Entscheidungsstichwort (Thema)
Ordentliche Kündigung. soziale Auswahl
Leitsatz (redaktionell)
Vorauswahl anhand Punkteschema:
Rückläufer zum Senatsurteil vom 18. Januar 1990 (– 2 AZR 357/89 – AP Nr. 19 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts bestimmt).
Normenkette
KSchG §§ 1, 10
Verfahrensgang
LAG Köln (Urteil vom 29.08.1990; Aktenzeichen 7/6 Sa 1213/88) |
ArbG Köln (Urteil vom 06.10.1988; Aktenzeichen 6 Ca 2672/88) |
Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 29. August 1990 – 7/6 Sa 1213/88 – aufgehoben.
2. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an die Zweite Kammer des Landesarbeitsgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten, nachdem durch Urteil des Senats vom 18. Januar 1990 (– 2 AZR 357/89 – AP Nr. 19 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen) über die Betriebsbedingtheit der von der Beklagten ausgesprochenen Kündigung und die grundsätzliche Zulässigkeit einer Vorauswahl anhand eines Punkteschemas entschieden worden ist, noch darum, ob bei der Auswahl des Klägers unter vergleichbaren Arbeitnehmern soziale Auswahlgesichtspunkte ausreichend berücksichtigt worden sind.
Der Kläger war seit 1. Januar 1975 bei der Beklagten, einem Großunternehmen für Antriebe, Landtechnik und Industrieanlagen, zuletzt als Planungsingenieur in der Abteilung Montage- und Transporttechnik gegen eine Vergütung von 5.000,– DM brutto (VergGr. T 6 des einschlägigen Tarifvertrages) beschäftigt. Die Beklagte hat aufgrund eines im Herbst 1987 gefaßten Erneuerungskonzeptes eine generelle Personalreduzierung vorgenommen – nach ihren Angaben um 28 % – und hierüber mit dem Gesamtbetriebsrat unter dem 27. Januar 1988 einen Beschäftigungsplan/Interessenausgleich/Sozialplan geschlossen:
In diesem heißt es auszugsweise:
„Die soziale Auswahl
Soziale Gewichtung
Dienstjahre bis 10 Dienstjahre |
je Dienstjahr 1 Punkt |
ab dem 11. Dienstjahr |
je Dienstjahr 2 Punkte |
Es werden nur Zeiten der Betriebszugehörigkeit bis zum vollendeten 55. Lebensjahr berücksichtigt, d.h. es sind maximal
Lebensalter für jedes volle Lebensjahr |
|
1 Punkt |
möglich |
maximal |
55 Punkte |
Stichtag für die Berechnung Dienstjahre/Lebensjahre ist der 31.3.1988
je unterhaltsberechtigtem Kind |
4 Punkte |
verheiratet |
8 Punkte |
Schwerbehinderung bis 50 % Erwerbsminderung |
5 Punkte |
über 50 % je 10 % Erwerbsminderung |
1 Punkt |
Die endgültige Auswahl erfolgt unter Abwägung auch solcher Gesichtspunkte, die vorstehend nicht angesprochen sind. Dabei kommen u.a. in Betracht:
- besondere Pflegebedüftigkeit von Familienmitgliedern
- besondere Lasten aus Unterhaltsverpflichtungen
- besondere Behinderungen, welche einer weiteren Arbeitsvermittlung erheblich entgegenstehen
- Alleinverdiener
Betriebliche Belange
Sofern betriebstechnische, wirtschaftliche oder sonstige berechtigte betriebliche Bedürfnisse die Weiterbeschäftigung eines Mitarbeiters bedingen, kann von der Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten abgesehen werden.
Als berechtigte betriebliche Belange werden anerkannt die Weiterbeschäftigung eines Mitarbeiters mit besonderen, für die Aufgabenerfüllung erforderlichen Spezialkenntnissen und die weiteren von der Rechtsprechung anerkannten Fallgestaltungen.
