Entscheidungsstichwort (Thema)
Sorgfaltspflichten des Anwalts bei der Fristüberprüfung
Leitsatz (amtlich)
Der Sechste Senat beabsichtigt, die Auffassung zu vertreten, dass ein Rechtsanwalt die ihm obliegende Sorgfaltspflicht in Fristsachen nicht verletzt, wenn er sich in Bezug auf den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen auf die Prüfung der Vermerke in der Handakte beschränkt, sofern sich keine Zweifel an deren Richtigkeit aufdrängen, weswegen es einer zusätzlichen Prüfung, ob das Fristende auch tatsächlich korrekt im Fristenkalender eingetragen ist, nicht bedarf. Die hierin liegende entscheidungserhebliche Abweichung zur Rechtsprechung des Ersten, Dritten, Achten und Neunten Senats des Bundesarbeitsgerichts (10. Januar 2003 - 1 AZR 70/02 -; 17. Oktober 2012 - 3 AZR 633/12 -; 31. Januar 2008 - 8 AZR 27/07 - und 18. Juni 2015 - 8 AZR 556/14 -; 18. Januar 2006 - 9 AZR 454/04 -) erfordert die Anfrage nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG, ob diese an ihrer Rechtsauffassung festhalten.
Verfahrensgang
Tenor
1. Der Sechste Senat möchte die Auffassung vertreten, dass ein Rechtsanwalt die ihm obliegende Sorgfaltspflicht in Fristsachen nicht verletzt, wenn er sich in Bezug auf den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen auf die Prüfung der Vermerke in der Handakte beschränkt, sofern sich keine Zweifel an deren Richtigkeit aufdrängen. Einer zusätzlichen Prüfung, ob das Fristende auch tatsächlich korrekt im Fristenkalender eingetragen ist, bedarf es dann nicht.
2. Damit weicht der Senat von der Rechtsprechung des Ersten, Dritten, Achten und Neunten Senats ab (10. Januar 2003 - 1 AZR 70/02 -; 17. Oktober 2012 - 3 AZR 633/12 -; 31. Januar 2008 - 8 AZR 27/07 - und 18. Juni 2015 - 8 AZR 556/14 -; 18. Januar 2006 - 9 AZR 454/04 -).
3. Der Sechste Senat fragt nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG an, ob der Erste, Dritte, Achte und Neunte Senat an ihrer Rechtsauffassung festhalten.
4. Der Rechtsstreit wird ausgesetzt.
Gründe
Rz. 1
A. Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, für den Kläger die Arbeitnehmeranteile zur gesetzlichen Rentenversicherung zu übernehmen.
Rz. 2
Der 1962 geborene Kläger ist seit dem Jahr 2008 bei der Beklagten als Gymnasiallehrer tätig. Auf das Arbeitsverhältnis finden die Grundordnung des kirchlichen Dienstes sowie das Arbeitsvertragsrecht der bayerischen Diözesen (ABD) einschließlich der in dessen Teil B enthaltenen Sonderregelungen für Beschäftigte als Lehrkräfte an Schulen in kirchlicher Trägerschaft (iF SR-L) in ihrer jeweiligen Fassung Anwendung. Zwischen den Parteien ist streitig, ob die in Teil B, 4.1.1 Nr. 6 Abs. 7 SR-L enthaltene Regelung, wonach der Schulträger bei Lehrkräften die Arbeitnehmerbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 168 SGB VI übernimmt, wenn die dort genannten Voraussetzungen vorliegen, wozu ua. die Vollendung maximal des 45. Lebensjahrs gehört, als altersdiskriminierende Regelung unwirksam ist.
Rz. 3
Der Kläger hat beantragt,
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1. |
festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, die Arbeitnehmerbeiträge des Klägers zur gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 168 SGB VI zu übernehmen und für den Kläger an die gesetzliche Rentenversicherung zu bezahlen; |
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2. |
die Beklagte zu verurteilen, rückwirkend die Arbeitnehmerbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung des Klägers für die Jahre 2018, 2019, 2020 und 2021 iHv. insgesamt 19.456,20 Euro an den Kläger zu bezahlen. |
Rz. 4
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Rz. 5
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Das Berufungsurteil ist dem Kläger am 9. Mai 2023 zugestellt worden. Mit der fristgerecht eingelegten Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Die Revisionsbegründung - verbunden mit einem Wiedereinsetzungsantrag nebst Begründung - ist am 21. August 2023 beim Bundesarbeitsgericht eingegangen. Ein gleichlautender Schriftsatz ist bereits am 11. August 2023 im Postfach „BAG-Test“ eingegangen.
