Entscheidungsstichwort (Thema)
Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall: 80 % oder 100 %
Leitsatz (amtlich)
1. Nach § 9 Abs. 1 des MTV für die Firma Max Dimke Fleischwarenfabrik (gleichlautend: § 9 des Einheitlichen MTV für die Arbeitnehmer in den Betrieben der Fleischwaren-Industrie Westfalen vom 6. Mai 1994) hat der Arbeitnehmer bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit keinen Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts in Höhe von 100 %.
2. Auch eine tarifliche Verweisung auf bereits außer Kraft getretene gesetzliche Bestimmungen kann ein bloßer Hinweis auf die jeweils geltenden gesetzlichen Bestimmungen sein.
Normenkette
EFZG § 4 Abs. 1 S. 1 n.F.; MTV bei der Firma Max Dimke Fleischwarenfabrik vom 11. Mai 1995 § 9; Einheitlicher MTV für die Arbeitnehmer in den Betrieben der Fleischwaren-Indu strie Westfalen vom 6. Mai 1994
Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 16. Juni 1997 - 18 Sa 410/97 - aufgehoben.
2. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Mönchengladbach vom 12. März 1997 - 2 Ca 268/97 - geändert:
Die Klagen werden abgewiesen.
3. Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Kläger: zu 1) (B) 6/20, der Kläger zu 2) (M) 1/20, der Kläger zu 3) (S) 9/20 und der Kläger zu 4) (G) 4/20 zu tragen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Die Kläger, Mitglieder der Gewerkschaft Nahrung, Genuß, Gaststätten, sind bei der Beklagten, die mit dieser Gewerkschaft einen Haustarifvertag abgeschlossen hat, beschäftigt. Die hier interessierenden Bestimmungen des Tarifvertrages vom 11. Mai 1995 (TV) lauten wie folgt:
§ 8
Entschädigungspflichtige Arbeitsversäumnisse
Der Arbeitnehmer hat Anspruch auf Entgeltfortzahlung bei Arbeitsversäumnis in folgenden Fällen:
i) Bei schwerer Erkrankung des mit dem Arbeitnehmer in häuslicher Gemeinschaft lebenden Ehegatten, wenn die Notwendigkeit der Anwesenheitszeit ärztlich bescheinigt wird - bis zu drei Arbeitstagen.
Das gleiche gilt für Mütter oder Väter, jedoch nur ein Elternteil, soweit sie unmündige Kinder zu versorgen haben.
§ 9
Arbeitsversäumnis in Krankheitsfällen
1. Bei Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit sowie während eines von einem Versicherungsträger zur Erhaltung der Berufsfähigkeit bewilligten Heilverfahrens hat der Arbeitnehmer Anspruch auf Fortzahlung seiner Bezüge nach Maßgabe des Gesetzes über die Fortzahlung des Arbeitsentgeltes im Krankheitsfalle vom 27. Juli 1969 bzw. des § 616 Abs. 2 BGB (das sind 6 Wochen).
3. Bei länger dauernder Arbeitsunfähigkeit wird dem Arbeitnehmer über die 6-wöchige Entgeltfortzahlung hinaus nach einer Betriebszugehörigkeit von mehr als 5 Jahren ein Zuschuß zum Krankengeld in Höhe des Differenzbetrages zwischen Krankengeld und 100 % des Nettoentgeltes für die Dauer von 2 Wochen und nach einer Betriebszugehörigkeit von mehr als 10 Jahren ein Zuschuß in derselben Höhe für weitere 2 Wochen - insgesamt also für 4 Wochen - gezahlt.Dabei soll der Arbeitnehmer, wenn er innerhalb eines Monats Entgeltfortzahlung, Krankengeld und Zuschuß zusammenfallen, für den betreffenden Monat insgesamt nicht mehr erhalten, als wenn er gearbeitet hätte.