Vorgehen
Die soziale Auswahl wird in den folgenden 3 Schritten vollzogen:
Schritt:
Vorauswahl auf der Ebene Organisatorische Einheit/Bereich nach den Kriterien
- vergleichbare Qualifikation/Funktion unter Berücksichtigung einer angemessenen Einarbeitszeit
- gleiche Einkommensebene (Tarifgruppe, Vertragskreis)
- Soziale Schutzbedürftigkeit
- Schritt 1 hat zum Ziel, in möglichst großen, aber noch überschaubaren Bereichen
- die soziale Schutzbedürftigkeit der Mitarbeiter angemessen zu berücksichtigen
- ein notwendiges „durchtauschen” mit weniger Schutzbedürftigen transparent zu halten und damit
- so weit wie möglich Kontinuität und „soziales Gefüge” in organisatorischen Einheiten/Bereichen zu wahren.
Schritt
Die vorausgewählten Mitarbeiter aller organisatorischen Einheiten/Bereiche je Standort kommen in die Gesamt-Standortbetrachtung nach den gleichen Kriterien wie in Schritt 1.
Sollten sich in dieser Betrachtung vergleichbare Mitarbeiter in anderen Bereichen sozial weniger schutzbedürftig zeigen, so sind diese entsprechend Schritt 1 bereichsübergreifend mit den vorausgewählten Mitarbeitern „durchzutauschen”.
Schritt
Einzelfallbetrachtung
Bei den nach Schritt 2 verbleibenden Mitarbeitern wird im Einzelfall geprüft, ob besondere soziale Härten im Sinne der vorstehenden sozialen Gewichtung vorliegen. Liegt im Einzelfall eine soziale Härte im vg. Sinne vor, die eine Korrektur der Vorauswahl erforderlich macht, ist unter Beachtung von Schritt 2 erneut eine Auswahl zu treffen. Gleiches gilt, wenn Mitarbeiter ihre Bereitschaft äußern, eine Arbeit, die zwar ihren Fähigkeiten, nicht aber ihrer Einkommensgruppe entspricht (eine Tarifgruppe/Vertragskreis tiefer) zu übernehmen.
In diesem Fall einer freiwilligen Übernahme des vg. Arbeitsplatzes steht dem Mitarbeiter kein Entgeltausgleich aus den Regelungen der Verdienstsicherung zu. Die bestehenden betrieblichen Regelungen zur Verdienstsicherung bleiben unverändert.
Im Rahmen der Einzelfallbetrachtung werden auch die betrieblichen Belange (vgl. Ziff. 2) geprüft.
Die Ergebnisse der Schritte 1 und 2 werden vor Beginn des Schrittes 3 dem Betriebsrat vorgelegt. Die Einzelfallbetrachtung gemäß Schritt 3 wird mit dem Betriebsrat erörtert.”
Die Beklagte hat mit Schreiben vom 24. März 1988 das Arbeitsverhältnis zum 30. September 1988 gekündigt.
Der Kläger hat geltend gemacht, die Kündigung sei sozial nicht gerechtfertigt. Die Beklagte habe soziale Auswahlgesichtspunkte nicht ausreichend berücksichtigt.
Der Kläger hat insofern die soziale Auswahl gegenüber den Mitarbeitern E., K., G. und Sch. gerügt: Diese seien weniger schutzbedürftig als er. In der Berufungsinstanz hat der Kläger die Rüge der Sozialauswahl auf die Arbeitnehmer Kr., M., Ke., N. und Kro. erstreckt. Bei der Sozialauswahl sei auch sein Augenleiden ebenso zu berücksichtigen wie die Tatsache, daß seine Ehefrau einen Herzinfarkt erlitten habe und sein Sohn sich noch im Studium befinde; er sei auf den Arbeitsplatz bei der Beklagten angewiesen, weil er keinen Anspruch auf eine gesetzliche Rente habe, sondern wegen früherer Selbständigkeit eine befreiende Lebensversicherung abgeschlossen habe.
