Entscheidungsstichwort (Thema)
Großbaustellenabschlag
Leitsatz (redaktionell)
vgl. die BAG Urteile vom 20. Oktober 1993 – 4 AZR 18/93 – u. – 4 AZR 19/93 –
Normenkette
TVG § 1 Tarifverträge: Bau
Verfahrensgang
LAG Niedersachsen (Urteil vom 17.12.1992; Aktenzeichen 13 Sa 1272/92) |
ArbG Lüneburg (Urteil vom 25.06.1992; Aktenzeichen 2 Ca 380/92) |
Tenor
1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 17. Dezember 1992 – 13 Sa 1272/92 – aufgehoben.
2. Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Vergütung der vom Kläger in der Zeit vom 21. Oktober 1991 bis 29. April 1992 erbrachten Akkordarbeiten; insbesondere darüber, ob die Beklagte berechtigt ist, einen Großbaustellenabzug in Höhe von 4 % vorzunehmen.
Zwischen den Parteien besteht ein Arbeitsverhältnis, auf das u.a. kraft beiderseitiger Tarifbindung der Akkordtarifvertrag für das Fliesen- und Plattenlegergewerbe im Land Niedersachsen i.d.F. vom 28. Januar 1991 anwendbar ist.
Vom 21. Oktober 1991 bis zum 29. April 1992 war der Kläger mit zwei Unterbrechungen auf der Baustelle „L. Straße” in W. beschäftigt. Er arbeitete dort zusammen mit vier weiteren Fliesenlegern im Einzelakkord. Bei dieser Baustelle handelte es sich um einen auf der rechten Straßenseite zu erstellenden Wohnblock, bei dem drei Hauseingänge und je neun Wohnungen zu verfliesen waren sowie um eine auf der linken Straßenseite befindliche Reihenhauszeile. Der Kläger war tätig in einem Reihenhaus, im übrigen in den Wohnungen des Wohnblocks. Insgesamt verlegte er unstreitig 661,53 qm. In jedem einzelnen Haus des Bauvorhabens verlegte er mehr als 50 qm.
Im Bauvorhaben „L. Straße” war der Kläger in folgenden Bauabschnitten tätig:
21. Oktober – 6. Dezember 1991 mit Unterbrechung am 31. Oktober 1991.
17. Januar – 5. Februar 1992.
Vom 10. Februar – 21. Februar 1992 hatte er Urlaub, vom 22. Februar – 4. März 1992 war er arbeitslos. Erneuter Einsatz im Bauvorhaben erfolgte vom 27. März – 29. April 1992.
Seit Februar 1992 hat die Beklagte unter Vorbehalt der Rückforderung den Akkordlohn ohne Großbaustellenermäßigung ausgezahlt. Im Prozeß hat sie hilfsweise mit überzahltem Akkordlohn in Höhe von 13,30 Stunden die Aufrechnung erklärt.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, bei der Baustelle „L. Straße” habe es sich nicht um eine Großbaustelle im Sinne des einschlägigen Tarifvertrages gehandelt. Zu trennen seien Wohnblock und Reihenhäuser, die auf unterschiedlichen Straßenseiten lägen und deshalb keine einheitliche Baustelle bildeten. Darüber hinaus seien sie von unterschiedlichen Bauträgern erstellt worden. Im übrigen sei er in mehreren Bauabschnitten eingesetzt worden. In keinem dieser Bauabschnitte habe er mehr als 300 qm verlegt.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 405,56 DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den sich daraus ergebenden Nettobetrag seit dem 31. März 1992 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt.
die Klage abzuweisen.
Sie hat die Auffassung vertreten, die Voraussetzungen für eine Großbaustelle lägen vor, weil der Kläger insgesamt mehr als 300 qm und in jedem Haus mehr als 50 qm verlegt habe. Die Baustelle „L. Straße” sei als einheitliche Großbaustelle im Sinne des Tarifvertrages anzusehen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit der Revision verfolgt der Kläger seinen Anspruch weiter. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landesarbeitsgericht zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung.
I.1. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft beiderseitiger Tarifbindung u.a. der Tarifvertrag zur Regelung der Akkordarbeit im Fliesen- und Plattenlegergewerbe im Land Niedersachsen vom 10. Januar 1985 i.d.F. vom 28. Januar 1991 (Akkord-TV) Anwendung.
Danach kommt es für den vorliegenden Rechtsstreit auf folgende Bestimmungen an:
§ 2
Akkordsätze
Für im Akkord ausgeführte Fliesen- und Plattenlegerarbeiten gelten die im Anhang zu diesem Tarifvertrag aufgeführten Leistungswerte für den dort umschriebenen Leistungsumfang.
§ 3
Berechnung des Akkordlohnes
1. Die im Anhang zu diesem Tarifvertrag für die einzelnen Positionen festgesetzten Stundensätze sind mit dem jeweils tariflich vereinbarten Fliesenleger-Stundenlohn zu multiplizieren.