4. Beruht die Arbeitsunfähigkeit auf einem Arbeitsunfall oder einer anerkannten Berufskrankheit, so ist vom Arbeitgeber ab der siebten Krankheitswoche der Unterschiedsbetrag zwischen den Leistungen der gesetzlichen Kranken- oder Unfallversicherung und dem Nettodurchschnittsverdienst bis zu einer Dauer von sieben Wochen zu zahlen. ...
Der Kläger B war im November 1996 an 78 Stunden arbeitsunfähig erkrankt, der Kläger M im November 1996 an 23 Stunden, der Kläger S im Dezember 1996 an 172 Stunden und der Kläger Gillrath im Dezember 1996 und Januar 1997 an insgesamt 85 Stunden. Die Beklagte leistete Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 % des Arbeitsentgelts unter Berufung auf die ab 1. Oktober 1996 geltende neue Fassung des § 4 EFZG.
Die Kläger beanspruchen die Differenz zwischen 80 und 100 % ihres Arbeitsentgelts in rechnerisch unstreitiger Höhe. Sie meinen, § 9 des Tarifvertrages enthalte eine eigenständige tarifliche Regelung, die von der gesetzlichen Änderung unberührt bleibe.
Der Kläger B hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 476,00 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich ergebenden Nettobetrag seit dem 30. Januar 1997 zu zahlen;
der Kläger M hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 80,59 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich ergebenden Nettobetrag seit dem 30. Januar 1997 zu zahlen;
der Kläger S hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 822,50 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich ergebenden Nettobetrag seit dem 19. Februar 1997 zu zahlen;
der Kläger G hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 387,77 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich ergebenden Nettobetrag seit dem 12. März 1997 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klagen abzuweisen. Sie ist der Auffassung, § 9 Nr. 1 TV enthalte eine deklaratorische Regelung. Aus dem Umstand, daß der Tarifvertrag auf nicht mehr geltende gesetzliche Bestimmungen verweise, ergebe sich nichts anderes. Denn der Tarifvertrag gelte seit den achtziger Jahren unverändert und sei ohne Diskussion in den jetzt geltenden Tarifvertrag übernommen worden. Daher sei das Gesetz in der jeweils gültigen Fassung maßgeblich.
Das Arbeitsgericht hat den Klagen stattgegeben. Die Berufung war erfolglos. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihre Klageabweisungsanträge weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Kläger haben für die Zeit ihrer Erkrankungen keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung in Höhe von 100 % ihres Arbeitsentgelts. § 9 Nr. 1 TV enthält entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts keine eigenständige (konstitutive) Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung.
I. Bis zum 31. Mai 1994 galt für Arbeiter das "Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle (Lohnfortzahlungsgesetz)" vom 27. Juli 1969, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Dezember 1988. Angestellte hatten Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach § 616 Abs. 2 BGB, § 63 HGB und § 133 c GewO. Durch das Entgeltfortzahlungsgesetz vom 26. Mai 1994, in Kraft getreten am 1. Juni 1994 (Art. 68 Abs. 4 PflegeVG vom 26. Mai 1994 - BGBl. I 1014, 1070), wurde die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter und Angestellte auf eine einheitliche gesetzliche Grundlage gestellt. Dabei blieb die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts zunächst unverändert. Durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. September 1996 (BGBl. I 1476, 1477) wurde die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall herabgesetzt. Sie beträgt nunmehr nach § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG n. F. nur noch "80 von Hundert des dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelts".
Bestehende tarifliche Regelungen sind durch die gesetzliche Neuregelung nicht aufgehoben worden. Der Gesetzgeber wollte in bestehende Tarifverträge nicht eingreifen (BT-Drucks. 13/4612, S. 2; Buchner, NZA 1996, 1177, 1179).