Nach der Zurückverweisung an das Landesarbeitsgericht aufgrund des o.g. BAG Urteils hat der Kläger weiter geltend gemacht, bereits bei den Personalgesprächen seit Herbst 1987 habe er auf seine spezielle Rentensituation hingewiesen. Er sei weiterhin auf der sog. „Abbauliste” geführt worden und habe sich deshalb mehrfach extern bei anderen Firmen beworben und dann den Arbeitsvertrag mit der H. GmbH vom 6. Februar 1988 abgeschlossen. Dieser Vertrag hätte einen Umzug erforderlich gemacht. Am 24. Februar 1988 habe ihm der Vorgesetzte mitgeteilt, er werde in den sogenannten A-Bereich versetzt und nicht entlassen. Daraufhin habe er der H. GmbH am 25. Februar 1988 abgesagt, und zwar auch deshalb, weil seinerzeit seine Ehefrau einen Herzinfarkt erlitten habe. Wenige Tage später habe ihm die Personalabteilung mitgeteilt, daß er doch entlassen werde. Er habe dabei wieder auf seine fehlende gesetzliche Altersversorgung hingewiesen. Außerdem habe er ein Augenleiden gehabt (Netzhaut), weswegen er später operiert worden und bis Februar 1990 arbeitsunfähig gewesen sei. Seitdem erhalte er Arbeitslosengeld. Die lange Betriebszugehörigkeit bei dem Angestellten K. sei dadurch zustandegekommen, daß dieser bereits im Alter von 14 Jahren als Lehrling bei der Beklagten angefangen habe. K. habe dann auf Kosten der Beklagten studiert und seine Studienjahre seien als Betriebszugehörigkeit angerechnet worden. Darüber hinaus sei die Beklagte verpflichtet gewesen, alle vergleichbaren Arbeitnehmer zu benennen, habe dies aber nicht getan. Die Beklagte stelle jetzt wieder Arbeitnehmer ein. Nach den Augenoperationen könne er jetzt wieder normal sehen.
Der Kläger hat – soweit für die Revisionsinstanz noch von Belang – beantragt
festzustellen, daß durch die Kündigung vom 25. März 1988 das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst worden sei.
Die Beklagte hat mit ihrem Klageabweisungsantrag u.a. geltend gemacht, nach den Vorschriften des Sozialplans seien soziale Gesichtspunkte jedenfalls ausreichend berücksichtigt worden: Die mit dem Kläger vergleichbaren Mitarbeiter E. und K. hätten mit 96 bzw. 95 Sozialpunkten über einen höheren Sozialschutz als der Kläger (83 Sozialpunkte) verfügt, denn E. (44 Jahre alt, verheiratet) sei seit 27 Jahren und K. (39 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder) seit 25 Jahren bei ihr beschäftigt. Es sei auch nicht zu beanstanden, daß aufgrund der Regelungen im Sozialplan der Betriebszugehörigkeit dieser Mitarbeiter ein hoher Stellenwert eingeräumt werde. Im übrigen hat die Beklagte nach Maßgabe ihrer Berufungserwiderung weitere vergleichbare Mitarbeiter unter Angabe der Sozialdaten benannt und ausgeführt, die Sozialauswahl sei korrekt vollzogen worden: Zunächst seien nach der Punktetabelle die Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und die familiären Verpflichtungen berücksichtigt worden; alsdann sei mit dem Kläger am 1. März 1988 ein Gespräch geführt worden, wobei er zwar auf den Herzinfarkt seiner Ehefrau, nicht jedoch auf seine Augenerkrankung hingewiesen habe; warum das Studium des Sohnes des Klägers mit 1.200,– DM alimentiert werden müsse, sei für sie nicht nachvollziehbar. Im Gespräch mit dem Kläger sei dann ferner geklärt worden, ob er entsprechend dem Sozialplan mit einer Rückgruppierung einverstanden gewesen sei, was jedoch nicht der Fall war; es sei auch keine Änderungskündigung möglich gewesen, weil in einer niedrigeren Vergütungsgruppe kein Arbeitsplatz frei gewesen sei. Zu einer Qualifizierungsmaßnahme habe der Kläger keine Neigung gezeigt.
