Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifliche Ausschlußfrist
Leitsatz (amtlich)
1. Bestimmt ein Tarifvertrag, daß Ansprüche dann nicht wegen Versäumung der Ausschlußfrist erlöschen, wenn der Tarifvertrag „dem Arbeitnehmer nicht ausgehändigt oder im Betrieb nicht ausgelegt oder ausgehängt ist”, so genügt der Arbeitgeber seinen Verpflichtungen nicht dadurch, daß er den Tarifvertrag zusammen mit Arbeitsanweisungen in einen allgemein zugänglichen mit „Info” beschrifteten Ordner ablegt.
2. Ob an dem Senatsurteil vom 5. November 1963 (- 5 AZR 136/63 - AP Nr. 1 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag) festzuhalten ist, wonach der Arbeitgeber seiner Verpflichtung aus § 8 TVG dadurch genügt, daß er den Tarifvertrag dem Arbeitnehmer zugänglich macht, bleibt unentschieden.
Normenkette
Allgemeinverbindliche Manteltarifverträge für den Hessischen Einzelhandel vom 31. März 1994, gültig ab 1. Januar 1994 und vom 24. September 1996, gültig ab 1. Januar 1996 §§ 18, 20; TVG § 8
Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 5. August 1997 - 9 Sa 744/97 - aufgehoben.
2. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Kassel vom 24. März 1997 - 3 Ca 709/96 - wird zurückgewiesen.
3. Der Beklagte hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über Vergütungsansprüche. Die Klägerin war im Zeitraum vom 2. Januar 1995 bis zum 15. oder 30. Juni 1996 aufgrund zahlreicher befristeter Arbeitsverträge als Urlaubs- und Krankheitsvertretung in der Verkaufsstelle des Beklagten in I als Verkäuferin beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien fanden kraft Allgemeinverbindlicherklärung die Gehaltstarifverträge für den Hessischen Einzelhandel vom 16./17. Juni 1993, gültig ab 1. März 1993, vom 29. Juni 1995, gültig ab 1. März 1995, und vom 24. September 1996, gültig ab 1. März 1996, sowie die Manteltarifverträge für den Hessischen Einzelhandel vom 31. März 1994, gültig ab 1. Januar 1994, und vom 24. September 1996, gültig ab 1. Januar 1996, Anwendung. Die vorgenannten Manteltarifverträge (MTV) enthalten jeweils folgende Bestimmungen:
§ 18 Fälligkeit und Erlöschen von Ansprüchen
Vergütungen von Mehr-, Nacht-, Sonn- oder Feiertagsarbeit sind spätestens am Schluß der folgenden Gehalts- und Lohnperiode mit dem Monatsentgelt auszuzahlen.
Nicht erfüllte Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis sind dem Arbeitgeber gegenüber schriftlich folgendermaßen geltend zu machen:
- Ansprüche auf Mehrarbeitsvergütungen und Zuschläge aller Art innerhalb von drei Monaten, gerechnet vom Gehalts- bzw. Lohnzahltag an, an welchem dem/der Arbeitnehmer/in die Abrechnung für den betreffenden Abrechnungszeitraum ausgehändigt wurde.
- Alle übrigen Ansprüche aus diesem Tarifvertrag sind spätestens binnen zwei Monaten nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses schriftlich geltend zu machen.
- Diese Fristen sind Ausschlußfristen. Ansprüche, die nicht vor Ablauf dieser Fristen schriftlich geltend gemacht werden, erlöschen.
- Die Ansprüche der Arbeitnehmer/innen erlöschen nicht, wenn dieser Tarifvertrag dem/den Arbeitnehmer/innen nicht ausgehändigt oder im Betrieb nicht ausgelegt oder ausgehängt ist.
- (…)
§ 20 Aushang
Bei Neueinstellungen ist dem/der Arbeitnehmer/in ein Abdruck dieses Tarifvertrages auszuhändigen. Jedem/r Arbeitnehmer/in ist eine Ausfertigung dieses Tarifvertrages auszuhändigen oder an geeigneter Stelle im Betrieb auszulegen.
Ein Exemplar des Manteltarifvertrags befand sich während der Beschäftigung der Klägerin in einem auf der Rückseite mit „Info” beschrifteten, nur etwa zur Hälfte gefüllten Leitz-Ordner hinter einem überstehenden, mit „TARIFVERTRÄGE” gekennzeichneten Trennblatt an letzter Stelle. Der Ordner enthielt zudem die Betriebs- und Hausordnung, Reisekostenregelungen sowie Verkaufs- und Kassieranweisungen, die die Klägerin vor einem von ihr am 18. Januar 1996 abgelegten Foto- und einem am 22. März 1996 absolvierten Kassen- und Inventurtest durcharbeiten mußte. Der Ordner war einer von insgesamt neun Ordnern, die in dem Büro der Verkaufsstelle auf dem einzigen Regalbrett über dem dort befindlichen Tisch standen. Das Büro war allen Arbeitnehmern jederzeit zugänglich; kein Arbeitnehmer hatte dort seinen festen Arbeitsplatz. Der Klägerin wurde bei der Einstellung weder ein Exemplar des Manteltarifvertrages ausgehändigt noch wurde sie vom Beklagten darauf hingewiesen, daß sich der Manteltarifvertrag in dem genannten Ordner befinde und dort eingesehen werden könne. Die Klägerin bat auch nicht um die Bekanntgabe des Manteltarifvertrags.