J. Großbaustellen (Anhang II zum Akkord-TV)
Die Leistungssätze ermäßigen sich bei Großbaustellen um folgende v.H.-Sätze:
Wand- und Bodenbelag
a. 300 bis 500 qm um 2 v.H.
b. 500 bis 800 qm um 4 v.H.
c. über 800 qm um 5 v.M.
Die Ermäßigung entfällt bei Häusern mit weniger als 50 qm.
Muß eine geräumte Großbaustelle neu eingerichtet werden, so ist der erforderliche Zeitaufwand in Stundenlohn zu vergüten. Die Leistungslöhne bei Großbaustellen ermäßigen sich nur, wenn Arbeiten von derselben Kolonne ausgeführt werden. Ausfall oder Austausch einzelner Fliesenleger der Kolonne beeinträchtigen jedoch nicht die Großbaustellen-Ermäßigung. Für den Kolonnenführer wird pro Tag eine Zulage nach Vereinbarung gewährt, die innerhalb der Akkordgemeinschaft anteilsmäßig aufzuteilen ist.
2. Wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat, verstößt die von den Parteien getroffene Vereinbarung von Einzelakkord nicht gegen die Bestimmung des § 8 Abs. 2 Akkord-TV.
Nach dieser Vorschrift ist lediglich bei Gemeinschaftsarbeit „in einem Bau”, also nicht auf einer Großbaustelle oder „in mehreren Bauten”, eine Akkordgemeinschaft anzunehmen. Nach dem unbestrittenen Vortrag beider Parteien hat der Kläger aber in einzelnen Reihenhäusern und Wohneinheiten jeweils allein gearbeitet. Darüber hinaus war die Abrechnung im Einzelakkord nach dem nicht bestrittenen Vortrag der Beklagten günstiger als eine Abrechnung im Gemeinschaftsakkord, so daß diese Vereinbarung des Einzelakkords nach § 4 Abs. 3 2. Alternative TVG zulässig war.
II. Bei dem Bauvorhaben „L. Straße” hat es sich um eine Großbaustelle im Sinne von Anhang II J zu § 2 Akkord-TV gehandelt.
1.a) Die Tarifvertragsparteien haben im Tarifvertrag nicht im einzelnen erläutert, unter welchen Voraussetzungen sie von einer Großbaustelle im Sinne dieser Vorschrift ausgehen. Sie müssen deshalb durch Auslegung der Tarifvorschrift festgestellt werden.
Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien ist über den reinen Wortlaut hinaus mitzuberücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann (ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, vgl. BAGE 42, 86, 89 = AP Nr. 128 zu § 1 TVG Auslegung; BAGE 46, 308, 313 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung; BAGE 60, 219, 223 f. = AP Nr. 127 zu § 611 BGB Gratifikation; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 7. Aufl., § 198 III 2 b, S. 1488 f.).
b) Legt man diese Auslegungsgrundsätze zu Grunde, hat das Landesarbeitsgericht zutreffend eine Großbaustelle angenommen.
aa) Nach dem Tarifwortlaut (Anhang II J „Großbaustellen” zu § 2 Akkord-TV) liegt eine Großbaustelle vor, wenn sie räumlich ausgedehnt ist bzw. ein beträchtliches Ausmaß aufweist. Die Tarifvertragsparteien haben darüber hinaus durch die Angabe von Flächenmaßen zusätzlich klargestellt, wann von einer Großbaustelle auszugehen ist. Sie kann jedenfalls nicht vorliegen, wenn diese Maße nicht erreicht werden.
bb) Daraus folgt aber, daß die Tarifvertragsparteien selbst nicht davon ausgegangen sind, daß die in Anhang II J zu § 2 Akkord-TV genannten qm-Flächen in einer einheitlichen Fläche zu verlegen sind, um von einer Großbaustelle zu sprechen. Vielmehr genügen bei Häusern auch schon 6 Teil flächen von je 50 qm, um eine Großbaustelle anzunehmen. Gleichzeitig ergibt sich daraus, daß die Fliesen in mehreren Häusern verlegt werden können und daß es unerheblich ist, ob alle Häuser einen gleichen Grundriß haben und die gleiche Struktur aufweisen. Schließlich kann auch nicht darauf abgestellt werden, daß die Häuser auf verschiedenen Seiten der sie erschließenden Straße stehen. Dadurch wird der Charakter einer Baustelle als „Großbaustelle” gerade unterstrichen. Ebensowenig ändert sich an dem Charakter einer Baustelle als „Großbaustelle” etwas dadurch, daß verschiedene Bauträger für die einzelnen Häuser vorhanden sind. Weder der Wortlaut noch der Gesamtzusammenhang des Akkord-TV geben einen Anhaltspunkt dafür, daß die Tarifvertragsparteien nicht nur auf die Rechtsverhältnisse zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sondern darüber hinaus auch auf die zwischen Arbeitgeber und Auftraggeber Bezug genommen haben.