Nach § 9 Nr. 1 des Haustarifvertrags hat der arbeitsunfähig erkrankte Arbeitnehmer "Anspruch auf Fortzahlung seiner Bezüge nach Maßgabe des Gesetzes über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle vom 27. Juli 1969 bzw. des § 616 Abs. 2 BGB (das sind sechs Wochen)". Damit haben die Tarifvertragsparteien keine von den damaligen gesetzlichen Bestimmungen (LohnFG, § 133 c GewO, § 63 HGB, § 616 Abs. 2 BGB) abweichende Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung getroffen. Gesetzesgleiche Tarifbestimmungen sind zulässig. Die Tarifvertragsparteien können auch durch eine Verweisung auf gesetzliche Vorschriften eine bestimmte Gesetzesfassung unabhängig von deren gesetzlicher Weitergeltung zum Inhalt ihrer Tarifregelung machen (vgl. BAG Urteil vom 23. April 1957 - 1 AZR 477/56 - AP Nr. 1 zu § 1 TVG; Buchner, NZA 1996, 1177, 1182; Rieble, RdA 1997, 134, 135 f., 140).
II. Die Auslegung des Tarifvertrags ergibt aber, daß die Tarifvertragsparteien im Streitfall keine selbständige Regelung über die Höhe der Entgeltfortzahlung getroffen haben.
1. In diesen Zusammenhang finden die Grundsätze für die Auslegung des normativen Teils von Tarifverträgen Anwendung (vgl. hierzu und zum folgenden BAG Urteile vom 16. Juni 1998 - 5 AZR 67/97 - und - 5 AZR 638/97 - beide zur Veröffentlichung vorgesehen).
2. In seiner Rechtsprechung zur tariflichen Übernahme gesetzlicher Kündigungsfristen hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts folgenden Auslegungsgrundsatz entwickelt: "Werden einschlägige gesetzliche Vorschriften wörtlich oder inhaltlich unverändert in einen umfangreichen Tarifvertrag aufgenommen, so handelt es sich um deklaratorische Klauseln, wenn der Wille der Tarifvertragsparteien zu einer gesetzesunabhängigen eigenständigen Tarifregelung im Tarifvertrag keinen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden hat" (BAGE 40, 102 = AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; BAGE 74, 167; 81, 76 = AP Nr. 42, 48 zu § 622 BGB; Urteil vom 14. Februar 1996 - 2 AZR 201/95 - AP Nr. 50 zu § 622 BGB; Urteil vom 14. Februar 1996 - 2 AZR 166/95 - AP Nr. 21 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie; Urteil vom 29. Januar 1997 - 2 AZR 370/96 - NZA 1997, 726; zuletzt Urteil vom 6. November 1997 - 2 AZR 707/96 - juris).
3. a) Hinsichtlich tariflicher Verweisungen auf gesetzliche Vorschriften gilt nach der Rechtsprechung des Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts dieselbe Auslegungsregel wie bei der wörtlichen oder inhaltlichen unveränderten Aufnahme einschlägiger gesetzlicher Vorschriften in ein Tarifwerk. Danach sind auch Verweisungen im Zweifel deklaratorisch, wenn nicht der Wille zur Schaffung einer eigenständigen Norm im Tarifvertrag einen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden hat (BAGE 40, 102 = AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; Beschluß vom 28. Januar 1988 - 2 AZR 296/87 - und Urteil vom 4. März 1993 - 2 AZR 355/92 - AP Nr. 24, 40 zu § 622 BGB; vgl. auch BAG Urteil vom 12. November 1964 - 5 AZR 507/63 - AP Nr. 4 zu § 34 SchwBeschG 1961).
b) Dem Zweiten Senat ist zumindest hinsichtlich tariflicher Verweisungen auf geltende ohnehin anwendbare gesetzliche Vorschriften zu folgen. Diese sind im Zweifel deklaratorisch. Dabei macht es keinen Unterschied, ob allgemein auf gesetzliche Bestimmungen oder auf bestimmte Gesetze, z. B. das Lohnfortzahlungsgesetz bzw. die für Angestellte geltenden gesetzlichen Vorschriften verwiesen wird, oder ob es heißt, der Arbeitnehmer habe Anspruch auf Fortzahlung des Gehalts oder "seiner Bezüge" nach oder nach Maßgabe bestimmter gesetzlicher Vorschriften. Mit einer Verweisung auf ein ohnehin anwendbares Gesetz bringen die Tarifvertragsparteien in aller Regel zum Ausdruck, daß das Gesetz und nicht der Tarifvertrag maßgeblich sein soll. Bei der Aufnahme einer Verweisung in den Tarifvertrag haben die Tarifvertragsparteien zwar meist genaue Vorstellungen vom Inhalt der gesetzlichen Regel. Eine solche Vorstellung ist aber bei Verweisungen mit dem Willen zur Schaffung einer eigenständigen Regelung nicht gleichzusetzen.