Das Arbeitsgericht hat die Klage – soweit hier noch von Belang – mit der Begründung zurückgewiesen, die Kündigung sei sozial gerechtfertigt, insbesondere sei im Rahmen der Sozialauswahl die höhere Gewichtung der längeren Betriebszugehörigkeit gegenüber dem Alter des Klägers nicht zu beanstanden. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers nach der Zurückverweisung durch das Bundesarbeitsgericht erneut nach dem Klageantrag erkannt. Mit der vom Senat durch Beschluß vom 24. Januar 1991 zugelassenen Revision erstrebt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils, während der Kläger um Zurückweisung der Revision bittet.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung an das Landesarbeitsgericht; hierbei hat der Senat von der Möglichkeit des § 565 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch gemacht.
I. Das Landesarbeitsgericht hat seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet: Die Kündigung sei mangels ausreichender Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG unwirksam. Es sei grundsätzlich verfehlt, die Auslegung dieser Vorschrift zugunsten der Betriebszugehörigkeit an § 10 KSchG auszurichten. Auch die vom Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil vom 18. Januar 1990 geforderte Einzelbetrachtung über die sozialen Verhältnisse führe zu dem Ergebnis, daß die Beklagte bei der Auswahl soziale Gesichtspunkte nicht ausreichend berücksichtigt habe. Die Bewertung nach dem Interessenausgleich/Sozialplan vom 27. Januar 1988 setze sich wie folgt zusammen:
|
Kläger |
K |
|
|
Anzahl |
Punkte |
Anzahl |
Punkte |
ersten 10 Dienstjahre |
10 |
10 |
10 |
10 |
weitere Dienstjahre |
3 |
6 |
15 |
30 |
Lebensalter |
55 |
55 |
39 |
39 |
unterhaltsberechtigte Kinder |
1 |
4 |
2 |
8 |
verheiratet |
|
8 |
|
8 |
|
|
83 |
|
95 |
Daraus ergebe sich, daß bei den weiteren Dienstjahren wegen doppelter Zählung der Angestellte K. den Kläger um 24 Punkte, bei den Lebensjahren dieser jedoch entsprechend dem tatsächlichen Altersunterschied den Angestellten K. um 16 Punkte übertreffe. Die – wegen doppelter Zählung – unverhältnismäßig hohe Anzahl der Jahre der Betriebszugehörigkeit des Angestellten K. komme dadurch zustande, daß er bereits im 14. Lebensjahr bei der Beklagten angefangen und diese sein Studium als Betriebszugehörigkeit angerechnet habe. Weiter sei zu berücksichtigen, daß der Kläger ein Augenleiden gehabt habe und keinen Anspruch auf gesetzliche Altersrente, sondern nur auf eine befreiende Lebensversicherung habe. Den Arbeitsvertrag mit der Harth und Seifert GmbH hätte der Kläger u.a. im Hinblick auf einen Herzinfarkt seiner Ehefrau rückgängig gemacht. Bezüglich des Angestellten K. seien weitere soziale Gesichtspunkte nicht bekannt. Unter diesen Umständen hätte die Kündigung K. relativ weniger hart getroffen als den Kläger. Arbeitnehmer mit 55 Jahren hätten auf dem Arbeitsmarkt viel weniger eine Chance, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, als 39-jährige Arbeitnehmer. Das gelte insbesondere, wenn der 55-jährige Arbeitnehmer noch ein Augenleiden habe, das der Operation bedürfe und das ihn voraussichtlich für längere Zeit arbeitsunfähig mache. Daß der Kläger vor der Kündigung einen Arbeitsvertrag mit einer anderen Firma erhalten hätte, spreche nicht gegen diese Annahme. Nach der Lebenserfahrung könne die Erlangung dieses anderen Arbeitsvertrages nur als seltene Ausnahme bezeichnet werden. Die voraussichtliche Arbeitslosigkeit bis zum Rentenalter treffe den Kläger umso schwerer, als er keinen Anspruch auf eine gesetzliche Rente gehabt hätte und die befreiende Lebensversicherung vorzeitig nur mit erheblichen Verlusten in Anspruch nehmen konnte. Für den Angestellten K. bedeute eine Entlassung den Verlust der langen Betriebszugehörigkeit, das wäre sicherlich auch bitter gewesen, wenn er auch durch eine höhere Abfindung aus dem Sozialplan als beim Kläger gemildert würde. Aber K. hätte wenigstens eine weit größere Chance, eine neue Arbeit zu finden; ihm drohe nicht, bei Arbeitsunfähigkeit und ungünstiger Rentensituation bis zum Beginn des Rentenalters arbeitslos zu bleiben.
