Entscheidungsstichwort (Thema)

Gratifikation und Vorruhestand

 

Orientierungssatz

Parallelsache zu BAG Urteil vom 20.4.1989 6 AZR 198/86.

 

Verfahrensgang

LAG Köln (Entscheidung vom 06.03.1986; Aktenzeichen 10 Sa 1350/85)

ArbG Aachen (Entscheidung vom 15.10.1985; Aktenzeichen 4 Ca 632/85)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um eine tarifliche Weihnachtsgratifikation.

Der 1926 geborene Kläger war bei der Beklagten bis zum 30. September 1984 als Molkereimeister und Laborleiter beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien fand der Manteltarifvertrag für die Molkereien und Käsereien im Land Nordrhein- Westfalen vom 8. Februar 1984 (MTV) kraft Tarifbindung Anwendung. Darin ist u.a. bestimmt:

§ 18

Weihnachtsgratifikation

...

Die Weihnachtsgratifikation wird unter folgenden

Bedingungen gewährt:

1. Für Beschäftigte, die noch nicht ein volles

Jahr dem Betrieb angehören, beträgt die Weih-

nachtsgratifikation so viele 1/12, wie volle

Kalendermonate Betriebszugehörigkeit vorlie-

gen.

...

3. Anspruch auf die Weihnachtsgratifikation haben

Beschäftigte, die am 31. Dezember des laufenden

Jahres dem Unternehmen angehören. Beschäftigte,

die am Fälligkeitstag im selbstgekündigten Ar-

beitsverhältnis - ausgenommen Kündigung wegen

Erreichung der Altersgrenze - stehen oder aus

wichtigem Grund rechtswirksam gekündigt worden

sind, haben keinen Anspruch auf die Gratifika-

tion.

4. Beschäftigte, die aus Gründen, die in ihrer

Person liegen, bis zum 31. März des Folgejah-

res aus dem Betrieb ausscheiden, haben die

erhaltene Weihnachtsgratifikation bis zum

Zeitpunkt der Beendigung des Beschäftigungs-

verhältnisses voll zurückzuzahlen. Der Betrag

bis zu 200,-- DM verbleibt jedoch in jedem

Falle dem Beschäftigten.

...

11. Arbeitnehmer, die wegen Erreichung der Alters-

grenze vor dem Auszahlungstermin ausscheiden,

erhalten 1/12 für jeden Monat der Tätigkeit

in diesem Jahr. Scheidet der Arbeitnehmer

nach dem 1. September aus, dann erhält er die

volle Weihnachtsgratifikation.

Der Kläger ist nach den Bestimmungen des ebenfalls kraft Tarifbindung für die Parteien geltenden Tarifvertrags zur Einführung einer Vorruhestandsregelung vom 12. Juni 1984 aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden und erhielt danach von der Beklagten Vorruhestandsgeld nach Maßgabe der tariflichen Regelung. Die Beklagte zahlte ihm allerdings für 1984 keine Weihnachtsgratifikation.

Der Kläger hat gemeint, er habe Anspruch auf die volle Weihnachtsgratifikation in unstreitiger Höhe von 3.330,-- DM brutto. Denn er sei wegen Erreichung der Altersgrenze ausgeschieden.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn

3.330,-- DM brutto nebst 4 % Zinsen aus

3.000,-- DM netto seit dem 15. Dezember

1984 zu zahlen.

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, der Eintritt in den Vorruhestand sei nicht als Erreichung der Altersgrenze im Sinne der tariflichen Vorschrift anzusehen.

Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger weiter seinen Klageanspruch, während die Beklagte Zurückweisung der Revision beantragt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht einen Anspruch des Klägers auf tarifliche Weihnachtsgratifikation für das Jahr 1984 verneint.