Aus einer deklaratorischen Verweisung wird nicht dadurch eine konstitutive Regelung, daß die gesetzlichen Bestimmungen, auf die verwiesen wird, hier das Lohnfortzahlungsgesetz und § 616 Abs. 2 BGB, außer Kraft treten und die Tarifvertragsparteien die Verweisungsvorschrift unverändert lassen.
c) Auch neue Tarifverträge, die Verweisungen auf inzwischen außer Kraft getretene gesetzliche Vorschriften unverändert aus früheren Tarifverträgen übernehmen, sind im Zweifel deklaratorisch.
Der hier auszulegende Haustarifvertrag ist am 11. Mai 1995, also zu einem Zeitpunkt abgeschlossen worden, zu dem die Vorschriften, auf die der Tarifvertrag verweist (Lohnfortzahlungsgesetz und § 616 Abs. 2 BGB), bereits außer Kraft getreten waren. Verweist ein Tarifvertrag auf ein nicht mehr gültiges Gesetz, so spricht dies zunächst dafür, daß es sich um eine eigenständige (konstitutive) tarifliche Regelung, also eine statische Verweisung handelt. Das gilt jedoch dann nicht, wenn die Formulierung unverändert aus den vorangegangenen Tarifverträgen übernommen wurde und auch sonst keine Anhaltspunkte für einen Regelungswillen der Tarifvertragsparteien sprechen.
So verhält es sich hier. Sowohl der Haustarifvertrag vom 26. November 1982 als auch der "einheitliche Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer in den Betrieben der Fleischwaren-Industrie Westfalen" vom 6. Mai 1994 enthielten wortgleiche Regelungen unter derselben Überschrift ("Arbeitsversäumnis in Krankheitsfällen"). Der Tarifvertrag verweist nicht auf eine bestimmte Fassung des Lohnfortzahlungsgesetzes und des § 616 BGB. Nichts spricht dafür, daß die Tarifvertragsparteien mit derselben Formulierung nunmehr eine Regelung mit anderem Inhalt treffen wollten. Bei Abschluß des Haustarifvertrags vom 11. Mai 1995 galt das Entgeltfortzahlungsgesetz noch in seiner ursprünglichen Fassung, wonach der Arbeitnehmer Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts in Höhe von 100 % hatte. Zu diesem Zeitpunkt bestand für die Tarifvertragsparteien auch kein Anlaß, die Höhe der Entgeltfortzahlung nunmehr eigenständig zu regeln.
4. a) Der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts verlangt, daß der Wille zur Schaffung einer von der gesetzlichen Norm unabhängigen eigenständigen Regelung im Tarifvertrag "einen hinreichend erkennbaren Ausdruck" gefunden hat. Das sei z. B. bei Formulierungen wie, die Tarifbestimmung gelte "unabhängig von der gesetzlichen Regelung" oder "auch bei Änderung der gesetzlichen Regelung", der Fall. Diese Formulierungen betreffen allein die wort- oder inhaltsgleiche Übernahme der gesetzlichen Bestimmungen in den Tariftext. Bei Verweisungen könnte die Formulierung etwa lauten, "es gilt das Gesetz in seiner am ... gültigen Fassung" . Der Wille zur Schaffung einer eigenständigen Regelung kann sich aber nicht nur aus derartigen Formulierungen, sondern auch aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang ergeben. Das ist auch bei Verweisungen nicht von vornherein ausgeschlossen.
