnnahmen
- Warenbestellung für jeden einzelnen Wochentag entspre-
chend der zu erwartenden Nachfrage
- Reinigung des Backshops sowie des Sanitär- und Vorberei-
tungsraums
Mit Schreiben vom 29. Juni 1995 machte die Klägerin neben weiteren hier nicht interessierenden Ansprüchen restliche Gehaltsansprüche für die Monate Februar bis Mai 1995 und Urlaubsgeld für das Jahr 1995 nach den allgemeinverbindlichen Tarifverträgen für den Einzelhandel im Freistaat Sachsen geltend. Die Beklagte lehnte mit Schreiben vom 9. August 1995 die Erfüllung dieser Ansprüche ab.
Mit ihrer am 16. Oktober 1995 erhobenen Klage fordert die Klägerin, soweit im Revisionsverfahren noch von Interesse, an restlichem Gehalt für die Monate März und April 1995 je 473,85 DM brutto, für Mai 1995 323,85 DM brutto und an Urlaubsgeld für 1995 1.011,93 DM brutto, insgesamt somit 2.283,48 DM brutto. Sie hat die Auffassung vertreten, auf das Arbeitsverhältnis seien die allgemeinverbindlichen Tarifverträge für den Einzelhandel im Freistaat Sachsen anzuwenden. Danach stünden ihr die - auf dieser Grundlage rechnerisch unstreitigen - Nachzahlungsansprüche an Gehalt und Urlaubsgeld zu.
Einschließlich einer - im Revisionsrechtszug nicht mehr interessierenden Gehaltsnachforderung für Februar 1995 in Höhe von 348,25 DM brutto - hat die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 2.631,73 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich hieraus ergebenden Nettobetrag ab Klagezustellung zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, die Tarifverträge für den Einzelhandel könnten auf sie keine Anwendung finden, da 95 % ihres Gesamtumsatzes mit Produkten eigener Herstellung erzielt werde. Allenfalls kämen die Tarifverträge der Brot- und Backwarenindustrie in Betracht, die hier mangels Tarifgebundenheit jedoch nicht anwendbar seien.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und die Revision gegen sein Urteil zugelassen. Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin - unter Rücknahme ihrer Klage mit Einwilligung der Beklagten - im übrigen ihre Gehaltsrestansprüche für die Monate März bis Mai 1995 sowie das Urlaubsgeld 1995 in Höhe von insgesamt 2.283,48 DM brutto nebst Zinsen weiter. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
I. Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Denn im Ergebnis zutreffend haben die Vorinstanzen die Klage abgewiesen. Das Arbeitsverhältnis der Parteien fällt nicht in den fachlichen Geltungsbereich der allgemeinverbindlichen Tarifverträge für den Einzelhandel im Freistaat Sachsen, auf deren Vorschriften die Klägerin ihre Restgehaltsansprüche für die Monate März bis Mai 1995 sowie das Urlaubsgeld 1995 stützt; dies sind für die erstgenannten Ansprüche die Gehaltstarifverträge vom 27. Mai 1994 (GTV 1994) und 20. Juni 1995 (GTV 1995), für den letztgenannten Anspruch der Manteltarifvertrag vom 27. Mai 1994 (MTV). 1. Das Landesarbeitsgericht hat dies ebenfalls angenommen und zur Begründung ausgeführt, liege beim Arbeitgeber eine Mischtätigkeit vor, die in den fachlichen Geltungsbereich verschiedener Tarifverträge hinrage, so könnten die Grundsätze der Tarifkonkurrenz und der Tarifpluralität herangezogen werden. Nach diesen verdränge derjenige Tarifvertrag die übrigen, der dem Betrieb räumlich, betrieblich, fachlich und persönlich am nächsten stehe. Dies seien hier die Tarifverträge für die Betriebe der Brot- und Backwarenindustrie in den neuen Bundesländern, so daß die Beklagte nicht dem fachlichen Geltungsbereich der Tarifverträge für den Einzelhandel im Freistaat Sachsen unterfalle.
2. Dem folgt der Senat im Ergebnis.
2.1 Die Regelung des fachlichen Geltungsbereichs hat in § 1 B GTV 1994, GTV 1995 und MTV gleichlautend folgenden Inhalt:
"Fachlicher Geltungsbereich
Der Tarifvertrag gilt für die Betriebe des Einzelhandels aller Branchen und Betriebsformen einschließlich ihrer Hilfs- und Nebenbetriebe."
2.2 Die Klägerin ist im Jahre 1995 entgegen der von ihr vertretenen Auffassung weder in einem Betrieb des Einzelhandels noch in einem Nebenbetrieb eines solchen im Sinne der vorzitierten Vorschriften tätig gewesen. Das Landesarbeitsgericht hat zwar keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, die es ermöglichen, abschließend zu bewerten, ob der Backshop N -
in D - wie regelmäßig bei kleinen Verkaufsstellen der Fall (vgl.