Im Gegensatz zur Auffassung der Revision ist hier deshalb gerade nicht von einer Tariflücke – unbewußt oder bewußt – auszugehen. Vielmehr haben die Tarifvertragsparteien durch die Grundsatzregelung in Anhang II J Abs. 1 und die Ausnahmeregelung in Abs. 2 zu § 2 Akkord-TV zu erkennen gegeben, daß es für die Annahme einer Großbaustelle nur auf die insgesamt zu verlegenden Flächen auf einer Baustelle, die auch aus mehreren Bauten bestehen kann, ankommen soll.
c) Der Kläger hatte auf der Großbaustelle unstreitig insgesamt 661,53 qm Wand- und Bodenflächen zu verlegen, also über 500 qm, ebenso wurde die Mindestfläche von 50 qm je Hauseingang überschritten. Der Beklagte war mithin grundsätzlich berechtigt, einen Großbaustellenabzug von 4 v.H. vorzunehmen.
2. An diesem Ergebnis ändert sich, entgegen der Auffassung der Revision, nichts dadurch, daß die Arbeiten auf der Baustelle „L. Straße” mehrfach kurzfristig unterbrochen waren, zumal jeweils die Kontinuität der Baustelle fortbestand.
a) Nach dem Tarifwortlaut kommt es für die Annahme einer Großbaustelle allein auf die insgesamt zu verlegende Fläche an. Durch die Ausnahmeregelung in Anhang II J zu § 2 des Akkord-TV zeigt sich darüber hinaus, daß den Tarifvertragsparteien durchaus Baustellen vor Augen standen, bei denen zwar die erforderlichen Flächen insgesamt gegeben, diese aber ihrerseits in Teilflächen aufgeteilt waren. Wenn sie dann eine Ausnahmeregelung nur in diesem Ausnahmefall getroffen haben, zeigt sich, daß es im übrigen bei dem Grundsatz des Abs. 1 verbleiben, also allein die insgesamt zu verlegende Fläche maßgeblich sein sollte. Darüber hinaus ergeben sich die Vorteile für die Fliesenleger bei größeren zu verlegenden Flächen, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend ausgeführt hat, auch bei Unterbrechungen, zumal diese nicht einmal mit einem „Umzug” von Hauseingang zu Hauseingang verbunden zu sein brauchten.
b) Die hiergegen vorgebrachten Bedenken der Revision überzeugen nicht. Gerade wenn die Tarifvertragsparteien bestimmte Ausnahmefälle besonders geregelt haben, kann nicht durch Auslegung ohne Anhalt im Wortlaut ein weiterer Ausnahmefall konstruiert werden. Dies um so mehr, als gerade auf Großbaustellen kürzere oder auch längere Unterbrechungen bei Ausbauarbeiten – z.B. durch Schlechtwetter oder Frostperioden – regelmäßig vorkommen. Darüber hinaus heißt es in Anhang II J Abs. 3 zu § 2 Akkord-TV sogar, daß bei einer geräumten Großbaustelle, die neu eingerichtet werden muß, der erforderliche Zeitaufwand in Stundenlohn vergütet wird. Daraus folgt, daß nach dem Willen der Tarifvertragsparteien selbst eine längere Arbeitsunterbrechung unschädlich für den Abschlag ist.
3.a) Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn nicht nur eine Unterbrechung der Arbeiten an der Großbaustelle erfolgt ist, sondern darüber hinaus auch das Arbeitsverhältnis rechtlich unterbrochen war. Denn in diesem Fall kann die Arbeitsleistung des Fliesenlegers vor Beendigung seines Arbeitsverhältnisses und die nach einer späteren Wiederaufnahme erbrachte Leistung nicht zu einer Einheit zusammengefaßt werden. Dies zeigt sich auch daran, daß die Tarifvertragsparteien bei einem Gruppenakkord für die Berechtigung des Großbaustellenabzugs von der Kontinuität der Kolonne ausgehen. Die reine Vorratshaltung von verschiedenen Aufträgen auf ein und derselben Großbaustelle führt nicht zum Großbaustellenabzug auf der Grundlage der Gesamtleistung.
b) Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts und dem unstreitigen Vortrag der Parteien war das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien vom 22. Februar bis 4. März 1992 unterbrochen. Feststellungen darüber, welche Flächen von dem Kläger auf der Großbaustelle „L. Straße” vor dieser Unterbrechung und welche Flächen danach vom 27. März bis 29. April 1992 verlegt worden sind, hat das Landesarbeitsgericht nicht getroffen, so daß es dem Senat nicht möglich war festzustellen, ob ein Großbaustellenabzug für jeweils beide Zeiträume überhaupt und gegebenenfalls in welcher Höhe gerechtfertigt ist. Dies wird das Landesarbeitsgericht nachzuholen haben.
Unterschriften
Schaub, Dr. Wißmann, Schneider, Müller-Tessmann, Wehner
Fundstellen