Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsprüfung. Beitragsnachforderungsbescheid. Bestandskraft. Rücknahme nur nach § 45 SGB 10. bedingter Vorsatz schließt Glaubhaftmachung unverschuldeter Nichtkenntnis von Beitragspflicht aus. Begrenzung der aufschiebenden Wirkung auf Widerspruchsverfahren. Sozialversicherungspflicht. Kurierfahrer. Bürokraft
Leitsatz (amtlich)
1. Bedingter Vorsatz verhindert Exkulpierung wegen unverschuldeter Unkenntnis der Beitragspflicht.
2. Zur Begrenzung der hergestellten aufschiebenden Wirkung auf das Widerspruchsverfahren.
3. Bestandskräftig verbeschiedene Betriebsprüfungszeiträume dürfen nur nach § 45 SGB 10 Gegenstand eines neuen Prüfbescheides werden.
Orientierungssatz
Zur Sozialversicherungspflicht der Tätigkeiten als Kurierfahrer und Bürokraft.
Tenor
I. Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts München vom 06.07.2012 teilweise abgeändert und die aufschiebende Wirkung des Widerspruches der Antragstellerin gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 19.03.2012 insoweit angeordnet, als Gesamtsozialversicherungsbeiträge und Säumniszuschläge für die Zeit vom 01.01.2002 bis 31.12.2007 gefordert werden; im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
II. Die Kosten beider Rechtszüge trägt die Antragstellerin zu 1/4, die Antragsgegnerin zu 3/4.
III. Der Streitwert wird für beide Rechtszüge auf 140.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt die aufschiebende Wirkung eines Widerspruches gegen einen Beitragsnachforderungsbescheid aufgrund Betriebsprüfung herzustellen.
1.
Die Antragstellerin ist eine in A-Stadt ansässige GmbH, die 2007 aus der vormaligen, im Handelsregister des Amtsgerichts A-Stadt unter HRA 76038 eingetragenen "G. OHG" durch Rechtsformenumwandlung nach dem Umwandlungsgesetz hervorgegangen ist. Handelsregisterlich eingetragene Unternehmensgegenstände der Antragstellerin sind "Postdienst und postnahe Leistungen, Outsourcing-Dienstleistungen, Direktmarketing, Dienstleistungen und Fulfillmentdienstleistungen". Auf ihrer Homepage bietet die Antragstellerin u. a. an, beim Kunden dessen Postsendungen abzuholen und diese bei der Post aufzuliefern. Dazu sind auf u. a. firmeneigene Transporter des Fabrikats Mercedes Sprinter mit der Werbeaufschrift www...de abgebildet.
Die Antragsgegnerin führte am 30.01.2008 eine Betriebsprüfung der Antragstellerin für den Zeitraum 01.01. bis 31.12.2007 durch und forderte als Ergebnis mit Bescheid vom 18.02.2008 Umlagen in Höhe von 34,23 € nach. Der Bescheid ist bestandskräftig geworden.
2.
Im Frühjahr 2009 führte das Hauptzollamt A-Stadt - Finanzkontrolle Schwarzarbeit zur Geschäftstätigkeit der Antragstellerin Ermittlungen durch. Es kam dabei zu dem Ergebnis, dass die Antragstellerin den 1959 geborenen D. (B. D.), den 1930 geborenen G. K. (G. K.), den 1939 geborenen C. H. (C. H.), den 1974 geborenen C. G. (C. G.) und den 1975 geborenen T. G. (T. G.) als selbstständige Kurierfahrer geführt und die 1983 geborene A. K. (A.K.) von 2005 bis 2009 auf Selbstständigkeitsbasis mit Arbeiten als Büroangestellte beauftragt hatte, obgleich diese in den Betriebsablauf der Antragstellerin eingebunden abhängig beschäftigt gewesen waren. Die Ermittlungen führten zur Anklageschrift der Staatsanwaltschaft A-Stadt I vom 24.11.2011, wonach A. als einer der Geschäftsführer der Antragstellerin des vorsätzlichen Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen beschuldigt ist.
Die Antragsgegnerin wertete die Ermittlungsakten des Hauptzollamtes aus und hörte die Antragstellerin mit Schreiben vom 11.01.2011 und 26.09.2011 zur beabsichtigten Nachforderung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen für die Zeit 1.1.2002 bis 31.07.2009 an. Die als Selbstständige geführten Kurierfahrer seien tatsächlich abhängig beschäftigt gewesen, weil sie ohne eigene Betriebsmittel in den Betrieb des Antragstellers eingebunden nach dessen festen Vorgaben tätig gewesen seien. Die A. K. habe nur dem Scheine nach als selbstständig Tätige Büroarbeiten in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis erbracht. Die Antragsgegnerin wandte ein, sie habe die Kurierfahrer nach deren Wünschen als Selbständige geführt, A. K. habe eine selbstständige Tätigkeit ausgeübt. Die Handhabung der Kurierfahrer und der A. K. habe die Antragstellerin gemäß Beitragsprüfungsbescheid vom 18.02.2008 unbeanstandet gelassen hatte. Die Antragstellerin bezog sich hinsichtlich des B. D. darauf, dass dieser ein eigenes Fahrzeug gefahren habe wie eine in Kopie vorgelegte Zahlungserinnerung der R.-Bank gegenüber dem B. D. beweise, wonach dieser für ein eigenes Fahrzeug mit 434,74 € Monatsraten in Rückstand geraten sei..
Mit Bescheid vom 19.03.2012 forderte die Antragsgegnerin von der Antragstellerin für den Prüfzeitraum 01.01.2002 bis 30.06.2009 Gesamtsozialversicherungsbeiträge in Höhe von 573.209,30 € einschließlich Säumniszuschläge in Höhe von 211.752,00 € nach, weil die Kurierfahrer sowie A. K. tatsächlich abhängig Beschäftigte der Antragstellerin gewesen seien. Die Fahrer hätten vorgegebene Tour...