Verfahrensgang
SG Koblenz (Entscheidung vom 19.04.2018; Aktenzeichen S 12 R 518/15) |
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 15.01.2020; Aktenzeichen L 6 R 133/18) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. Januar 2020 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt nach rückwirkender Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung die Auszahlung eines Nachzahlungsbetrags, den die Beklagte im Hinblick auf Erstattungsansprüche des Trägers der Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht an sie ausgekehrt hat. Die Beklagte teilte der Klägerin im Schreiben vom 18.5.2010 mit, dass sie aus dem Rentennachzahlungsbetrag ua einen Erstattungsanspruch der Beigeladenen für deren Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 4725,75 Euro erfüllt habe; die der Klägerin selbst noch zustehende Nachzahlung belaufe sich auf 1508,45 Euro. Erstmals mit Fax vom 21.8.2013 bat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin um Entscheidung über seinen Widerspruch gegen den Bescheid vom 18.5.2010 zur Abrechnung der Rentennachzahlung und fügte ein auf den 15.9.2010 datiertes Widerspruchsschreiben "vorsorglich … noch einmal bei". Die Beklagte wies den Widerspruch als unzulässig zurück, weil das Schreiben vom 18.5.2010 kein Verwaltungsakt sei (Widerspruchsbescheid vom 21.5.2015).
Das SG hat die Anfechtungs- und Leistungsklage abgewiesen; die Anfechtungsklage sei unzulässig, da das Schreiben vom 18.5.2010 keinen Verwaltungsakt enthalte, die Leistungsklage hingegen unbegründet (Urteil vom 19.4.2018). Die Berufung der Klägerin gegen diese Entscheidung hat das LSG zurückgewiesen. Es hat die Anfechtungsklage als statthaft angesehen, da auch die Abrechnungsmitteilung vom 18.5.2010 einen Verwaltungsakt enthalten habe. Dieser sei jedoch materiell rechtmäßig, weil der Gesetzgeber im Jahr 2014 mit der Regelung in § 40a SGB II rückwirkend zum 1.1.2009 eine Rechtsgrundlage für einen Erstattungsanspruch des Trägers der Grundsicherung gegenüber dem Rentenversicherungsträger geschaffen habe, deren tatbestandliche Voraussetzungen erfüllt seien. Verfassungsrechtliche Bedenken bestünden nicht, zumal hier auch eine echte Rückwirkung zulässig gewesen sei (Urteil vom 15.1.2020).
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde beim BSG eingelegt. Sie beruft sich auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und rügt zudem einen Verfahrensmangel.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig, weil sie nicht nach Maßgabe der Erfordernisse des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG formgerecht begründet worden ist. Die Beschwerde ist daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 SGG ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen.
1. Die Klägerin hat eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht in der erforderlichen Weise dargelegt.
Eine Rechtssache hat nur dann iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Zur ordnungsgemäßen Bezeichnung des Revisionszulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung muss der Beschwerdeführer daher eine Rechtsfrage benennen und zudem deren (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (stRspr, zB BSG Beschluss vom 31.7.2017 - B 1 KR 47/16 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 30 RdNr 4 mwN).
Das Vorbringen der Klägerin wird diesen Anforderungen nicht in vollem Umfang gerecht. Sie benennt zwar folgende konkrete, aus mehreren Teilen bestehende Rechtsfrage:
"Verstößt die Vorschrift des § 40a SGB II gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot bzw. die Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs. 4 GG bzw. liegt ein Verstoß des § 40a SGB II gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot bzw. die Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs. 4 GG jedenfalls in solchen Fällen vor, in denen die Betroffenen durch Einlegung von Rechtsmitteln lange vor Einführung der Vorschrift einen entsprechenden Vertrauensschutztatbestand geschaffen haben?"
