Entscheidungsstichwort (Thema)

Nachträgliche Regelungslücke in Tarifvertrag

 

Orientierungssatz

1. In § 34 Abs 4 BMT-G 2 ist seit dem 1.1.1984 insoweit eine nachträgliche Regelungslücke entstanden, als für die Tarifvertragsparteien 1962 die Belastung des Krankengeldes mit Arbeitnehmeranteilen für Renten- und Arbeitslosenversicherung nicht vorhersehbar war. Deshalb bestand für sie damals kein Anlaß, die Frage zu regeln, ob bei der Berechnung des vom Arbeitgeber zu gewährenden Zuschußes von dem "Bruttokrankengeld" oder von dem "Nettokrankengeld" auszugehen sei.

2. Siehe auch Leitfall BAG Urteil vom 10.12.1986 5 AZR 517/85.

 

Normenkette

RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1b, §§ 180, 210; AFG § 186 Abs. 1; SGB I § 11 Abs. 1; AVG § 112b Abs. 1; BMT-G 2 § 34 Abs. 3; RVO § 1385 b Abs. 1; BMT-G 2 § 34 Abs. 4; HBegleitG 1984 Art. 2 Nr. 30, Art. 1 Nr. 53, Art. 39 Abs. 1, Art. 17 Nr. 30

 

Verfahrensgang

LAG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 11.03.1985; Aktenzeichen 7 Sa 67/85)

ArbG Mainz (Entscheidung vom 05.11.1984; Aktenzeichen 1 Ca 1952/84)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Höhe des dem Kläger zustehenden Krankengeldzuschusses.

Der Kläger ist bei der Beklagten seit dem 1. Januar 1971 als Arbeiter beschäftigt. Für das Arbeitsverhältnis gilt kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Bundesmanteltarifvertrag für die Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (BMT-G II). Nach § 34 Abs. 3 und Abs. 4 BMT-G II erhält der länger als sechs Wochen arbeitsunfähige Arbeiter nach Wegfall der Lohnfortzahlung bei einer Beschäftigungszeit von mehr als einem Jahr bis zum Ende der 13. Woche und nach einer Beschäftigungszeit von mehr als drei Jahren bis zum Ende der 26. Woche seit dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit einen Krankengeldzuschuß. Dieser wird gewährt in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen den tatsächlichen Barleistungen des Sozialversicherungsträgers und dem Nettourlaubslohn. Nettourlaubslohn ist der um die gesetzlichen Abzüge verminderte Urlaubslohn.

Das Krankengeld (§ 182 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, Abs. 4 RVO) unterliegt seit dem 1. Januar 1984 der Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Die Beiträge sind je zur Hälfte von den Krankengeldbeziehern und den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung aufzubringen und von der Krankenversicherung an den Rentenversicherungsträger sowie an die Bundesanstalt für Arbeit abzuführen (§ 1385 b Abs. 1 RVO, § 186 Abs. 1 AFG, eingefügt durch Art. 1 Nr. 53, Art. 17 Nr. 30, Art. 39 Abs. 1 des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983, BGBl. I S. 1532). Der Streit der Parteien betrifft vorliegend die Frage, ob bei der Berechnung des Krankengeldzuschusses das um den Beitragsanteil des Arbeitnehmers gekürzte oder aber das ungekürzte Krankengeld zugrundezulegen ist.

Der Kläger bezog in der Zeit vom 24. November 1983 bis zum 16. Mai 1984 von der AOK Krankengeld und von der Beklagten den Krankengeldzuschuß. Ab 1. Januar 1984 gewährte ihm die Krankenkasse nur noch das um die Arbeitnehmeranteile zur Renten- und Arbeitslosenversicherung verminderte Krankengeld ("Nettokrankengeld"). Die Beklagte berechnete den Zuschuß zum Krankengeld wie bisher auf der Grundlage des ungekürzten Krankengeldes ("Bruttokrankengeld"). Dadurch erhielt der Kläger von diesem Zeitpunkt an insgesamt 1.165,52 DM weniger, als sein Nettourlaubslohn nach § 34 Abs. 4 BMT-G II betragen hätte. Dieses Ergebnis hält der Kläger für ungerechtfertigt und verlangt von der Beklagten die Zahlung des Unterschiedsbetrages.