II. Dem kann nicht gefolgt werden. Wie der Senat schon im Beschluß vom 24. Januar 1991 ausgeführt hat, stellt die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts eine Mißachtung der in der Senatsentscheidung vom 18. Januar 1990 enthaltenen Grundsätze dar.
1. Soweit es das Berufungsgericht grundsätzlich für verfehlt erachtet, im Hinblick auf § 10 KSchG der Betriebszugehörigkeit Priorität vor dem Lebensalter einzuräumen, beanstandet es die vom Senat in dem Urteil vom 18. Januar 1990 (a.a.O.) gebilligte, auf der Grundlage des Punkteschemas des Sozialplans vorgenommene Vorauswahl und verbleibt damit bei seiner in dem ersten, vom Senat aufgehobenen Urteil vertretenen Ansicht.
An der im Urteil vom 18. Januar 1990 eingehend begründeten Ansicht ist jedoch festzuhalten. Der Senat hat schon im Urteil vom 24. März 1983 (BAGE 47, 80 = AP Nr. 6 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl) hervorgehoben, es gebe keinen allgemein verbindlichen Bewertungsmaßstab dafür, wie die einzelnen Sozialdaten zueinander ins Verhältnis zu setzen seien. Dem entspreche ein gewisser Bewertungsspielraum des Arbeitgebers. Seine äußersten Grenzen ergäben sich zum einen aus der Wertung des Kündigungsschutzgesetzes selbst: Aus § 10 KSchG lasse sich entnehmen, daß der Gesetzgeber für die rechtlich relevante Schutzbedürftigkeit der Betriebs Zugehörigkeit und dem Lebensalter Priorität einräume, und zwar der Betriebszugehörigkeit noch vor dem Lebensalter. Demgemäß habe der Arbeitgeber bei der sozialen Auswahl zunächst die Betriebszugehörigkeit und dann das Lebensalter zu berücksichtigen. Der Senat hat also gar nicht generell eine Auslegung des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG mit Hilfe der Vorschrift des § 10 KSchG vorgenommen und eine solche für allein zutreffend gehalten. Vielmehr sollte nur der dem Arbeitgeber nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG zustehende Bewertungsspielraum – der Arbeitgeber muß nach dieser Vorschrift soziale Auswahlgesichtspunkte nur „ausreichend” berücksichtigen – eingegrenzt werden. Demnach erscheint es möglich, daß in einem Falle der Betriebszugehörigkeit, in einem anderen Falle dem Alter eine Priorität eingeräumt wird. Dies würde sich bei im wesentlichen gleicher Punktebewertung, wie der Senat im Urteil vom 18. Januar 1990 betont hat, noch innerhalb der Toleranzgrenze einer „ausreichenden” Sozialauswahl halten. Deshalb ist es verfehlt, wenn das Landesarbeitsgericht die im Interessenausgleich/Sozialplan vom 27. Januar 1988 vorgenommene Bewertung erneut – noch dazu in Außerachtlassung der Bindungswirkung nach § 565 Abs. 2 ZPO – als fehlerhaft, d.h. nicht mehr ausreichend bezeichnet. Bereits deshalb muß das Urteil aufgehoben werden.
2. Das Landesarbeitsgericht geht ferner auch in der neuen Entscheidung wiederum von dem allgemeinen Erfahrungssatz aus, Arbeitnehmer mit 55 Jahren hätten auf dem Arbeitsmarkt viel weniger eine Chance, einen neuen Arbeitsplatz zu finden als 39-jährige Arbeitnehmer. Dies soll deshalb dem Kläger einen Vorrang vor dem Arbeitnehmer K. einräumen.