Die Klägerin hat aber die Klärungsbedürftigkeit dieser Fragen nicht ausreichend dargelegt. Allein die Bemerkung, es ließen sich zu diesen Fragen völlig unterschiedliche Auffassungen vertreten, wie sich schon daraus ergebe, dass die Klägerin die gegenteilige Position zu der vom Berufungsgericht in der angefochtenen Entscheidung begründeten Auffassung vertrete, genügt hierfür nicht. Ebenso wenig reicht der Hinweis aus, dass es zu diesen Fragen noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung gebe. Leitet eine Beschwerde die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache aus einer Verletzung von Verfassungsrecht ab, darf sie sich nicht auf die bloße Benennung angeblich verletzter Rechtsgrundsätze beschränken, sondern muss unter Auswertung der einschlägigen Rechtsprechung des BVerfG und des BSG zu den konkret als verletzt gerügten Verfassungsnormen bzw -prinzipien in substantieller Argumentation aufzeigen, woraus sich unter Berücksichtigung der darin entwickelten Maßstäbe im konkreten Fall die Verfassungswidrigkeit ergeben soll (stRspr, zB bereits BSG Beschluss vom 22.8.1975 - 11 BA 8/75 - BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11 S 14; jüngst BSG Beschluss vom 11.11.2019 - B 1 KR 87/18 B - juris RdNr 9 mwN; BSG Beschluss vom 11.2.2020 - B 10 EG 14/19 B - juris RdNr 11). Das hätte hier - nicht zuletzt im Hinblick auf die ausführlichen verfassungsrechtlichen Ausführungen im Urteil des LSG - jedenfalls auch eine Auseinandersetzung mit den vom BVerfG anerkannten Voraussetzungen für eine ausnahmsweise verfassungsrechtlich unbedenkliche echte Rückwirkung (vgl BVerfG Beschluss vom 16.12.2015 - 2 BvR 1958/13 - BVerfGE 141, 56 RdNr 43 f) sowie mit dem genauen Gewährleistungsgehalt der Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs 4 GG(vgl BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 19.6.2019 - 2 BvR 2299/15 - juris RdNr 23; s auch Schulze-Fielitz in Dreier, GG, 3. Aufl 2013, Art 19 IV RdNr 84 ff) erfordert. Die Beschwerdebegründung enthält dazu nichts.
Aber auch zur Klärungsfähigkeit der von ihr aufgeworfenen Fragen in dem erstrebten Revisionsverfahren hat die Klägerin nicht ausreichend vorgetragen. Es ist nicht ohne Weiteres ersichtlich, dass - wie von ihr behauptet - der Klage stattgegeben werden müsste, wenn entgegen den Ausführungen des LSG ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot anzunehmen wäre. Zweifel daran, dass diese verfassungsrechtlichen Fragen hier überhaupt entscheidungserheblich sind, ergeben sich insbesondere daraus, dass das LSG festgestellt hat, der Widerspruch der Klägerin gegen das Abrechnungsschreiben vom 18.5.2010 sei "nach Aktenlage bei der Beklagten erstmals am 22.8.2013 eingegangen". Auch wenn das LSG auf diesen im Tatbestand wiedergegebenen Umstand in den Entscheidungsgründen nicht weiter eingegangen ist, hätte es zur Begründung der Klärungsfähigkeit der formulierten Rechtsfragen näherer Darlegungen bedurft, weshalb das vom LSG (ebenso wie von der Klägerin) als Verwaltungsakt angesehene Abrechnungsschreiben vom 18.5.2010 unter Berücksichtigung der Regelung in § 66 Abs 2 SGG noch nicht formell bestandskräftig geworden sein könnte.
2. Auch einen Verfahrensmangel hat die Klägerin nicht ausreichend bezeichnet.
Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde damit begründet, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG), so müssen in der Beschwerdebegründung zur Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert und schlüssig dargestellt werden. Darüber hinaus ist aufzuzeigen, inwiefern die angefochtene Entscheidung auf diesem Verfahrensmangel beruhen kann (stRspr, zB BSG Beschluss vom 21.1.2020 - B 13 R 190/19 B - juris RdNr 5 mwN).