Der Kläger hat die Ansicht vertreten, der Krankengeldzuschuß müsse sich um die vom Krankengeld einzubehaltenden Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung erhöhen, da der Arbeiter Anspruch auf das volle Nettoarbeitsentgelt habe. Nach § 34 Abs. 4 BMT-G II sei der Arbeitgeber verpflichtet, den Arbeiter so zu stellen, daß er während der Arbeitsunfähigkeit keine finanziellen Einbußen erleide.

Demgemäß hat der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 1.165,52 DM

nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen: Bei der Vereinbarung der Tarifvorschrift seien die Tarifvertragsparteien von der tatsächlichen "Barleistung" der Krankenkasse im Unterschied zu deren Dienst- und Sachleistungen ausgegangen. Das Haushaltsbegleitgesetz 1984 habe die Vorschriften der RVO über die Geldleistung (Barleistung) der Krankenkasse nicht geändert. Es bestimme lediglich, daß der Krankengeldbezieher und der Träger der Krankenversicherung Beiträge zu entrichten hätten. Es gehe folglich nicht um eine Verminderung der Kassenleistungen, sondern um einen eigenen Beitrag des erkrankten Arbeiters. Die Tarifregelung wolle den Arbeiter besser als nach dem Lohnfortzahlungsgesetz stellen. Dagegen sei es nicht der Sinn der Regelung, den Zuschuß unabhängig von sich ändernden Rahmenbedingungen festzusetzen und dem Empfänger dadurch ein Nettoentgelt zu garantieren.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen. Dagegen richtet sich die Revision, mit der der Kläger sein Klageziel weiterverfolgt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Die Vorschrift des § 34 BMT-G II, die allein dafür in Betracht kommt, bietet zur Zeit keine Anspruchsgrundlage für das Klagebegehren. Sie ist seit dem 1. Januar 1984 lückenhaft geworden (I). Eine ergänzende Lückenausfüllung ist dem Gericht nicht möglich (II).

I. 1. Die von den Tarifvertragsparteien in § 34 BMT-G II verwendeten Begriffe "Krankengeldzuschuß" und "tatsächliche Barleistung des Sozialversicherungsträgers" richten sich nach dem Krankenversicherungsrecht.

Der Krankengeldzuschuß stellt eine tarifvertragliche Leistung des Arbeitgebers dar, die das Krankengeld als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 182 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 RVO) ergänzen soll. Die tarifvertraglichen Begriffe "Krankengeld" und "Barleistung" sind dem Krankenversicherungsrecht entnommen. Sie müssen daher auch im sozialversicherungsrechtlichen Sinne verstanden und ausgelegt werden (vgl. dazu BAGE 46, 61, 66 = AP Nr. 3 zu § 9 TVG 1969, mit weiteren Nachweisen). Daraus ergibt sich: Mit "tatsächlicher Barleistung" ist nicht der Betrag gemeint, der dem Arbeitnehmer tatsächlich zufließt. Vielmehr soll damit unterschieden werden zwischen Geldleistungen einerseits sowie Sach- und Dienstleistungen andererseits als den Leistungsformen im Krankenversicherungsrecht.

