Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensfehler. Anspruch auf rechtliches Gehör. mündliche Verhandlung in Form einer Videokonferenz. keine Teilnahme seitens des Klägers aufgrund technischer Probleme
Orientierungssatz
Ist das persönliche Erscheinen eines Klägers nicht angeordnet gewesen, ist dieser auch ordnungsgemäß geladen und in der Ladung ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass auch im Falle seines Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann, so ist es im Rahmen eines sozialgerichtlichen Verfahrens im Hinblick auf den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht zu beanstanden, wenn das Berufungsgericht in Abwesenheit des Klägers, dem wegen technischer Probleme eine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz (§ 110a SGG iVm §§ 153, 124 SGG) nicht möglich gewesen ist, verhandelt und entscheidet, nachdem der Kläger zu erkennen gegeben hat, dass die mündliche Verhandlung ohne ihn stattfinden könne.
Normenkette
SGG §§ 62, 110a, 124, 153, 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Der Antrag des Klägers, ihm für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 2. August 2022 Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wird abgelehnt.
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im vorgenannten Urteil wird als unzulässig verworfen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten
Gründe
I. Der Kläger begehrt eine höhere Erstattung von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung.
Der 1970 in Deutschland geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und mittlerweile in die Türkei verzogen. Nachdem er bei der Beklagten Auskünfte zu einer möglichen Beitragserstattung eingeholt hatte, beantragte er im Januar 2018 die Erstattung von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung. Mit Bescheid vom 28.3.2018 erstattete die Beklagte dem Kläger die geleisteten Arbeitnehmerbeiträge zur Rentenversicherung für die Zeit vom 1.9.1986 bis zum 29.2.2008 in Höhe von 27 767,36 Euro. Den Widerspruch, mit dem der Kläger insbesondere einen deutlich höheren Erstattungsbetrag begehrte, wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 4.7.2018).
Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 23.4.2020). Das LSG hat die Berufung des Klägers mit Urteil vom 2.8.2022 zurückgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf höhere Beitragserstattung. Seine gesundheitliche Situation (ua GdB 20) habe ebenso wenig wie mögliche, allerdings nicht aktenkundige Pflegezeiten für nahe Angehörige Auswirkungen auf den Erstattungsbetrag. Beiträge für nicht erwerbstätige Pflegepersonen sowie für Bezieher von Entgeltersatz- und Sozialleistungen seien nach dem Willen des Gesetzgebers nicht erstattungsfähig. Es habe bei der Erstattung auch der nach § 210 Abs 2 SGB VI erforderliche zeitliche Abstand zum letzten Versicherungspflichtverhältnis bestanden.
Mit Schreiben vom 16.9.2022 (eingegangen beim BSG am 23.9.2022) hat der Kläger Beschwerde eingereicht, die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) beantragt und am 5.12.2022 eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse übermittelt.
II. 1. Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von PKH ist abzulehnen. Einem Beteiligten kann für das Verfahren vor dem BSG nach § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Abs 1 Satz 1 ZPO nur dann PKH bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Nach Prüfung des Streitstoffs anhand der beigezogenen Gerichtsakten ist auch unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers nicht zu erkennen, dass ein nach § 73 Abs 4 SGG zugelassener Prozessbevollmächtigter in der Lage wäre, eine Nichtzulassungsbeschwerde erfolgreich zu begründen.
a) Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG sind nicht zu erkennen. Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Derartige Rechtsfragen sind nicht ersichtlich. Die Voraussetzungen, unter denen eine Beitragserstattung stattfinden kann und insbesondere, dass Beiträge nur in der Höhe erstattet werden, in der der Versicherte sie (selbst) getragen hat, ergeben sich aus § 210 Abs 3 Satz 1 SGB VI. Auch die Rechtsfolge, dass mit einer vorgenommenen Beitragserstattung das bisherige Versicherungsverhältnis aufgelöst wird und Ansprüche aus den bis zur Erstattung zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten nicht mehr bestehen, ergibt sich klar aus dem Gesetz (vgl § 210 Abs 6 Satz 2 und 3 SGB VI; siehe auch BSG Beschluss vom 31.7.2007 - B 5a/4 R 199/07 B - juris RdNr 7; BSG Beschluss vom 3.2.2022 - B 5 R 33/21 BH - juris RdNr 8). Es existiert zudem bereits eine umfassende Rechtsprechung des BSG zu Fragen der Beitragserstattung (vgl zB BSG Urteil vom 29.6.2000 - 4 RA 57/98 - BSGE 86, 262 = SozR 3-2600 § 210 Nr 2; siehe auch BVerfG Kammerbeschluss vom 24.11.1986 - 1 BvR 772/85, 1 BvR 773/85, 1 BvR 939/85 - SozR 2200 § 1303 Nr 34).
b) Ebenso wenig ist ersichtlich, dass das LSG einen abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem solchen des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts aufgestellt hat (Zulassungsgrund der Divergenz, § 160 Abs 2 Nr 2 SGG).
c) Schließlich vermag der Senat auch nicht festzustellen, dass ein Verfahrensmangel vorliegt, der gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zur Zulassung der Revision führen kann. Nach Halbsatz 2 dieser Bestimmung kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Dass ein solcher entscheidungserheblicher Verfahrensmangel aufgezeigt werden und vorliegen könnte, ist nicht ersichtlich.