Rz. 6
Der Wiedereinsetzungsantrag wird - unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung der zuverlässigen, erprobten und sorgfältig kontrollierten Rechtsanwaltsfachangestellten des Prozessbevollmächtigten des Klägers - damit begründet, dass diese die Revisionsbegründungsfrist am Tag der Zustellung des Berufungsurteils (korrekt) für den 10. Juli 2023 (Montag) berechnet und die Frist entsprechend der allgemeinen Anweisung des Prozessbevollmächtigten des Klägers sofort nach der Berechnung auf der ersten Seite der Urteilsabschrift notiert habe. Im Fristenkalender habe sie sodann aus nicht erklärlichen Gründen den Ablauf der Revisionsbegründungsfrist für den 10. August 2023 eingetragen. Es gebe eine allgemeine Anweisung, für Rechtsmittelfristen Vorfristen von zwei Wochen zum Wochenanfang im Fristenkalender einzutragen. Die Vorfrist für die Revisionsbegründung habe sie durch Rückblättern im Fristenkalender ausgehend von der fehlerhaft eingetragenen Revisionsbegründungsfrist ebenfalls fehlerhaft für den 24. Juli 2023 eingetragen. Danach habe sie, entsprechend der ausdrücklichen Anweisung des Prozessbevollmächtigten, als Zeichen der Notierung der Hauptfrist im Kalender einen handschriftlichen Haken zu den Fristenden auf der Urteilsabschrift gesetzt. Die Akte mit der Urteilsabschrift habe sie am 9. Mai 2023 dem Prozessbevollmächtigten zur Kontrolle der korrekten Berechnung der Fristen und Eintragung in den Fristenkalender vorgelegt. Zur Vorfrist für die Revisionseinlegung am 22. Mai 2023 (Montag), habe sie die Akte dem Prozessbevollmächtigten vorgelegt, der anhand der Handakte nochmals die korrekte Berechnung und Eintragung der Revisionsbegründungsfrist überprüft und Revision eingelegt habe. Er habe die Anweisung erteilt, die Akte zur Vorfrist für die Begründung der Revision wieder vorzulegen. Entsprechend der - fehlerhaft - notierten Vorfrist habe sie die Akte dem Prozessbevollmächtigten am 24. Juli 2023 zur Erstellung der Revisionsbegründung erneut vorgelegt. An diesem Tag sei die Fristversäumung erkannt worden. Mit Verfügung vom 19. Juli 2023, dem Prozessbevollmächtigten am 25. Juli 2023 zugestellt, ist dem Kläger ein gerichtlicher Hinweis auf die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist erteilt worden.
Rz. 7
B. Der Senat ist derzeit an einer abschließenden Entscheidung über die Zulässigkeit der Revision mit Blick auf die Revisionsbegründungsfrist gehindert. Dem Kläger ist nach Auffassung des Senats Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in die versäumte Revisionsbegründungsfrist zu gewähren (§ 233 Satz 1 ZPO). Damit weicht der Senat jedoch in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage von der Rechtsauffassung des Ersten, Dritten, Achten und Neunten Senats zu den Kontrollpflichten eines Rechtsanwalts bei Vorlage von Akten zur Bearbeitung (BAG 10. Januar 2003 - 1 AZR 70/02 -; 17. Oktober 2012 - 3 AZR 633/12 -; 31. Januar 2008 - 8 AZR 27/07 - BAGE 125, 333 und 18. Juni 2015 - 8 AZR 556/14 -; 18. Januar 2006 - 9 AZR 454/04 - nicht veröffentlicht) ab. Daher bedarf es nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG einer Anfrage bei diesen Senaten, ob sie an ihrer bisherigen Rechtsauffassung festhalten. Bis zu deren Antwort ist das Verfahren entsprechend § 148 ZPO auszusetzen.