2. a) Den Begriff "Barleistung" verwendet der Gesetzgeber in § 210 RVO. Nach dieser Vorschrift werden die Barleistungen (ausgenommen das Sterbegeld) mit Ablauf jeder Woche ausgezahlt. Barleistungen bedeutet das gleiche wie "bare Leistungen" im Sinne von § 180 Abs. 1 Satz 2 RVO, wonach die baren Leistungen der Kasse mit Ausnahme des Krankengeldes nach einem Grundlohn bemessen werden. Barleistung ist gleichbedeutend mit Geldleistung im Sinne von § 11 Satz 1 SGB I (vgl. Burdenski in GK-SGB I, 2. Aufl., § 11 Rz 17). Barleistung ist der ältere, Geldleistung der neuere Ausdruck für eine Sozialleistung, die nicht Dienst- oder Sachleistung ist. Gegenwärtig werden im Sozialrecht beide Begriffe noch nebeneinander gebraucht. Der Begriff Geldleistung umfaßt die heute üblich gewordene bargeldlose Überweisung von Sozialleistungen. Die von § 34 Abs. 4 BMT-G II gebrauchte Wendung "Krankengeldzuschuß in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen tatsächlichen Barleistungen des Sozialversicherungsträgers und dem Nettourlaubslohn" findet sich bereits in der ursprünglichen Fassung des BMT-G II vom 31. Januar 1962, also lange vor Inkrafttreten des SGB I vom 11. Dezember 1975 (BGBl. I S. 3015). Die Tarifvertragsparteien konnten daher den späteren Sprachgebrauch des SGB I nicht berücksichtigen.

Zudem sah die RVO zur wirtschaftlichen Sicherung des arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers früher zwei Arten von Geldleistungen vor: Krankengeld und Hausgeld (§§ 182, 186 RVO in der Fassung des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle vom 12. Juli 1961, BGBl. I S. 913). Das geringere Hausgeld bestand lediglich in einem Prozentsatz des Krankengeldes und wurde dem Arbeitnehmer bei Krankenhauspflege gewährt. Erst das Zweite Krankenversicherungsänderungsgesetz vom 21. Dezember 1970 (BGBl. I S. 1770) ließ das Hausgeld entfallen und änderte § 186 RVO dahin, daß vom Beginn der Krankenhauspflege an Krankengeld zu zahlen war. Auch der eben erwähnte Umstand (Aufgliederung der Geldleistung in Krankengeld und Hausgeld) erklärt, warum die Tarifvertragsparteien in der ursprünglichen Fassung des BMT-G II von 1962 den Krankengeldzuschuß nicht lediglich als Unterschiedsbetrag zwischen Nettoarbeitsentgelt und Krankengeld, sondern zwischen Nettoarbeitsentgelt (Nettourlaubslohn) und "tatsächlichen Barleistungen des Sozialversicherungsträgers" definiert haben.

b) Seit dem 1. Januar 1984 unterliegt das Krankengeld der Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Nach § 1385 b Abs. 1 Satz 2 RVO, § 112 Abs. 1 Satz 2 AVG und § 186 Abs. 1 Satz 2 AFG tragen der Krankengeldbezieher und der Leistungsträger die Beiträge je zur Hälfte. (Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Beitragsabzugs vgl. BSG Urteil vom 19. Juni 1986 - 12 RK 54/85 -, zur Veröffentlichung vorgesehen.) Bei dieser Neuregelung hat der Gesetzgeber die Vorschriften über das Krankengeld selbst (§ 182 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 RVO) unverändert gelassen. Hieraus folgt, daß der Begriff des Krankengeldes seit dem 1. Januar 1984 in einem zweifachen Sinn zu verstehen ist, als "Bruttokrankengeld" und als "Nettokrankengeld". Das Gesetz trifft diese Unterscheidung jedoch nicht ausdrücklich und regelt auch nicht die Folgerungen, die sich für die Verwendung des Begriffs des Krankengeldes aus der Neuregelung ergeben.

