Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftungsausschluß bei Vorbeugeuntersuchungen
Leitsatz (amtlich)
Vorbeugende ärztliche Untersuchungen, die wegen besonderer gesundheitlicher Gefahren der betrieblichen Tätigkeit auf Anordnung des Arbeitgebers durchgeführt werden, unterliegen der gesetzlichen Unfallversicherung. Für Personenschäden, die ein Arbeitnehmer dabei erleidet, gilt § 636 Abs 1 RVO.
Normenkette
RVO § 636 Abs. 1, § 551 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 S. 1, § 539 Abs. 1 Nrn. 1, 11; BAT § 70
Verfahrensgang
LAG Niedersachsen (Urteil vom 25.04.1989; Aktenzeichen 13 Sa 767/88) |
ArbG Hannover (Urteil vom 25.02.1988; Aktenzeichen 5 Ca 443/87) |
Tenor
- Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 25. April 1989 – 13 Sa 767/88 – wird zurückgewiesen.
- Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Der Kläger ist in einem Krankenhaus der Beklagten als Präparator beschäftigt. Wegen der arbeitsbedingten Gefahr ansteckender Krankheiten ließ die Beklagte den Kläger in Halbjahresabständen röntgenologisch untersuchen. Der Kläger erkrankte an Lungentuberkulose. Diese Krankheit wurde durch eine Speicheluntersuchung im November 1985 erkannt. Der Kläger befand sich vom 15. November 1985 bis zum 24. Januar 1986 und erneut im Jahr 1987 in stationärer Behandlung. Seit dem 11. Mai 1987 ist er wieder arbeitsfähig. Der Gemeindeunfallversicherungsverband Hannover hat durch Bescheid vom 18. Januar 1989 die Lungentuberkulose als Berufskrankheit anerkannt, den Zeitpunkt des Versicherungsfalls auf den 1. Oktober 1985 festgesetzt und wegen der Folgen der Berufskrankheit den Anspruch des Klägers auf eine Dauerrente festgestellt.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Beklagte sei ihm zur Zahlung eines Schmerzensgelds verpflichtet. Er hat vorgetragen, die Krankheit sei bereits im Jahr 1983 erkennbar gewesen. Sie sei deshalb erst im Jahr 1985 festgestellt worden, weil die Röntgenaufnahmen nicht ordnungsgemäß ausgewertet worden seien. Die Beklagte habe die behandelnden Ärzte nicht ausreichend kontrolliert. Hätte die Heilbehandlung bereits 1983 eingeleitet werden können, wären die Krankenhausaufenthalte nicht erforderlich gewesen. Außerdem wäre eine Dauerschädigung nicht eingetreten, die zur Folge habe, daß er voraussichtlich künftig sein Leben lang auf Schonkost angewiesen sei. Mit der am 7. Oktober 1987 erhobenen Klage hat der Kläger beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit, wobei der Schmerzensgeldbetrag nicht unter 40.000,-- DM liegen sollte.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie hat die Auffassung vertreten, ihre Haftung sei kraft Gesetzes ausgeschlossen. Weiter hat sie geltend gemacht, die untersuchenden Ärzte seien sorgfältig ausgewählt und überwacht worden. Der Krankheitsbefund habe sich zwischen 1983 und 1985 nicht verändert. Auch wenn die Erkrankung schon im Jahr 1983 festgestellt worden wäre, wäre die stationäre Behandlung erforderlich gewesen. Der Anspruch sei nach § 70 BAT verfallen, denn der Kläger habe ihn erst am 26. Februar 1987 geltend gemacht.
Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klage als unbegründet abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger den Klageantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat keinen Erfolg. Zu Recht haben die Vorinstanzen die Klage als unbegründet abgewiesen. Die Beklagte haftet dem Kläger nicht auf Schmerzensgeld. Dies folgt aus § 636 Abs. 1 RVO.
I. Nach dieser Bestimmung ist der Unternehmer den in seinem Unternehmen tätigen Versicherten nach anderen gesetzlichen Vorschriften zum Ersatz des Personenschadens, den ein Arbeitsunfall verursacht hat, nur dann verpflichtet, wenn er den Arbeitsunfall vorsätzlich herbeigeführt hat oder wenn der Arbeitsunfall bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr eingetreten ist. § 636 RVO ist auf die Lungentuberkulose, an der der Kläger erkrankt ist, entsprechend anzuwenden, weil es sich bei dieser um eine Berufskrankheit handelt.
1. Nach § 551 Abs. 1 Satz 1 RVO gilt eine Berufskrankheit als Arbeitsunfall. Nach § 551 Abs. 3 Satz 1 RVO gelten die für Arbeitsunfälle maßgebenden Vorschriften für Berufskrankheiten entsprechend. Zu den Bestimmungen, die danach entsprechend auf Berufskrankheiten anzuwenden sind, gehört § 636 RVO.
2. Durch den bestandskräftig gewordenen Bescheid des Gemeindeunfallversicherungsverbands vom 18. Januar 1989 ist die Lungentuberkulose als Berufskrankheit anerkannt worden. An diese Entscheidung ist der Senat im vorliegenden Verfahren nach der auf Berufskrankheiten ebenfalls entsprechend anwendbaren Bestimmung des § 638 Abs. 1 Nr. 1 RVO gebunden.