Rz. 8
I. Der Kläger hat seine fristgerecht eingelegte Revision nicht binnen der gesetzlich bestimmten Frist (§ 74 Abs. 1 Satz 1 ArbGG) begründet. Aufgrund der Zustellung des Berufungsurteils an den Kläger am 9. Mai 2023 lief die Frist für die Begründung der Revision am 10. Juli 2023, einem Montag, ab (§ 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2, § 193 BGB). Die Begründung ist erst am 21. August 2023 und damit verspätet beim Bundesarbeitsgericht eingegangen. Dies gilt auch dann, wenn man auf den Eingang im Postfach „BAG-Test“ am 11. August 2023 abstellt.
Rz. 9
II. Dem Kläger ist jedoch nach Auffassung des Sechsten Senats auf seinen Antrag wegen Versäumung der Frist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 233 ZPO).
Rz. 10
1. Nach § 233 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die ohne ihr Verschulden oder ein ihr zuzurechnendes Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten (§ 85 Abs. 2 ZPO) verhindert war, die Frist zur Einlegung und/oder zur Begründung der Revision einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Dabei steht gemäß § 85 Abs. 2 ZPO das Verschulden des Prozessbevollmächtigten dem Verschulden der Partei gleich. Ist das Fristversäumnis allerdings infolge eines Fehlverhaltens von Büropersonal des Prozessbevollmächtigten eingetreten, liegt kein der Partei zuzurechnendes Verschulden vor, wenn der Prozessbevollmächtigte seine Kanzlei ordnungsgemäß organisiert, insbesondere zuverlässiges Personal ausgewählt und dieses ausreichend überwacht hat (vgl. BAG 7. August 2019 - 5 AZB 16/19 - Rn. 9, BAGE 167, 221; 7. Juli 2011 - 2 AZR 38/10 - Rn. 14 mwN).
Rz. 11
Die Wiedereinsetzung in die versäumte Revisionsbegründungsfrist muss nach § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO innerhalb eines Monats beantragt werden. Die Antragsfrist beginnt nach § 234 Abs. 2 ZPO mit dem Tag, an welchem das Hindernis behoben ist. Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Prozesshandlung nachzuholen (§ 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO).
Rz. 12
2. Der Wiedereinsetzungsantrag ist ordnungsgemäß und fristgerecht gestellt worden. Die Wiedereinsetzung ist innerhalb eines Monats nach Kenntnis der unzutreffenden Berechnung der Revisionsbegründungsfrist beantragt worden. Durch die eidesstattliche Versicherung der Rechtsanwaltsfachangestellten J ist glaubhaft gemacht, dass die fehlerhafte Fristberechnung bei Wiedervorlage der Akte an den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 24. Juli 2023 bemerkt worden ist. Der Hinweis des Senats auf die Fristsäumnis ist erst am Folgetag beim Prozessbevollmächtigten eingegangen. Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist jedenfalls am 21. August 2023 und damit innerhalb der Antragsfrist beim Bundesarbeitsgericht gestellt worden. Der Antrag gibt die Tatsachen an, welche die Wiedereinsetzung begründen. Diese sind durch eidesstattliche Versicherung der Mitarbeiterin J glaubhaft gemacht. Die versäumte Prozesshandlung ist durch die Einreichung der Revisionsbegründung mit selbigem Schriftsatz fristgerecht nachgeholt worden.
Rz. 13
3. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sind nach Auffassung des Sechsten Senats erfüllt. Der Kläger hat die Revisionsbegründungsfrist unverschuldet iSv. § 233 Satz 1 ZPO versäumt. Das Versäumnis beruht auch nicht auf einem Verschulden seines Prozessbevollmächtigten, welches er sich nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss.