Zumindest für den Bereich der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ist zu unterscheiden zwischen der wortgleichen oder inhaltsgleichen Übernahme einschlägiger gesetzlicher Vorschriften und Tarifbestimmungen, die nur auf die gesetzlichen Vorschriften oder das Lohnfortzahlungsgesetz bzw. das Entgeltfortzahlungsgesetz verweisen. Da die Tarifvertragsparteien mit allgemeinen oder umfassenden Verweisungen auf ohnehin anwendbare gesetzliche Vorschriften typischerweise ihren fehlenden Regelungswillen zum Ausdruck bringen, bedarf es in solchen Fällen besonders deutlicher Anhaltspunkte dafür, daß gleichwohl ein Regelungswille bestand. Anders verhält es sich bei wortgleicher oder inhaltsgleicher Übernahme einschlägiger gesetzlicher Vorschriften eines Tarifvertrags ohne Nennung des Gesetzes. Zwar bedarf es auch hier nach Auffassung des Zweiten Senats zusätzlicher Anhaltspunkte, um auf den Willen der Tarifvertragsparteien zur Schaffung einer gesetzesunabhängigen Regelung schließen zu können. Da aber in derartigen Fällen nicht schon der Wortlaut des Tarifvertrags gegen das Bestehen eines Regelungswillens spricht, sind insoweit weniger strenge Anforderungen an den Ausdruck dieses Willens zu stellen.
Diese Unterschiede zeigen sich insbesondere bei der Bedeutung, die das Vorhandensein einer eigenständigen (konstitutiven) Tarifregelung über die Zahlung von Zuschüssen zum Krankengeld ab der siebten Krankheitswoche für die Auslegung hat. Der Senat sieht in einer solchen Regelung bei bloßen Verweisungen - anders als bei der wortgleichen oder inhaltsgleichen Übernahme gesetzlicher Bestimmungen in den Tarifvertrag - kein hinreichend starkes Indiz dafür, daß der Tarifvertrag die Höhe der Entgeltfortzahlung innerhalb der Sechswochenfrist eigenständig regelt.
b) § 9 Nr. 1 des Haustarifvertrags enthält eine bloße Verweisung auf das Lohnfortzahlungsgesetz und § 616 Abs. 2 BGB. Die Tarifvertragsparteien haben die gesetzlichen Bestimmungen weder wort- noch inhaltsgleich übernommen. Sie haben sie sich nicht zu eigen gemacht. Auch aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang ergibt sich nicht, daß es sich um eine eigenständige Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung handelt.
Nach § 9 Nr. 3 TV erhalten langjährig beschäftigte Arbeitnehmer vom Arbeitgeber ab der siebten Kalenderwoche einen Zuschuß zum Krankengeld in Höhe des Differenzbetrags zu 100 % des Nettoentgelts. Diese Regelung ist - auch nach den Grundsätzen des Zweiten Senats - eigenständig (konstitutiv), da ein über die gesetzlichen Bestimmungen hinausgehender Anspruch vereinbart wurde. Allein aus dem konstitutiven Charakter dieser Bestimmung folgt jedoch noch nicht, daß auch § 9 Nr. 1 TV als konstitutiv anzusehen wäre. Der konstitutive Charakter eines Teils eines zusammenhängenden Regelungsbereichs läßt noch keinen Schluß auf den Charakter des übrigen Teils der auszulegenden Bestimmung zu. Den Tarifvertragsparteien steht es frei, von ihrer Regelungsbefugnis nur in Teilbereichen Gebrauch zu machen und in anderen auf die gesetzlichen Bestimmungen zu verweisen (vgl. BAG Urteil vom 14. Februar 1996 - 2 AZR 166/95 - AP Nr. 21 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie, zu II 4 b der Gründe).