BAG Urteil vom 26. August 1971 - 2 AZR 233/70 - AP Nr. 1 zu § 23 KSchG 1969) - Teil eines einzigen aus der Gesamtheit aller Verkaufsstellen zusammen mit Produktion und Verwaltung bestehenden Betriebes ist oder ob er selbst einen Betrieb im Tarifsinne bildet. Dies ist jedoch unschädlich. Denn sowohl im einen als auch im anderen Falle unterfällt der Backshop nicht dem fachlichen Geltungsbereich der hier interessierenden Einzelhandelstarifverträge.
2.2.1 Der Sachvortrag der Klägerin ermöglicht nicht die Wertung, ein einheitlicher Betrieb der Beklagten, bestehend aus Verwaltung, Produktion und Verkauf - in den rund 50 Backshops - unterfalle dem fachlichen Geltungsbereich des jeweiligen § 1 B GTV 1994, GTV 1995 und MTV. Denn dem Vortrag der Klägerin ist nicht zu entnehmen, daß die überwiegende Arbeitszeit der Arbeitnehmer dieses Betriebes auf Tätigkeiten im Einzelhandel entfällt.
Verfolgt ein Betrieb mehrere Geschäftszwecke (Mischbetrieb), kommt es nach der Rechtsprechung für seine fachliche Zuordnung im Tarifrecht darauf an, auf welche Geschäftstätigkeit die überwiegende Arbeitszeit der Arbeitnehmer entfällt (z.B. Urteile des Senats vom 25. November 1987 - 4 AZR 361/87 - BAGE 56, 357 = AP Nr. 18 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel; vom 5. September 1990 - 4 AZR 59/90 - AP Nr. 19 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz). Die Herstellung von Brot- und Backwaren in einer Großbäckerei und deren Verkauf in Verkaufsstellen an die Verbraucher ist jedoch keine betriebliche Betätigung in verschiedenen Wirtschaftszweigen, also in der Brot- und Backwarenindustrie einerseits und im Einzelhandel andererseits; damit entfaltet die Beklagte insoweit keine Mischtätigkeit, als sie ihre Produkte selbst bei den Verbrauchern vermarktet. Soweit sie dort Fremdprodukte verkauft, ist nicht dargelegt, daß dies die überwiegende Geschäftstätigkeit ist.
2.2.1.1 Der Handel im institutionellen Sinne umfaßt alle Institutionen, die Handel im funktionellen Sinne betreiben, d. h. die hauptamtlich Waren, an denen mit Ausnahme geringfügiger Veredelungs- und Pflegeleistungen keine grundsätzlichen produktions-technischen Veränderungen vorgenommen wurden, kollektieren und distribuieren (Gabler, Wirtschaftslexikon, 13. Aufl., Stichwort: Handel, unter I 2; ebenso Brockhaus, Enzyklopädie, 19. Aufl., Stichwort: Handel). Als geringfügige Be- und Verarbeitung gelten z. B. Sortieren, Abpacken (Brockhaus, aaO).
2.2.1.2 Mit dieser Bestimmung des Begriffs des Handels steht im Einklang, daß der Absatz selbstproduzierter Waren als Schlußphase der Arbeit eines Produktionsbetriebes verstanden wird. Da gewerbliche Tätigkeit nicht der Befriedigung des Eigenbedarfs dient, muß sich in einem Produktionsbetrieb an die Phase der Materialbeschaffung und der Warenherstellung diejenige des Warenabsatzes notwendig anschließen. Dieser ist also eine originäre Aufgabe des Produktionsbetriebes.
Diese Betrachtungsweise findet ihren Niederschlag in den tariflichen Regelungen für produzierende Gewerbe. Die Tarifvertragsparteien behandeln den Warenabsatz eines Produktionsbetriebes regelmäßig als ein zu dessen Aufgaben gehöriges Geschäft. Dementsprechend beziehen sie die darin notwendigerweise beschäftigten Arbeitnehmer in den Geltungsbereich der Tarifverträge für den Produktionsbetrieb ein und vereinbaren für sie Arbeitsbedingungen, die auf die besonderen Verhältnisse des jeweiligen Wirtschaftszweiges und die dortigen spezifischen Anforderungen an die im Warenabsatz beschäftigten Arbeitnehmer zugeschnitten sind. Solche Regelungen belegen, daß die Tarifvertragsparteien den Warenabsatz als Teil der Tätigkeit des Produktionsbetriebes verstehen.