II. Der Haftungsausschluß erstreckt sich auf die Personenschäden, die die Beklagte nach der Behauptung des Klägers dadurch herbeigeführt hat, daß ihre Ärzte den vorbeugenden Gesundheitsschutz nicht sorgfältig genug durchgeführt haben.
1. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, aus Sinn und Zweck des § 636 RVO ergebe sich, daß die Bestimmung auch für Schäden gelte, die auf mangelhaft durchgeführten Vorbeugemaßnahmen beruhen. Der umfassende und allein durch Arbeitgeberbeiträge finanzierte Unfallversicherungsschutz rechtfertige den Haftungsausschluß auch insoweit.
2. Das Berufungsurteil hält im Ergebnis der revisionsgerichtlichen Nachprüfung stand.
a) Die Revision macht geltend, der Kläger begehre nicht Schmerzensgeld für die Berufskrankheit selbst. Er leite seinen Anspruch vielmehr daraus her, daß die Heilbehandlungsmaßnahmen, die er habe erdulden müssen und der Dauerschaden, den er erlitten habe, auf der fehlerhaften Durchführung der vorbeugenden Untersuchungen im Jahr 1983 beruhten. Diese Schäden seien nicht von dem Haftungsausschluß umfaßt, den die Beklagte für die Folgen der Berufskrankheit nach § 636 RVO genieße.
b) Dem ist nicht zu folgen. Die Revision verkennt, daß auch diese Personenschäden durch die Berufskrankheit verursacht sind.
Für die Frage, ob ein Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit für einen Schaden ursächlich war, kommt es nicht nur darauf an, daß die den Erfolg auslösende Bedingung mit diesem in adäquatem Zusammenhang stand. Sie muß vielmehr im Verhältnis zu anderen Bedingungen nach der Auffassung des praktischen Lebens wegen ihrer besonderen Beziehungen zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Wenn mehrere Bedingungen gleichwertig oder annähernd gleichwertig zu dem Erfolg beigetragen haben, ist jede von ihnen Ursache im Rechtssinne. Kommt dagegen einem der Umstände gegenüber den anderen eine überragende Bedeutung zu, ist er allein wesentliche Ursache (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., § 548 Anm. 6 bis 12, 14).
Die Berufskrankheit hat zumindest gleichwertig zu dem Erfolg beigetragen, für den der Kläger die Entschädigung verlangt. Die Lungentuberkulose war neben den Kunstfehlern, die den Ärzten nach der Behauptung des Klägers bei Durchführung der vorbeugenden Untersuchungen unterlaufen waren, bei der hier gebotenen wertenden Betrachtung (vgl. Lauterbach, aaO, Anm. 8) gleichwertige Ursache der Personenschäden, die der Kläger entschädigt haben möchte. Diese waren somit durch die Berufskrankheit verursacht, so daß die für die Beklagte günstige Rechtsfolge nach § 551 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 in Verb. mit § 636 Abs. 1 RVO auch insoweit eintritt. Der Haftungsausschluß entfällt nicht deshalb, weil die Beklagte die Berufskrankheit vorsätzlich herbeigeführt hat (§ 551 Abs. 3 Satz 1 in Verb. mit § 636 Abs. 1 Satz 1 RVO). Dafür hat der Kläger keine Tatsachen vorgetragen.
c) Aber auch wenn in dem behaupteten Fehlverhalten der Ärzte im Jahr 1983 die wesentliche Ursache der Personenschäden des Klägers läge, entfiele die Haftung der Beklagten. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsurteils erfolgten die Untersuchungen auf Anordnung der Beklagten. Sie gehörten damit zur beruflichen Tätigkeit des Klägers.
Aus dem Berufungsurteil ergibt sich zwar nicht, ob die Untersuchungen aufgrund von Arbeitsschutz- oder Unfallverhütungsvorschriften durchgeführt wurden und die Schäden somit bereits nach § 539 Abs. 1 Nr. 11 RVO von der Unfallversicherung umfaßt sind und dem Haftungsausschluß unterliegen. Darauf kommt es jedoch nicht an. Die Beklagte hat in der Klageerwiderung zu Recht darauf hingewiesen, daß die behaupteten ärztlichen Kunstfehler aus dem Jahr 1983 jedenfalls als Arbeitsunfall anzusehen wären, weil die Untersuchungen dazu dienten, den besonderen Gefahren entgegenzuwirken, die sich aus der betrieblichen Tätigkeit des Klägers als Präparator ergaben. Die gesundheitlichen Vorbeugemaßnahmen dienten damit wesentlich dem Interesse des Unternehmens der Beklagten. Sie erfolgten auf Anordnung des Unternehmens und waren somit durch die Tätigkeit des Klägers verursacht. Daraus folgt, daß sie nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO in den Unfallversicherungsschutz einbezogen waren (vgl. Lauterbach, aaO, § 548 Anm. 32; BSG Urteil vom 31. Januar 1974 – 2 Ru 277/73 – SozR 2200, § 548 RVO Nr. 2). Da der Kläger auch in bezug auf diese Maßnahmen nicht behauptet hat, die Ärzte der Beklagten hätten vorsätzlich gehandelt, würde der Haftungsausschluß auch insoweit nicht entfallen.
Unterschriften
Michels-Holl, Dr. Leinemann, Dr. Peifer, Dr. Weiss, R. Schmidt
Fundstellen
Haufe-Index 839244 |
BB 1991, 554 |
NJW 1991, 773 |
JR 1991, 440 |
RdA 1991, 63 |