Das Vorhandensein einer eigenständigen Regelung ergibt sich nicht aus den Zwecken der Zuschußregelung. Die Zuschußregelung des § 9 Nr. 3 TV soll den länger beschäftigten Arbeitnehmer auch nach Ablauf der Sechswochenfrist für einen bestimmten Zeitraum finanziell (etwa) so stellen wie innerhalb der Sechswochenfrist. Dieser Zweck wird zwar nur erreicht, wenn dem Arbeitnehmer für die ersten sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit ein Anspruch auf Fortzahlung des vollen Arbeitsentgelts zusteht. Allein daraus kann aber bei Verweisungen wie der des § 9 Nr. 1 TV nicht auf eine eigenständige (konstitutive) Regelung geschlossen werden. Deutlich wird daraus nur, daß sich die Tarifvertragsparteien bei der Zuschußregelung eine vorausgegangene Entgeltfortzahlung zu 100 % vorgestellt, also auf der Basis der damaligen gesetzlichen Regelung verhandelt haben. Dessen ungeachtet bleibt die Verweisung auf das Lohnfortzahlungsgesetz und § 616 Abs. 2 BGB das, was sie von Anfang an war: Ein bloßer Hinweis auf das geltende Gesetzesrecht.
c) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 8 Nr. 1 Buchst. i TV und § 9 Nr. 3 Abs. 2 TV.
Nach der letztgenannten Vorschrift "soll der Arbeitnehmer, wenn innerhalb eines Monats Entgeltfortzahlung, Krankengeld und Zuschuß zusammenfallen, für den betreffenden Monat insgesamt nicht mehr erhalten, als wenn er gearbeitet hätte". Auch aus dieser Bestimmung folgt nur, daß die Tarifvertragsparteien über die Zuschußregelung auf der Basis der damaligen gesetzlichen Regelung verhandelt haben.
Nach § 8 Nr. 1 Buchst. i TV hat der Arbeitnehmer Anspruch auf Entgeltfortzahlung bei Arbeitsversäumnis bis zu drei Arbeitstagen "bei schwerer Erkrankung" des Ehegatten oder unmündiger Kinder, "wenn die Notwendigkeit der Anwesenheitszeit ärztlich bescheinigt wird". Das bedeutet, daß der Arbeitnehmer in diesen Fällen einen Anspruch auf Fortzahlung des vollen Arbeitsentgelts hat. Die Kläger meinen, es könne nicht dem Willen der Tarifvertragsparteien entsprochen haben, dem Arbeitnehmer bei eigener Krankheit einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 %, bei Krankheit naher Angehöriger dagegen einen Anspruch in Höhe von 100 % zu geben. Daraus würde aber nicht folgen, daß sie die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall eigenständig geregelt haben. Der Gesetzgeber hat die Höhe der Entgeltfortzahlung nur für den Krankheitsfall herabgesetzt. § 616 (Abs. 1) BGB ist unverändert geblieben, so daß bei vorübergehender Dienstverhinderung das Entgelt in voller Höhe weiter zu zahlen ist, soweit nicht abweichende Vereinbarungen getroffen wurden (vgl. § 619 BGB). Das ist hinzunehmen. Die Tarifvertragsparteien haben die Möglichkeit, eine einheitliche Regelung für beide Fälle zu schaffen.
d) Weitere Anhaltspunkte für das Bestehen einer eigenständigen Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung gibt es nicht. Nach alledem hat ein etwaiger Wille der Tarifvertragsparteien zur Schaffung einer eigenständigen Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung im Tarifvertrag keinen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden. Damit handelt es sich um einen deklaratorischen Hinweis auf die jeweils geltenden gesetzlichen Vorschriften, nicht um eine eigenständige (konstitutive) Regelung.
Unterschriften
Griebeling Reinecke Kreft Rolf Steinmann Heel
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 01.07.1998 durch Clobes, Amtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 436433 |
BB 1998, 2006 |
DB 1998, 2020 |
NZA 1998, 1066 |
RdA 1998, 384 |
SAE 1999, 158 |
ZTR 1998, 514 |
AP, 0 |