Rz. 14
a) Nach der - neueren - Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verlangt die Sorgfaltspflicht in Fristsachen von einem Rechtsanwalt alles ihm Zumutbare, um die Wahrung von Rechtsmittelfristen zu gewährleisten. Dabei kann die Berechnung und Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft übertragen werden. Dann hat der Rechtsanwalt durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden. Zu den zur Ermöglichung einer Gegenkontrolle erforderlichen Vorkehrungen im Rahmen der Fristenkontrolle gehört insbesondere, dass die Rechtsmittelfristen in der Handakte notiert werden und die Handakte durch entsprechende Erledigungsvermerke oder auf sonstige Weise erkennen lässt, dass die Fristen in den Fristenkalender eingetragen worden sind (BGH 17. Mai 2023 - XII ZB 533/22 - Rn. 9; 19. Oktober 2022 - XII ZB 113/21 - Rn. 11; 19. Februar 2020 - XII ZB 458/19 - Rn. 12).
Rz. 15
Darüber hinaus hat ein Rechtsanwalt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen immer dann eigenverantwortlich zu prüfen, wenn ihm die Akten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Verfahrenshandlung, insbesondere zu deren Bearbeitung, vorgelegt werden. Der Rechtsanwalt muss in diesem Fall auch alle weiteren unerledigten Fristen einschließlich ihrer Notierung in den Handakten prüfen. Dabei darf der Anwalt sich allerdings grundsätzlich auf die Prüfung der Vermerke in der Handakte beschränken, sofern sich keine Zweifel an deren Richtigkeit aufdrängen (BGH 17. Mai 2023 - XII ZB 533/22 - Rn. 10; 19. Oktober 2022 - XII ZB 113/21 - Rn. 12). Ist das nicht der Fall, braucht der Rechtsanwalt nicht noch zusätzlich zu überprüfen, ob das Fristende auch tatsächlich korrekt im Fristenkalender eingetragen ist. Andernfalls wäre die Einschaltung von Bürokräften in die Fristenüberwachung weitgehend sinnlos, die jedoch aus organisatorischen Gründen erforderlich und deshalb zulässig ist (BGH 19. September 2017 - VI ZB 40/16 - Rn. 9 mwN). Diese Grundsätze gelten unabhängig davon, ob die Handakte des Rechtsanwalts in herkömmlicher Form als Papierakte oder als elektronische Akte geführt wird (BGH 23. Juni 2020 - VI ZB 63/19 - Rn. 11). Dieser Rechtsprechung ist auch das Bundessozialgericht gefolgt (BSG 28. Juni 2018 - B 1 KR 59/17 B - Rn. 10).
Rz. 16
b) Allerdings hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts entschieden, dass der Rechtsanwalt bei Vorlage der Handakten zur Anfertigung der Rechtsmittelschrift neben der Prüfung der Rechtsmittelfrist auch die ordnungsgemäße Notierung der zu diesem Zeitpunkt bereits feststehenden Rechtsmittelbegründungsfrist zu kontrollieren hat (BAG 18. Januar 2006 - 9 AZR 454/04 - zu II 2 b der Gründe, nicht veröffentlicht). Auch der Achte Senat des Bundesarbeitsgerichts erkennt ein Verschulden des Rechtsanwalts, wenn dieser eine Akte, die ihm noch vor Ablauf der Revisionsbegründungsfrist vorgelegt worden war, ohne eigene Prüfung, ob im Fristenkalender der richtige Fristablauf für die Revisionsbegründung vermerkt war, bearbeitet hat. Werde einem Rechtsanwalt die Handakte zur Anfertigung einer Rechtsmittelschrift vorgelegt, habe er neben der Prüfung der Rechtsmittelfrist auch die ordnungsgemäße Notierung der zu diesem Zeitpunkt bereits feststehenden Rechtsmittelbegründungsfrist im Fristenkalender zu prüfen (BAG 31. Januar 2008 - 8 AZR 27/07 - Rn. 21, BAGE 125, 333; 18. Juni 2015 - 8 AZR 556/14 - Rn. 13). Die Entscheidungen sind jeweils im Anschluss an ältere, ausdrücklich in Bezug genommene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ergangen (BGH 3. Mai 2011 - VI ZB 4/11 - Rn. 6; 19. April 2005 - X ZB 31/03 - zu II der Gründe). Dieser Rechtsprechung ebenfalls angeschlossen haben sich auch der Dritte Senat (BAG 17. Oktober 2012 - 3 AZR 633/12 - Rn. 15) und der Erste Senat (BAG 10. Januar 2003 - 1 AZR 70/02 - zu II 3 c der Gründe).