Die Beschwerdebegründung der Klägerin entspricht diesen Anforderungen nicht. Sie rügt eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG), weil das LSG ihren Vortrag im Schriftsatz vom 7.10.2019, dass auch ein Verstoß gegen Art 19 Abs 4 GG vorliege, nicht zur Kenntnis genommen und nicht in Erwägung gezogen habe. Das ergebe sich daraus, dass sich das Urteil des LSG lediglich mit dem fehlenden Vertrauensschutz befasse, aber keinerlei Ausführungen dazu mache, "aus welchen Gründen es verfassungsrechtlich zulässig sein soll, dass ein von einem Betroffenen mit rechtlich zutreffender Argumentation eingelegter Rechtsbehelf durch ein rückwirkend in Kraft tretendes ≪zu ergänzen: Gesetz≫ plötzlich wirkungslos wird und erfolglos verläuft". Bei diesem Vortrag habe es sich "um einen entsprechenden Kernvortrag" gehandelt, da die Klägerin ausdrücklich auch einen Verstoß gegen Art 19 Abs 4 GG gerügt habe.
Damit hat die Klägerin eine Gehörsverletzung nicht schlüssig bezeichnet. Ungeachtet des Umstands, dass im Tatbestand des LSG-Urteils (dort Umdruck Seite 8 Abs 1 am Ende) der entsprechende Vortrag der Klägerin wiedergegeben ist, verpflichtet der Anspruch auf rechtliches Gehör das Gericht nicht, sich mit jeglichem Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Vielmehr ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat (vgl bereits BVerfG Beschluss vom 15.1.1969 - 2 BvR 326/67 - BVerfGE 25, 137, 140). Zur schlüssigen Darlegung einer Gehörsrüge müssen deshalb im Einzelfall besondere Umstände deutlich gemacht werden, aus denen sich ergibt, dass das Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (stRspr, vgl BVerfG Beschluss vom 22.11.1983 - 2 BvR 399/81 - BVerfGE 65, 293, 295 f = SozR 1100 Art 103 Nr 5 S 3 f; s auch BSG Beschluss vom 15.4.2019 - B 13 R 233/17 B - juris RdNr 18 mwN). Das kann etwa der Fall sein, wenn ein bestimmter Vortrag eines Beteiligten den Kern seines Vorbringens ausmacht und für den Prozessausgang eindeutig von entscheidender Bedeutung ist. Insoweit besteht für das Gericht eine Pflicht, die vorgebrachten Argumente ausdrücklich zu erwägen; ein Schweigen der Entscheidungsgründe lässt dann den Schluss zu, dass der Vortrag nicht beachtet worden ist (vgl BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 7.7.2020 - 1 BvR 596/17 - juris RdNr 10 mwN).
Entsprechende Umstände hat die Klägerin in ihrer Beschwerdebegründung nicht dargelegt. Sie behauptet zwar pauschal, die Rüge einer Verletzung auch des Art 19 Abs 4 GG habe einen "Kernvortrag" betroffen. Aus dem von ihr wörtlich wiedergegebenen Schreiben vom 7.10.2019 ergibt sich das jedoch nicht einmal ansatzweise. Dieses Schreiben befasst sich ganz überwiegend mit dem Aspekt des Vertrauensschutzes, zu dem sich das LSG ausführlich geäußert hat. "Auch ein Verstoß gegen Art 19 Abs. 4 GG" wird in dem genannten Schreiben der Klägerin lediglich zum Schluss und ohne jede nähere Begründung gerügt. Ein den Kern des Vorbringens ausmachender Vortrag iS der Rechtsprechung des BVerfG zu Art 103 Abs 1 GG liegt aber entgegen der Ansicht der Klägerin nicht allein deshalb vor, weil irgendeine Vorschrift "ausdrücklich" als verletzt gerügt wird.
Im Übrigen fehlt es an einer schlüssigen Darstellung, inwiefern die Entscheidung des LSG auf einer fehlenden Auseinandersetzung mit dem Vorbringen einer Verletzung des Art 19 Abs 4 GG beruhen könnte (vgl dazu auch oben unter 1.).
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI14113871 |