Einen derartigen Inhalt haben auch die tariflichen Regelungen für die Brot- und Backwarenindustrie in den neuen Bundesländern. Diese enthalten gerade auch Regelungen für Arbeitnehmer, die mit Verkaufsaufgaben im Direktvertrieb, also im Warenabsatz unmittelbar vom Produzenten an den Verbraucher, beschäftigt werden, denn sie haben in den fachlichen Geltungsbereich der Tarifverträge "für die Betriebe der Brot- und Backwarenindustrie, Großbäckereien und Betriebe, die Brot- und Backwaren vertreiben", "die Verkaufsstellen der Betriebe" miteinbezogen (z.B. Manteltarifvertrag vom 1. Februar 1993 § 1 Ziff. 2 ; Entgeltrahmentarifvertrag vom 26. Februar 1991 § 1 Ziff. 1.2; Entgelttarifvertrag vom 12. Juni 1995 § 1 Ziff. 1.2). Folgerichtig haben sie in dem vorstehend genannten Entgeltrahmentarifvertrag auch Tätigkeitsmerkmale für das Verkaufspersonal "in einer Brotverkaufsstelle" vereinbart
- für Hilfstätigkeiten, Verkäuferinnen, erste Verkäuferinnen, Filialleiterinnen -, für welches es eine spezielle Berufsausbildung gibt, und zwar diejenige zum Fachverkäufer/zur Fachverkäuferin im Nahrungsmittelhandwerk mit dem Schwerpunkt Bäckerei/Konditorei (vgl. Blätter zur Berufskunde,1-VIII A 102, 2. Aufl. 1998). 2.2.1.3 Der Verkauf ihrer Eigenproduktion durch die Beklagte ist kein Handel im oben (unter Ziff. 2.2.1.1) definierten Sinne. Die Beklagte vertreibt insoweit keine fremden Waren, die sie nur geringfügig veredelt oder gepflegt hat, sondern ihre eigenen Erzeugnisse, die sich völlig von den zu ihnen verarbeiteten Rohstoffen (Mahlerzeugnisse, Backmittel, Fette usw.) unterscheiden. Dieser Vertrieb ist auch als Direktvertrieb kein Handel und damit kein Einzelhandel i.S. von § 1 B GTV 1994, GTV 1995 und MTV (ebenso der Sache nach BAG Urteil vom 17. Januar 1996
- 10 AZR 138/95 - AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bäcker, für einen ähnlich gelagerten Fall).
2.2.1.4 Einzelhandel wird in den Backshops der Beklagten somit nur insoweit entfaltet, als sie dort fremdproduzierte Waren an Endverbraucher verkauft. Daß diese Verkaufstätigkeit die überwiegende Arbeitszeit der Belegschaft der Beklagten ausfüllt, hat die Klägerin selbst nicht behauptet. Sie hat sich vielmehr darauf beschränkt, die Behauptung der Beklagten zu bestreiten, 95 % ihres Gesamtumsatzes werde mit Produkten eigener Herstellung erzielt, die beinhaltet, daß deren Verkauf die weitaus überwiegende Arbeitszeit ihres Verkaufspersonals ausfüllt. Die Nachteile des insoweit unklar gebliebenen Sachverhalts gehen zu Lasten der Klägerin, die die Darlegungs- und Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen trägt. Dazu zählen auch diejenigen, die die Geltung der Tarifverträge zu begründen geeignet sind, aus denen die Klägerin ihre Ansprüche herleitet.
2.2.2 Wäre der Backshop N in D ein - organisatorisch - "selbständiger Nebenbetrieb" zur Backwarenproduktion in der Großbäckerei in F - , wie die Klägerin geltend macht, unterfiele er ebenfalls nicht dem fachlichen Geltungsbereich der hier interessierenden Tarifverträge für den Einzelhandel im Freistaat Sachsen, weil er dann kein Nebenbetrieb eines "Betriebes des Einzelhandels" i.S von § 1 B GTV 1994, GTV 1995 und MTV, sondern ein solcher einer Großbäckerei wäre.
2.2.3 Daß der Backshop ein organisatorisch selbständiger Betrieb ist, der nicht dem arbeitstechnischen Zweck des Hauptbetriebes dient, und als solcher in den fachlichen Geltungsbereich der hier interessierenden Einzelhandelstarifverträge fällt, macht die Klägerin selbst nicht geltend. II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Fundstellen
BAGE, 324 |
BB 1998, 1949 |
DB 1998, 1819 |
DB 1999, 55 |
DStR 1999, 80 |
ARST 1998, 239 |
ARST 1999, 44 |
FA 1998, 360 |
FA 1999, 34 |
NZA 1999, 154 |
RdA 1999, 230 |
SAE 1999, 205 |
AP, 0 |
AuA 1999, 180 |