Die Beklagte zahlte der Klägerin jeweils eine geringere als die ihr nach den allgemeinverbindlichen Gehaltstarifverträgen zustehende Vergütung. Insgesamt beläuft sich die Differenz auf 3.222,27 DM brutto. Diesen Betrag machte die Klägerin gegenüber dem Beklagten mit Schreiben vom 17. Oktober 1996 geltend. Der Beklagte verweigerte die Zahlung unter Hinweis auf § 18 Nr. 1 b MTV.
Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, ihre Forderung sei nicht verfallen, da der Manteltarifvertrag weder ihr ausgehändigt noch im Betrieb ausgelegt oder ausgehängt worden sei. Sie habe keine Kenntnis davon gehabt, daß sie den Tarifvertrag an der genannten Stelle habe einsehen können. Das Abheften des Tarifvertrags in einen Ordner zusammen mit anderem Informationsmaterial sei kein „Auslegen”, da sie darauf nicht hingewiesen worden sei und es nicht ausreiche, wenn der Arbeitnehmer nur durch Zufall von dem Tarifvertrag Kenntnis erhalte.
Die Klägerin hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an sie 3.222,27 DM brutto zuzüglich 4 % Zinsen aus dem sich aus 1.224,92 DM brutto ergebenden Nettobetrag seit dem 1. Januar 1996 und 4 % Zinsen aus dem sich aus 1.997,35 DM brutto ergebenden Nettobetrag seit dem 1. Juli 1996 zu zahlen.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat sich auf den Ablauf der Ausschlußfrist berufen und dazu ausgeführt, das Abheften des Tarifvertrages in den Info-Ordner erfülle das Merkmal des „Auslegens” im Sinne von § 18 Nr. 3 MTV.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben, das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen. Mit ihrer Revision begehrt die Klägerin die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie hat Anspruch auf die von ihr begehrte Gehaltsnachzahlung in Höhe von 3.222,27 DM brutto gemäß § 5 Nr. 1, 4 MTV in Verbindung mit den jeweils geltenden Gehaltstarifverträgen für den Hessischen Einzelhandel. Ihre Ansprüche sind nicht erloschen, weil die Manteltarifverträge weder der Klägerin ausgehändigt wurden noch im Betrieb ausgelegt oder ausgehängt waren.
I. Für die Dauer der Beschäftigung der Klägerin in der Zeit vom 2. Januar 1995 bis zum 15./30. Juni 1996 fanden die jeweils geltenden Gehalts- und Manteltarifverträge für den Hessischen Einzelhandel kraft Allgemeinverbindlicherklärung (§ 5 Abs. 4 TVG) auf das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien Anwendung. Danach kann die Klägerin weitere 3.222,27 DM brutto beanspruchen.
II. Entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts ist der Anspruch auf Nachzahlung der Gehaltsdifferenz nicht gemäß § 18 Nr. 1 b, 2 MTV erloschen. Die Klägerin hat zwar ihre Ansprüche nicht innerhalb von zwei Monaten nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses schriftlich gegenüber dem Beklagten geltend gemacht. Der Beklagte hat jedoch seine sich aus § 18 Nr. 3 MTV ergebenden Verpflichtungen nicht erfüllt.
1. Gemäß § 18 Nr. 3 MTV erlöschen die Ansprüche der Arbeitnehmer nicht, wenn der Manteltarifvertrag ihnen nicht ausgehändigt oder im Betrieb nicht ausgelegt oder ausgehängt worden ist. Der Beklagte hat – unstreitig – den Manteltarifvertrag der Klägerin nicht ausgehändigt und ihn auch nicht im Betrieb ausgehängt. Er hat ihn entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts auch nicht ordnungsgemäß „im Betrieb ausgelegt”. Zu Recht rügt die Revision insoweit fehlerhafte Auslegung des § 18 Nr. 3 MTV.
a) Die Auslegung von Tarifverträgen folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien ist über den reinen Wortlaut hinaus mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lassen sich auch so zuverlässige Auslegungsergebnisse nicht gewinnen, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge auf weitere Anhaltspunkte wie die Tarifgeschichte, die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages und die praktische Tarifübung zurückgreifen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (ständige Rechtsprechung, zuletzt BAG Urteil vom 16. Juni 1998 - 5 AZR 67/97 - zur Veröffentlichung vorgesehen, zu B III 1 b der Gründe, m. w. N.). Weiter gilt der Auslegungsgrundsatz, daß dann, wenn die Tarifvertragsparteien in einer Tarifnorm Begriffe verwenden, die in der Rechtsterminologie einen bestimmten Inhalt haben, sie diese Begriffe in ihrer allgemeinen rechtlichen Bedeutung angewendet wissen wollen, soweit sich nicht aus dem Tarifvertrag selbst etwas anderes ergibt (ständige Rechtsprechung, vgl. BAG Urteil vom 30. Mai 1984 - 4 AZR 512/81 - BAGE 46, 61, 66 = AP Nr. 3 zu § 9 TVG 1969).