Das läßt sich in dieser Allgemeinheit gerade angesichts der vorliegenden Fallkonstellation nicht sagen. Der Kläger hatte nämlich – möglicherweise aufgrund seiner in 55 Lebensjahren gesammelten Erfahrung – bereits im Februar 1988 eine neue Position als technischer Leiter einer Firma gefunden, wenn er auch aus persönlichen Gründen die Arbeit nicht angetreten hat. Der Senat hat deshalb umgekehrt in der Entscheidung vom 18. Januar 1990 darauf abgestellt, es lasse sich nicht generell sagen, der 55-jährige Ingenieur habe im Vergleich zum 39-jährigen auf dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr. Abgesehen davon, daß der Senat gerade nicht – wie ihm vom Landesarbeitsgericht unterstellt wird – seine Aussage auf alle 55-jährigen Arbeitnehmer, sondern nur und mit Bedacht auf – auch im Jahre 1988 sehr gefragte – Ingenieure bezogen hat, ist es rechtlich fehlerhaft, einen allgemeinen Erfahrungssatz auch dann noch anzuwenden, wenn er zur Zeit der Kündigung durch die faktischen Umstände schon widerlegt ist. Zur Zeit der Kündigung im März 1988 hatte der Kläger schon den Arbeitsvertrag vom 6. Februar 1988 mit der H. GmbH abgeschlossen, wenn er auch am 25. Februar 1988 u.a. wegen des Herzinfarkts seiner Ehefrau wieder abgesagt hat. Das ändert nichts an der nach wie vor zutreffenden Feststellung, der Kläger habe jedenfalls nicht „keine Chance” auf den Arbeitsmarkt gehabt: Er hatte eine, wenn er sie auch nicht nutzen konnte oder wollte. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, der Kläger werde bis zum Beginn des Rentenalters arbeitslos bleiben, war daher so nicht zu begründen. Mit dem vom Landesarbeitsgericht aufgestellten Erfahrungssatz kann daher das Urteil ebenfalls keinen Bestand haben.
3. Ob die inzwischen wohl behobene Augenerkrankung des Klägers, die das Landesarbeitsgericht bei dar Sozialauswahl im Vergleich zum Angestellten K. zugunsten des Klägers wertet, der Beklagten überhaupt mitgeteilt worden war, was diese bestritten hat, erörtert das Landesarbeitsgericht erst gar nicht. Dies, obwohl der Senat im Zurückverweisungsurteil u.a. auch diesen Punkt (unter II 5) neben anderen für aufklärungsbedürftig gehalten hat.
Davon abgesehen nimmt das Landesarbeitsgericht bezüglich der Augenerkrankung eine konkrete Bewertung im Hinblick auf den Punktabstand des Klägers (83 Punkte) gegenüber K. (95 Punkte) aufgrund der Vorauswahl nach dem Punkteschema nicht vor; immerhin haben die Betriebspartner sogar eine Schwerbehinderung bis 50 % GdB nur mit 5 Punkten bewertet. Ferner fehlt überhaupt eine Begründung, warum und inwieweit das Landesarbeitsgericht die von der Beklagten bei dem Angestellten K. vorgenommene Anrechnung der Studienjahre als Betriebs Zugehörigkeit nicht anerkennen will. Seine Bewertung der Umstände hängt daher auch insoweit „in der Luft”. Das Berufungsgericht wird daher unter Beachtung der in der Senatsentscheidung vom 18. Januar 1990 und im vorliegenden Urteil aufgestellten Grundsätze erneut darüber zu befinden haben, ob die Beklagte bei der Kündigung des Klägers soziale Auswahlgesichtspunkte ausreichend berücksichtigt hat.
Unterschriften
Hillebrecht, Dr. Ascheid, Bitter, Baerbaum, Dr. Roeckl
Fundstellen