Entscheidungsstichwort (Thema)
Überraschung der Beteiligten mit einer Tatsachenwürdigung
Orientierungssatz
Gemäß § 278 Abs 3 ZPO der über § 202 SGG im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anzuwenden ist, darf das Gericht auf einen rechtlichen Gesichtspunkt, den eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, seine Entscheidung nur stützen, wenn es Gelegenheit zur Äußerung dazu gegeben hat. Rechtlicher Gesichtspunkt ist beim Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit, welchen qualitativen Wert die bisherige Berufstätigkeit hat. § 278 Abs 3 ZPO soll verhindern, daß die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht würden, die auf einer Rechtsauffassung beruht, zu der Stellung zu nehmen die Beteiligten beim tatsächlichen Sach- und Streitstand keine Veranlassung gehabt haben. Ebenso stellt sicht die Rechtslage dar, wenn die Beteiligten mit einer Tatsachenwürdigung überrascht werden, für die bisher keine Hinweise vorhanden gewesen sind (vgl BSG vom 15.10.1986 - 5b RJ 24/86 = SozR 1500 § 62 Nr 20).
Normenkette
SGG §§ 62, 128 Abs 2, § 202; GG Art 103 Abs 1; ZPO § 278 Abs 3; RVO § 1246
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 28.06.1989; Aktenzeichen L 8 J 238/86) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 28.10.1986; Aktenzeichen S 11 J 225/83) |
Tatbestand
Der im Jahre 1935 in Jugoslawien geborene Kläger begehrt Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit. In seiner Heimat war er als qualifizierter Arbeiter anerkannt und als Maschinenschlosser beschäftigt. Im Juni 1967 bestand er vor einer entsprechenden Kommission die Prüfung als hochqualifizierter Arbeiter im Webereifach mit der Befähigung eines Webermeisters. Als solcher war er anschließend tätig. Von 1969 bis 1981 arbeitete der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland bei verschiedenen Firmen als Schlosser. Den Rentenantrag des Klägers vom 21. März 1983 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 25. Juli 1983 ab.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 28. Oktober 1986 abgewiesen. Es ist von einer bisherigen Berufstätigkeit des Klägers als Facharbeiter ausgegangen und hat ihn auf Tätigkeiten als Material- und Werkzeugausgeber verwiesen. Die dagegen gerichtete Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 28. Juni 1989). Es hat ausgeführt, die vom Kläger in Jugoslawien erworbenen beruflichen Qualifikationen im Metallfach und als Webermeister führten nicht zur Zuerkennung der Facharbeitereigenschaft im Sinne des deutschen Rentenrechts. Im Textilfach (Weberei) habe der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland nicht gearbeitet. Es könne nicht angenommen werden, daß die Ausbildung im Metallfach in Jugoslawien mit der Lehre eines Schlossers in Deutschland vergleichbar sei. Grundsätzlich unterschieden sich die Ausbildungsanforderungen im handwerklichen und industriellen Bereich im Ausland erheblich von den Ausbildungsinhalten entsprechender Berufe in Deutschland, wie dem Senat bekannt sei. Entscheidend für die Zuordnung zu einer bestimmten Berufsgruppe sei die letzte versicherungspflichtige Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland. Bei den letzten vier Arbeitgebern sei der Kläger bei Anlerntätigkeiten eingesetzt worden, so daß er in den unteren Bereich der Gruppe von Versicherten mit dem Leitberuf des sonstigen Ausbildungsberufs einzureihen sei. Er sei nicht berufsunfähig, weil er noch leichte und mittelschwere Arbeiten in vollen Schichten verrichten könne, sofern diese keine optischen Kontrollen verlangten.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom Senat zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht zurückzuverweisen, welches das angefochtene Urteil erlassen hat.
Die Beklagte stellt keinen Antrag und äußert sich nicht zum Revisionsvorbringen des Klägers.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Rechtsstreits gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision des Klägers ist iS der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet.
Dem Kläger ist, wie er zu Recht rügt, das rechtliche Gehör (§§ 62, 128 Abs 2 SGG, Art 103 des Grundgesetzes -GG-) versagt worden. Dieser Grundsatz soll gewährleisten, daß den Beteiligten von Amts wegen Gelegenheit gegeben wird, sich zu jedem tatsächlichen Vorbringen und zu allen Beweisergebnissen zu äußern (§ 128 Abs 2 SGG). Werden die Beteiligten mit einer Tatsachenwürdigung überrascht, für die bisher keine Hinweise vorhanden waren, so ist das rechtliche Gehör verletzt (so das Urteil des erkennenden Senats vom 15. Oktober 1986 in SozR 1500 § 62 Nr 20). Das ist hier geschehen.