Rz. 17
c) Der Sechste Senat möchte der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs folgen. Weitergehende Pflichten des Rechtsanwalts würden seiner Auffassung nach zu einer Überspannung der Sorgfaltspflichten des Prozessbevollmächtigten und damit zu einer Verletzung des Justizgewährungsanspruchs führen.
Rz. 18
aa) Art. 103 Abs. 1 GG gebietet, dass sowohl die normative Ausgestaltung des Verfahrensrechts als auch das gerichtliche Verfahren im Einzelfall ein Maß an rechtlichem Gehör eröffnen, das sachangemessen ist, um dem in bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes gerecht zu werden, und das den Beteiligten die Möglichkeit gibt, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten (vgl. BVerfG 25. August 2015 - 1 BvR 1528/14 - Rn. 9). Die Garantie effektiven Rechtsschutzes verbietet den Gerichten, ein von der Verfahrensordnung eröffnetes Rechtsmittel ineffektiv zu machen und für Beschwerdeführende „leer laufen“ zu lassen. Gerichte dürfen bei der Auslegung und Anwendung der verfahrensrechtlichen Vorschriften den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht von Voraussetzungen abhängig machen, die unerfüllbar oder unzumutbar sind oder den Zugang in einer Weise erschweren, die aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen ist. Wird eine Frist versäumt, hängt die Möglichkeit, sich rechtliches Gehör zu verschaffen, davon ab, ob Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird. Der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verlangt insoweit, bei Anwendung und Auslegung der die Wiedereinsetzung regelnden Vorschriften die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung nicht zu überspannen (vgl. BVerfG 25. August 2015 - 1 BvR 1528/14 - Rn. 10 f. mwN).
Rz. 19
bb) Dies zugrunde gelegt, trägt die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs den Erfordernissen der anwaltlichen Praxis Rechnung, Büropersonal bei Bearbeitung der Akten effektiv einsetzen zu dürfen, und gewährleistet zugleich aufgrund der dem Rechtsanwalt weiterhin auferlegten Organisations- und Kontrollverpflichtungen die grundsätzliche Verantwortlichkeit des Prozessbevollmächtigten, insbesondere für Fristsachen. Diesen Anforderungen genügt die vom Prozessbevollmächtigten des Klägers dargelegte Kanzleiorganisation der Fristberechnung, Eintragung der Frist in den Kalender, der Notierung von Vorfristen im Fristenkalender (dazu BGH 17. Mai 2023 - XII ZB 533/22 - Rn. 10 ff.), die im vorliegenden Fall allerdings die Fristsäumnis nicht mehr verhindern konnte, und des „Systems das Abhakens“ zur Kennzeichnung der Erledigung von Fristnotierungen. Die Einhaltung dieser Anweisung hat der Prozessbevollmächtigte anhand der ihm jeweils bei Bearbeitung vorgelegten Handakte auf Grundlage der entsprechenden Eintragungen auf der Abschrift des Berufungsurteils geprüft. Eine weitergehende Pflicht zur eigenständigen Kontrolle des von der Rechtsanwaltsfachangestellten geführten Fristenkalenders durch den Prozessbevollmächtigten bestand - neben den ebenfalls vorgetragenen und durch eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemachten regelmäßigen Stichprobenkontrollen - nicht.
Rz. 20
III. Mit dieser Rechtsauffassung zum Umfang der Kontrollpflichten eines Rechtsanwalts bei Vorlage von Akten zur Bearbeitung weicht der Senat in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage von der Rechtsauffassung des Ersten, Dritten, Achten und Neunten Senats ab. Unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des erkennenden Senats wäre dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stattzugeben. Unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des Ersten, Dritten, Achten und Neunten Senats wäre der Antrag hingegen unbegründet. Gemäß § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG fragt daher der Sechste Senat bei diesen Senaten an, ob sie an ihrer Rechtsauffassung festhalten.
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Spelge |
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Volk |
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J.-P. Grüner |
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M. Werner |
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Fundstellen