b) In mehreren Gesetzen befinden sich Bestimmungen, wonach das betreffende Gesetz (an geeigneter Stelle, im Betrieb) „auszulegen” (§ 8 TVG, § 77 Abs. 2 Satz 3 BetrVG) bzw. „auszulegen oder auszuhängen” ist (§ 47 JArbSchG, § 18 Abs. 1 MuSchG, § 16 Abs. 1 ArbZG). In seinem Urteil vom 5. November 1963 (- 5 AZR 136/63 - AP Nr. 1 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag) hat der Senat zum damaligen § 7 TVG, der dem heutigen § 8 TVG entspricht, entschieden, „auslegen” im Sinne dieser Vorschrift bedeute „zugänglich machen”. Es genüge, wenn der Tarifvertrag in der Personalverwaltung oder an einer sonstigen, je nach Betriebsgröße geeigneten Stelle zur Verfügung stehe und dem Arbeitnehmer zugänglich sei. Es kann hier dahin stehen, ob an dieser – die amtliche Überschrift der Bestimmung („Bekanntgabe des Tarifvertrages”) möglicherweise zu wenig berücksichtigenden – Auslegung festzuhalten ist und der Beklagte den gesetzlichen Anforderungen des § 8 TVG genügt hat.
Jedenfalls § 18 Nr. 3 des hier maßgeblichen Manteltarifvertrags stellt an das „Auslegen” strengere Anforderungen. Dies ergibt sich aus dem – vom Landesarbeitsgericht nicht berücksichtigten – tariflichen Gesamtzusammenhang.
Nach § 18 Nr. 3 MTV erlöschen die Ansprüche nicht, wenn der Tarifvertrag den Arbeitnehmern nicht ausgehändigt oder im Betrieb nicht ausgelegt oder ausgehängt worden ist. Anders als in den genannten gesetzlichen Bestimmungen ist hier neben dem „Auslegen” und dem „Aushängen” die „Aushändigung” genannt. Diese steht sogar an erster Stelle. Auch wenn die Tarifvertragsparteien an ihrer statt das Auslegen und Aushängen des Tarifvertrages für die Unterrichtung der Arbeitnehmer genügen lassen, so bedeutet die Aufzählung doch, daß die beiden letztgenannten Unterrichtungsweisen mit ersterer etwa gleichwertig sein müssen. Wie wichtig den Tarifvertragsparteien die Information des Arbeitnehmers vom Inhalt des Tarifvertrags ist, zeigt außerdem § 20 Satz 1 MTV. Danach ist dem Arbeitnehmer bei Neueinstellung „ein Abdruck dieses Tarifvertrages auszuhändigen”. Auch daraus wird deutlich, daß § 18 Nr. 3 MTV vom Arbeitgeber mehr verlangt als den Tarifvertrag dem Arbeitnehmer zugänglich zu machen. Er muß vielmehr, wenn er den Tarifvertrag schon nicht aushändigt, wozu ihn § 20 Abs. 1 MTV verpflichtet, auf ihn zumindest besonders aufmerksam machen.
Das Abheften der Tarifverträge in einen besonderen Ordner ist grundsätzlich nicht zu beanstanden. Zu fordern ist aber die deutliche Kennzeichnung dieses Ordners, etwa mit der – gut lesbaren – Aufschrift „Im Betrieb geltende Tarifverträge”.
2. Diesen Anforderungen hat der Beklagte nicht genügt. Er hat die Tarifverträge zusammen mit anderen Unterlagen wie der Arbeits- und Hausordnung und sonstigen Arbeitsanweisungen in einem lediglich mit „Info” beschrifteten Ordner abgeheftet und diesen den Arbeitnehmern zugänglich gemacht. Damit hat er auf die Tarifverträge noch nicht aufmerksam gemacht. Es reicht auch nicht aus, daß die Klägerin bei der Vorbereitung des Foto- bzw. Kassen- und Inventurtests den Ordner zur Hand nehmen mußte und dabei die Tarifverträge einsehen konnte. Auf diese Weise hat der Beklagte nur die Kenntnisnahme ermöglicht, ohne auf den Tarifvertrag besonders aufmerksam zu machen. Nach § 18 Nr. 3 MTV erlöschen die Ansprüche wegen Versäumung der Ausschlußfristen aber nur dann, wenn der Arbeitgeber seiner Informationspflicht nachkommt. Das war hier nicht der Fall.
Unterschriften
Reinecke, Kreft, Reinecke, Winterfeld, Mandrossa
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 11.11.1998 durch Clobes, Amtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 436138 |
BB 1999, 748 |
DB 1999, 805 |
NWB 1999, 1629 |
ARST 1999, 237 |
ARST 1999, 257 |
FA 1999, 135 |
NZA 1999, 605 |
RdA 1999, 359 |
SAE 1999, 251 |
ZAP 1998, 712 |
ZTR 1999, 222 |
AP, 0 |