3. Es kann davon ausgegangen werden, daß die Tarifvertragsparteien bei der im Jahre 1962 getroffenen Vereinbarung des § 34 BMT-G II mit geringfügigen Veränderungen in der Höhe des Krankengeldes gerechnet haben. Derartige Veränderungen entsprechen der Erfahrung des Arbeitslebens. Die Belastung des Krankengeldes mit Arbeitnehmeranteilen für Renten- und Arbeitslosenversicherung bedeutet jedoch eine grundlegende Änderung des Krankenversicherungsrechts. Sie war für die Tarifvertragsparteien im Jahre 1962 nicht vorhersehbar, so daß für sie damals kein Anlaß bestand, die Frage zu regeln, ob bei der Berechnung des vom Arbeitgeber zu gewährenden Zuschusses von dem "Bruttokrankengeld" oder von dem "Nettokrankengeld" auszugehen sei. In § 34 Abs. 4 BMT-G II ist folglich seit dem 1. Januar 1984 insoweit eine nachträgliche Regelungslücke entstanden. Anders als bei bewußten Tariflücken kommt in derartigen Fällen eine Lückenausfüllung durch Urteil grundsätzlich in Betracht (vgl. statt vieler BAGE 47, 61, 67 = AP Nr. 95 zu §§ 22, 23 BAT 1975). Vorliegend sind die Gerichte jedoch nicht befugt, die Regelungslücke im Wege einer ergänzenden Auslegung zu schließen, weil den Tarifvertragsparteien hierfür verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen und sie sich aufgrund ihrer Tarifhoheit für eine hiervon selbst entscheiden müssen. Ein Tätigwerden der Gerichte bedeutete, daß sie verfassungswidrig in die Tarifautonomie eingriffen (vgl. BAGE 36, 218, 225, 226 = AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten).

II. Folgende Möglichkeiten einer Ergänzung des Manteltarifvertrages bestehen, denen die Gerichte nicht vorgreifen dürfen:

1. Sieht man als entscheidenden Gesichtspunkt an, daß der Arbeitnehmer nach Sinn und Zweck des § 34 Abs. 4 BMT-G II auch nach Wegfall der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle seinen Nettolohn durch Krankengeld und einen entsprechenden Zuschuß des Arbeitgebers behalten soll, dann müßte die Neuregelung vorsehen, daß der Zuschuß zum Nettokrankengeld zu zahlen ist. Auf der anderen Seite ließe sich an den Grundsatz anknüpfen, daß gesetzliche Lasten, die dem Arbeitnehmer auferlegt sind, auch von diesem getragen werden müssen. Ein Anhalt dafür findet sich schon in der bisherigen tariflichen Regelung insofern, daß die auf den Zuschuß entfallende Lohnsteuer (§ 2 Abs. 3 Nr. 3 LStDVO) vom Arbeitnehmer allein zu tragen ist. Legte man dieses Prinzip zugrunde, wäre der Zuschuß nach dem Bruttokrankengeld zu bemessen. Schließlich wäre daran zu denken, die vom Gesetz neu geschaffene Belastung des Arbeitnehmers zwischen den Arbeitsvertragsparteien aufzuteilen, wobei sich wiederum verschiedene Möglichkeiten der Verteilung der Beitragslast ergeben, auch in der Weise, daß die Anspruchsdauer oder der anspruchsberechtigte Personenkreis verändert würden. Jede dieser Möglichkeiten erfordert eine ergänzende rechtspolitische Entscheidung, die von den Tarifvertragsparteien zu treffen ist (vgl. dazu auch BAGE 41, 161 = AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Besitzstand).

2. Es muß daher den Tarifvertragsparteien überlassen bleiben, durch entsprechende Vereinbarung diejenige Lösung auszuhandeln, die nach ihren Vorstellungen im Hinblick auf den Zweck der Regelung am besten geeignet ist, die entstandene Lücke zu schließen. Da die Tarifvertragsparteien in der Lage sind, den Tarifvertrag rückwirkend auf den Zeitpunkt zu ergänzen, zu dem die Neuregelung des Krankenversicherungsrechts in Kraft getreten ist, war die Klage noch nicht endgültig, sondern nur als zur Zeit unbegründet abzuweisen.

Dr. Thomas Dr. Gehring Richter Dr. Olderog

ist durch Urlaub an

der Unterschrift

verhindert.

Dr. Thomas

Scherer Dr. Stadler

 

Fundstellen

Dokument-Index HI440042

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