I. Das Landesarbeitsgericht hat ausgeführt, der Kläger sei nicht "wegen Erreichung der Altersgrenze" aus dem Betrieb der Beklagten ausgeschieden. Die auslegungsbedürftige Formulierung des Tarifvertrages sei dahin zu verstehen, daß damit nur die für das Rentenversicherungsrecht maßgebliche Altersgrenze von 65, 63 oder 60 Lebensjahren (§§ 25 AVG, 1248 Abs. 1 - 6 RVO) gemeint sei. Der Unterschied zwischen dem Erreichen der Altersgrenze und dem Eintritt in den Vorruhestand liege darin, daß der Arbeitnehmer mit dem Eintritt in den Ruhestand nach den gesetzlichen Regelungen des Sozialversicherungsrechts ausschließlich von einem Anspruch Gebrauch mache, der ihm infolge des Erreichens bestimmter "Altersgrenzen" gesetzlich zustehe. Demgegenüber sei der Eintritt in den Vorruhestand in mehrfacher Hinsicht von einer Vereinbarung mit dem Arbeitgeber abhängig. Die "Erleichterung", die der Kläger als Sinn und Zweck der Vorruhestandsregelung ansehe, sei kein tragfähiges Argument zu seinen Gunsten, weil der Gesetzgeber wie auch die Tarifvertragsparteien ersichtlich auch eine "Erleichterung" und einen finanziellen Anreiz für die Arbeitgeberseite schaffen wollten, einer Vorruhestandsregelung vertraglich zuzustimmen. Der Sinn und Zweck des Tarifvertrages über den Vorruhestand wie auch der Sinn und Zweck der tariflichen Vorschriften über Vergünstigungen beim Erreichen der Altersgrenze seien bei der Auslegung voll und ganz berücksichtigt. Auch im Falle des Klägers sei es eine Frage der vertraglichen Abmachung, ob er beispielsweise zum 30. September 1984 oder zum 31. Dezember 1984 in den Vorruhestand getreten sei. Es stehe außer Frage, daß die Tarifvertragsparteien möglicherweise eine entsprechende Anpassung der Regelungen über die Weihnachtsgratifikation vereinbaren könnten. Es bestehe jedoch kein hinreichender Grund, diese Lücke im Wege der Auslegung zu schließen.

II. Diese Ausführungen halten der revisionsrechtlichen Überprüfung stand.

1. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf die Weihnachtsgratifikation nach § 18 Satz 2 Nr. 11 i.V. mit § 18 Satz 2 Nr. 3 MTV. Denn der Kläger ist nicht "wegen Erreichung der Altersgrenze" bei der Beklagten ausgeschieden, als er die Möglichkeit des Tarifvertrags zur Einführung einer Vorruhestandsregelung vom 12. Juni 1984 nutzte und aufgrund eines Aufhebungsvertrages mit der Beklagten aus dem Betrieb ausschied.

2. Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht erkannt, daß die Tarifvertragsparteien den Begriff "wegen Erreichung der Altersgrenze" nicht näher erläutert haben. Er ist daher auszulegen. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Es ist der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen, ohne am Buchstaben zu haften (§ 133 BGB). Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien ist über den reinen Wortlaut hinaus mitzuberücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Läßt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages, ggf. auch eine praktische Tarifübung ergänzend heranziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (ständige Rechtsprechung des Senats; vgl. Urteil vom 24. März 1988 - 6 AZR 787/85 - AP Nr. 1 zu § 27 MTL II; vom 24. März 1988 - 6 AZR 525/84 - AP Nr. 10 zu § 47 BAT; vom 17. März 1988 - 6 AZR 636/86 - EzA § 111 BetrVG 1972 Nr. 22; vom 4. Februar 1988 - 6 AZR 203/85 - AP Nr. 17 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk; vom 21. Januar 1988 - 6 AZR 560/87 - AP Nr. 7 zu § 29 BAT).

a) Der Wortlaut der tariflichen Vorschrift ist nicht eindeutig. Es kann damit der ähnlich lautende sozialrechtliche Begriff des "Erreichens der Altersgrenze" nach § 1245 Nr. 2 RVO, § 22 AVG gemeint sein, so daß der Anspruch auf Weihnachtsgratifikation nur besteht, wenn der Arbeitnehmer nach seinem Ausscheiden Altersruhegeld bezieht. Es ist aber auch denkbar, unter den Begriff ganz allgemein das Ausscheiden des Arbeitnehmers aus Altersgründen einzuordnen. Dann wäre auch der Eintritt in den Vorruhestand erfaßt.

b) Die vom Landesarbeitsgericht vorgenommene Auslegung rechtfertigt sich aber unter Berücksichtigung systematischer, historischer und teleologischer Gesichtspunkte.