Insbesondere verletzt die mit Beschluss des LSG-Senats vom 25.5.2021 nach § 153 Abs 5 SGG erfolgte Übertragung der Berufung auf den Berichterstatter zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern nicht das Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art 101 Abs 1 Satz 2 GG. Gesetzlicher Richter für die Entscheidung von Verfahren vor dem LSG ist grundsätzlich ein Senat in der Besetzung mit einem Vorsitzenden, zwei weiteren Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern (§ 33 Abs 1 Satz 1 SGG). Hiervon macht § 153 Abs 5 SGG eine Ausnahme. Danach kann das LSG in den Fällen einer Entscheidung des SG durch Gerichtsbescheid (§ 105 SGG) die Berufung durch Beschluss der berufsrichterlichen Mitglieder des Senats dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet. Vor der Übertragung sind die Beteiligten anzuhören. Der schriftlich abzufassende Beschluss ist der Geschäftsstelle zu übergeben (§ 153 Abs 1 iVm § 142 Abs 1 und § 134 SGG) und den Beteiligten zuzustellen (§ 133 Satz 2 SGG). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 23.4.2020 die Klage abgewiesen. Die Beteiligten wurden mit Schreiben vom 14.4.2021 zu der beabsichtigen Übertragung angehört und der entsprechende Übertragungsbeschluss der Berufsrichter wurde ihnen nach Übergabe an die Geschäftsstelle ordnungsgemäß zugestellt.
Es ist auch im Hinblick auf den Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) nicht zu beanstanden, dass das LSG am 2.8.2022 in Abwesenheit des Klägers verhandelt und entschieden hat, dem wegen technischer Probleme eine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz (§ 110a iVm §§ 153, 124 SGG) nicht möglich gewesen ist. Die im Ermessen des LSG stehende Entscheidung (vgl § 110a Abs 1 Satz 1 SGG) über die Durchführung einer Videoverhandlung im Beschluss vom 1.7.2022 erfolgte im Hinblick auf den Aufenthalt des Klägers in der Türkei und die infolge der Coronapandemie bestehenden Einreiseschwierigkeiten. Die Möglichkeit der Übertragung der Verhandlung in Bild und Ton nach § 110a SGG ersetzt nicht die mündliche Verhandlung als solche. Vielmehr wird allein von der zur Vornahme von Verfahrenshandlungen grundsätzlich notwendigen Anwesenheit der Beteiligten im Sitzungszimmer abgesehen und diese durch die Übertragung der Verhandlung an deren Aufenthaltsort ersetzt. Mit der Übertragung der Verhandlung in Bild und Ton gilt nach Gestattung durch das Gericht der Beteiligte durch Zuschaltung mittels Videokonferenz als anwesend. Damit wird ihm die Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung und die Vornahme wirksamer Verfahrenshandlungen ohne Anwesenheit am Ort der Verhandlung ermöglicht (vgl BSG Beschluss vom 13.12.2022 - B 12 R 6/22 B - juris RdNr 8 mwN). Es steht den Beteiligten jedoch in jedem Fall frei, nicht an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, sofern nicht das persönliche Erscheinen angeordnet ist (vgl BSG Beschluss vom 4.11.2021 - B 9 SB 76/20 B - juris RdNr 8). Soweit der ordnungsgemäß geladene Beteiligte dann nicht zu erkennen gibt, an der mündlichen Verhandlung teilnehmen zu wollen, und zum Termin nicht erscheint, kann das Gericht die mündliche Verhandlung ohne ihn durchführen oder nach § 126 SGG nach Aktenlage entscheiden, ohne dass der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt würde (vgl BSG Beschluss vom 25.2.2020 - B 13 R 320/18 B - juris RdNr 8 mwN; BSG Beschluss vom 24.9.2002 - B 13 RJ 55/02 B - juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 7.2.2001 - B 9 VM 1/00 B - juris RdNr 6).
Das persönliche Erscheinen des Klägers zum Termin am 2.8.2022 ist nicht angeordnet gewesen. Der Kläger ist ordnungsgemäß geladen und in der Ladung ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass auch im Falle seines Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann. Trotz umfangreicher Vorbereitungen auch unter Mithilfe des deutschen Generalkonsulats in Istanbul und der Auskunft des Klägers, er könne über sein Mobiltelefon per Videochat an der mündlichen Verhandlung teilnehmen, ist es ihm am Sitzungstag nicht möglich gewesen, eine Videoverbindung herzustellen. Es hat lediglich eine telefonische Verbindung zwischen dem Gericht und dem Kläger bestanden. Aus der Niederschrift zur mündlichen Verhandlung geht hervor, dass er dem Vorsitzenden im Rahmen der Audio-Verbindung mitgeteilt hat, er werde die Sitzung verlassen und wolle auf eine Entscheidung des Gerichts warten. Im Anschluss daran hat er die Verbindung beendet. Der Kläger hat dem Gericht damit zu erkennen gegeben, dass die mündliche Verhandlung ohne ihn stattfinden könne. Das LSG durfte bei dieser Sachlage in seiner Abwesenheit (einseitig) verhandeln und entscheiden.
Indem der Kläger geltend macht, er habe Anspruch auf einen deutlich höheren Erstattungsbetrag, wendet er sich gegen eine vermeintliche Fehlerhaftigkeit der Berufungsentscheidung. Darauf kann eine Nichtzulassungsbeschwerde jedoch ebenfalls nicht gestützt werden (vgl BSG Beschluss vom 6.12.2022 - B 5 R 39/22 BH - juris RdNr 10 mwN).
2. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG ist unzulässig, denn sie entspricht nicht der gesetzlichen Form. Die Beschwerde konnte, worauf der Kläger in der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils ausdrücklich hingewiesen worden ist, wirksam nur durch einen beim BSG zugelassenen Prozessbevollmächtigten innerhalb der dreimonatigen Beschwerdefrist eingelegt werden (§ 73 Abs 4, § 160a Abs 1 Satz 2, § 87 Abs 1 Satz 2 SGG). Ausnahmen hiervon sehen die gesetzlichen Regelungen nicht vor.
Die Beschwerde ist daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter als unzulässig zu verwerfen.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. |
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