Entscheidungsstichwort (Thema)
Verhaltensbedingte Kündigung. Auflösungsantrag des Arbeitgebers. Strafanzeige gegen Vorgesetzten
Leitsatz (amtlich)
Eine Strafanzeige eines Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber oder einen Vorgesetzten ist dann nicht als Kündigungsgrund geeignet, wenn in der Strafanzeige nicht wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben enthalten sind (Anschluss an BVerfG Beschluss vom 02. Juli 2001 – 1 BvR 2049/00 – NJW 2001, 3474).
Normenkette
KSchG § 1 Abs. 2 S. 1, § 9 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
ArbG Kassel (Urteil vom 07.02.2001; Aktenzeichen 5 Ca 418/00) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Kassel vom 7. Februar 2001 – 5 Ca 418/00 – teilweise abgeändert:
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien auch durch die ordentliche Kündigung des Beklagten vom 1. August 2000 zum 30. September 2000 nicht aufgelöst worden ist.
Die Anschlussberufung des Beklagten mit dem Auflösungsantrag des Beklagten wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat der Beklagte zu tragen.
Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer arbeitgeberseitigen ordentlichen Kündigung und um einen arbeitgeberseitigen Auflösungsantrag.
Der Beklagte ist ein bundesweit tätiger freier Träger der Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit mit Sitz in Frankfurt am Main. In Kassel betreibt der Beklagte als Sektion Kassel bzw. Nordhessen ein Jugendgemeinschaftswerk mit verschiedenen Bereichen und etwa 45 fest angestellten Mitarbeitern und 30 bis 35 Honorarkräften; das zentrale Büro des Beklagten in Kassel befindet sich in der … Einrichtungsleiter der Sektion Nordhessen ist der Sozialarbeiter …, der für die organisatorischen Abläufe zuständig ist und für seinen Bereich das Direktionsrecht des Arbeitgebers ausübt, jedoch nicht kündigungsberechtigt ist. Die Sektion Nordhessen ist der Region West zugeordnet, und insoweit sind ab dem 01. Mai 2000 kündigungsberechtigt die Herren … und … (vgl. dazu die Kopie des entsprechenden Aushangs vom 09. Mai 2000 Blatt 56 d.A.). Die zuständige Leiterin des Sachgebiets Personal ist Frau …, während Herr … als Verbandsgeschäftsführer unmittelbarer Vorgesetzter des Herrn … ist – beide sind nicht kündigungsberechtigt. Für den Bereich Süd-West, zu dem Kassel zählt, ist ein Betriebsrat gebildet.
Der am 06. Juni 1962 geborene ledige Kläger, der einem Kind gegenüber unterhaltsverpflichtet ist, ist beim Beklagten seit dem 01. Mai 1997 in Kassel als Sozialberater mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 29 Stunden beschäftigt. Er verdiente zuletzt DM 3.677,18 brutto pro Monat.
Auf das Arbeitsverhältnis findet ein Haus-Manteltarifvertrag Anwendung. Dieser sieht in § 7 Abs. 2 vor, dass Mitarbeiter von dienstlichen Vorgängen zu außerdienstlichen Zwecken weder sich noch anderen Kenntnis, Abschriften, Ab- oder Nachbildungen verschaffen dürfen.
Der Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis des Klägers mit Schreiben vom 01. August 2000 (Kopie Blatt 6 d.A., worauf für den Wortlaut Bezug genommen wird), das dem Kläger am selben Tage zuging, außerordentlich mit sofortiger Wirkung. Die Kündigung wurde damit begründet, dass der Kläger Strafanzeige gegen Herrn … erstattet und der Anzeige Unterlagen des Beklagten beigefügt habe, die er sich unberechtigt verschafft habe. Der Betriebsrat Südwest war insoweit mit Schreiben vom 27. Juli 2000 (Kopie Blatt 46/47 d.A.) angehört worden und hatte mit Schreiben vom 31. Juli 2000 (Kopie Blatt 50 bis 52 d.A.) Stellung genommen. Mit weiterem Schreiben vom 01. August 2000 (Kopie Blatt 5 d.A.) wurde dem Kläger Hausverbot erteilt. Mit einem dritten Schreiben vom 01. August 2000 (Kopie Blatt 7 d.A.) – unterzeichnet von Herrn …, wobei keine Originalvollmacht beilag – kündigte der Beklagte hilfsweise ordentlich zum 30. September 2000. Die Begründung dieser Kündigung stimmt mit der für die außerordentliche Kündigung überein, und die Kündigungsfrist von sechs Wochen zum Quartalsende entspricht dem Mantel-Haustarifvertrag. Die ordentliche Kündigung ging dem Kläger am 03. August 2000 zu. Zuvor war der Betriebsrat Südwest dazu mit Schreiben vom 28. Juli 2000 (Kopie Blatt 48/49 d.A.) angehört worden und hatte mit seiner Stellungnahme vom 31. Juli 2000 (Blatt 50 bis 52 d.A.) reagiert.
Der Kläger hatte unter dem 21. März 2000 durch seine Prozessbevollmächtigten (zunächst ohne Angabe des Namens des Klägers) Strafanzeige gegen Herrn … bei der Staatsanwaltschaft Kassel erstattet, die dort unter dem Aktenzeichen 302 Js 10957/00 geführt wurde (vgl. zum näheren Inhalt der Anzeige Seite 3 unten des Urteils des Arbeitsgerichts = Blatt 122 d.A.). Vorausgegangen waren Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen dem Kläger und Herrn …, u. a. im Zusammenhang mit Arbeitszeitabrechnungen. Das Ermittlungsverfahren gegen Herrn … wegen Untreue ist zwischenzeitlich gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden. Ein weiteres Ermittlungsverfahren...