(1) Der § 18 MTV ist so gegliedert, daß der Anspruch grundsätzlich in § 18 Satz 2 Nr. 3 MTV normiert und in § 18 Satz 2 Nr. 11 MTV ein Ausnahmefall geregelt ist. Bei Vorliegen einer Ausnahmeregelung ist grundsätzlich eine extensive Auslegung nicht möglich, sondern eine restriktive Auslegung angebracht (vgl. Senatsurteil vom 24. November 1988 - 6 AZR 243/87 - zur Veröffentlichung bestimmt). Eine restriktive Auslegung ist auch aus teleologischer Sicht geboten. Die tarifvertragliche Weihnachtsgratifikation soll nach dem Willen der Tarifvertragsparteien grundsätzlich diejenigen Arbeitnehmer belohnen, die wenigstens bis zum Ende des nächsten Quartals betriebstreu bleiben, wie die Stichtagsregelung des § 18 Satz 2 Nr. 3 MTV und die Rückzahlungsklausel des § 18 Satz 2 Nr. 4 MTV zeigen. Davon macht der Tarifvertrag nur eine Ausnahme bei Erreichung der Altersgrenze. Beide Gesichtspunkte schließen es somit aus, den neuartigen Beendigungstatbestand "Eintritt in den Vorruhestand" unter den Begriff der Erreichung der Altersgrenze zu subsumieren.

(2) Die historischen Gegebenheiten zur Zeit des Abschlusses des Tarifvertrages für die Molkereien und Käsereien im Land Nordrhein-Westfalen vom 8. Februar 1984 sprechen gegen den Willen der Tarifvertragsparteien, die Fälle des Vorruhestands von § 18 Satz 2 Nr. 11 MTV erfassen zu lassen. Als die Tarifvertragsparteien am 8. Februar 1984 diese Tarifnorm erstmals in den MTV aufnahmen (der Vorgängertarifvertrag vom 6. April 1978 enthielt keine vergleichbare Regelung), war das Gesetzgebungsverfahren zum Vorruhestandsgesetz weit fortgeschritten. Es lagen Gesetzesentwürfe der SPD-Bundestagsfraktion vom 8. Juni 1983 (BT-Drucks. 10/122) und der Bundesregierung vom 14. Dezember 1983 (BT-Drucks. 10/880) vor. Über beide Entwürfe war bereits einmal im Bundestag beraten worden. Die Tarifvertragsparteien konnten also von der bevorstehenden gesetzlichen Regelung und der Absicht des Gesetzgebers Kenntnis haben, die Durchführung des Vorruhestands weitgehend den Tarifvertragsparteien (§ 2 Vorruhestandsgesetz) zu überlassen. Sie haben selbst mit dem Abschluß eines Tarifvertrages zur Einführung einer Vorruhestandsregelung vom 12. Juni 1984 unverzüglich reagiert. Angesichts dessen hätte es daher nahe gelegen, entweder schon bei der Neuschaffung des § 18 Satz 2 Nr. 11 MTV eine Formulierung festzuschreiben, die den Vorruhestand ausdrücklich erfaßt, oder aber die Vorschrift im Vorruhestandstarifvertrag später entsprechend anzupassen.

c) Angesichts dessen enthält der Tarifvertrag auch keine durch die veränderte gesetzliche Situation nachträgliche unbewußte Normlücke, die die Gerichte für Arbeitssachen unter bestimmten Voraussetzungen schließen könnten (vgl. insoweit BAGE 36, 218, 225, 226 = AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten; BAGE 47, 61, 67 = AP Nr. 95 zu §§ 22, 23 BAT 1975). Vielmehr sind die Tarifvertragsparteien und nicht die Gerichte für Arbeitssachen aufgerufen, sich zu erklären und eine positive, negative oder vermittelnde Regelung des Gratifikationsanspruchs für Arbeitnehmer zu schaffen, die im Laufe eines Kalenderjahres in den Vorruhestand treten.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.

Dr. Röhsler Dörner

zugleich für den in Urlaub

befindlichen Richter Schneider

Fürbeth H. Schmidt

 

Fundstellen

Dokument-Index HI440662

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