Bei der Entscheidung über die vom Kläger nach § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) begehrte Rente wegen Berufsunfähigkeit ist das SG von einer "bisherigen Berufstätigkeit" iS des Abs 2 der genannten Vorschrift als Facharbeiter ausgegangen und zwar "vom erlernten Beruf eines Maschinenschlossers". Ein gelernter Arbeiter müsse sich, so hat das SG ausgeführt, auf Tätigkeiten außerhalb seines erlernten Berufs verweisen lassen, soweit sich diese aus dem Kreis untergeordneter Tätigkeiten deutlich heraushöben, etwa bei einer Vertrauensstellung oder bei einer Stellung mit besonderer Verantwortung. Für eine Verweisung des Klägers kämen Material- und Werkzeugausgeber in Betracht. Das Urteil des SG ist vom Kläger in der Berufungsinstanz mit der Begründung angefochten worden, sein Sehvermögen erlaube es ihm nicht, die genannten Verweisungstätigkeiten auszuführen. Im Gegensatz zum SG hat das LSG im angefochtenen Urteil die "bisherige Berufstätigkeit" des Klägers der Gruppe mit dem Leitberuf des sonstigen Ausbildungsberufs zugeordnet. Nicht einmal in den oberen, sondern in den unteren Bereich dieser Gruppe sei der Kläger einzureihen, weil die Anlernzeit für die von ihm verrichteten Arbeiten nur drei bis sechs Monate betragen habe. Das SG habe ihn zu Unrecht in die Berufsgruppe der Facharbeiter eingestuft.
In seiner Entscheidung vom 15. Oktober 1986 (aaO) hat sich der erkennende Senat auf § 278 Abs 3 der Zivilprozeßordnung (ZPO) berufen. Nach dieser Vorschrift, die über § 202 SGG im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anzuwenden ist, darf das Gericht auf einen rechtlichen Gesichtspunkt, den eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, seine Entscheidung nur stützen, wenn es Gelegenheit zur Äußerung dazu gegeben hat. Rechtlicher Gesichtspunkt ist beim Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit, welchen qualitativen Wert die bisherige Berufstätigkeit hat. § 278 Abs 3 ZPO - so der Senat (aaO) - soll verhindern, daß die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht würden, die auf einer Rechtsauffassung beruht, zu der Stellung zu nehmen die Beteiligten beim tatsächlichen Sach- und Streitstand keine Veranlassung gehabt haben. Ebenso stellt sich die Rechtslage dar, wenn die Beteiligten mit einer Tatsachenwürdigung überrascht werden, für die bisher keine Hinweise vorhanden gewesen sind (so ebenfalls der Senat aaO).
Im Fall des Klägers hätte das LSG ihn auf die Möglichkeit einer vom SG abweichenden Beweiswürdigung bei der Bewertung der bisherigen Berufstätigkeit hinweisen müssen. Diese Frage war nicht erkennbar Gegenstand einer Erörterung im Laufe des Berufungsverfahrens. Zwar hat das LSG in der Beweisanordnung vom 3. Februar 1989 eine Sachverständige um eine Stellungnahme zu Tätigkeiten gebeten, auf die möglicherweise ein Facharbeiter nicht verwiesen werden kann. Das reicht aber nicht aus, um hier eine Verletzung des rechtlichen Gehörs zu verneinen. Da der Kläger auf das Gutachten geantwortet hat, für ihn als Facharbeiter seien die von der Sachverständigen genannten Tätigkeiten nicht zumutbar, ging er erkennbar von der vom LSG als unrichtig angesehenen Rechtsauffassung des SG aus. Bei dieser Sachlage hätte es des Hinweises auf die Möglichkeit einer anderen rechtlichen Bewertung bedurft. Auch aus der Tatsache, daß das LSG noch eine Arbeitgeberauskunft eingeholt hat und aus dem Inhalt dieser Auskunft, mußte der Kläger nicht zu der Erkenntnis gelangen, er habe sich auf einen neuen rechtlichen Gesichtspunkt einzustellen.
Der Kläger hat auch vorgetragen, daß er nach dem für erforderlich gehaltenen Hinweis des LSG mit entsprechendem Beweisantritt seine Facharbeiterqualifikation dargetan hätte. Aufgrund der somit begründeten Rüge einer Verletzung des rechtlichen Gehörs konnte das angefochtene Urteil keinen Bestand haben. Da das Revisionsgericht im Hinblick auf die noch erforderlichen Tatsachenermittlungen nicht selbst entscheiden kann, war der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen