Verfahrensgang

SG Potsdam (Entscheidung vom 30.01.2019; Aktenzeichen S 7 KR 70/18)

LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 11.02.2022; Aktenzeichen L 28 KR 103/19)

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. Februar 2022 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der bei der beklagten Krankenkasse gesetzlich versicherte Kläger ist mit seinem Begehren auf Feststellung einer reduzierten Leistungsverpflichtung der Beklagten entsprechend dem in § 16 Abs 3a Satz 2 SGB V geregelten Umfang ohne Nutzung einer elektronischen Gesundheitskarte (eGK) bei der Beklagten und in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Für die Feststellung einer - von einem konkreten Leistungsfall unabhängigen - abstrakten Leistungsverpflichtung der Beklagten fehle es an dem erforderlichen berechtigten Feststellungsinteresse des Klägers. Im Übrigen wäre die Klage - ihre Zulässigkeit unterstellt - auch unbegründet. Die Beklagte sei nicht verpflichtet, Leistungen ohne Ausstellung einer eGK zu erbringen. Dies gelte auch für die in § 16 Abs 3a Satz 2 SGB V aufgeführten (reduzierten) Leistungen. Den Kläger treffe vielmehr die gesetzliche Obliegenheit, an der Herstellung der eGK mitzuwirken und diese zu verwenden, um die Berechtigung zur Inanspruchnahme ambulanter Behandlung nachzuweisen und damit zugleich Abrechnungen der Leistungserbringer und den online erfolgenden Abgleich von Versichertenstammdaten zu ermöglichen (Beschluss des LSG vom 11.2.2022).

Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG.

II

Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Revisionszulassungsgründe der Divergenz (dazu 1.), der grundsätzlichen Bedeutung (dazu 2.) und des Verfahrensmangels (dazu 3.).

1. Wer sich auf den Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) beruft, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze im Urteil des Berufungsgerichts einerseits und in einem Urteil des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG andererseits gegenüberstellen und Ausführungen dazu machen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen und das Berufungsurteil auf dieser Divergenz beruht (vgl zB BSG vom 19.9.2007 - B 1 KR 52/07 B - juris RdNr 6; BSG vom 9.5.2018 - B 1 KR 55/17 B - juris RdNr 8; zur Verfassungsmäßigkeit dieser Darlegungsanforderungen vgl BVerfG ≪Dreierausschuss≫ vom 8.9.1982 - 2 BvR 676/81 - juris RdNr 8). Erforderlich ist, dass das LSG bewusst einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt und nicht etwa lediglich fehlerhaft das Recht angewendet hat; dies hat der Beschwerdeführer schlüssig darzulegen (vgl zB BSG vom 19.11.2019 - B 1 KR 72/18 B - juris RdNr 8). Daran fehlt es.

Der Kläger rügt, die Entscheidung des LSG werde den verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG zu Art 2 Abs 1 und Art 2 Abs 2 Satz 1 GG nicht gerecht. Er zitiert hierzu ua wörtlich mehrere Passagen aus dem Beschluss des BVerfG vom 6.12.2005 (1 BvR 347/98 - BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5), ohne diesen hiervon abweichende abstrakte Rechtssätze des LSG gegenüberzustellen. Hierbei verkennt er, dass das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde auch beim Zulassungsgrund der Divergenz nicht dazu dient, die von einem Beschwerdeführer angezweifelte inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung des LSG - auch in Bezug auf die Beachtung und Einhaltung von Maßstäben aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung - nochmals allgemein überprüfen zu lassen; das bloße Berufen auf eine unrichtige Rechtsanwendung ist kein Zulassungsgrund (vgl BSG vom 23.5.2007 - B 1 KR 27/07 B - juris RdNr 5).

2. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG vom 17.4.2012 - B 13 R 347/11 B - SozR 4-2600 § 72 Nr 5 RdNr 17 mwN; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs BVerfG vom 14.4.2010 - 1 BvR 2856/07 - SozR 4-1500 § 160a Nr 24 RdNr 5 ff mwN). Dem wird das Beschwerdevorbringen nicht gerecht.

a) Der Kläger will höchstrichterlich geklärt wissen,

"ob sich ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat - jenseits des unmittelbaren Zwangs zur Abwehr konkreter Gefahrensituationen - körperlicher und seelischer Leiden zur Durchsetzung seiner unbestritten berechtigten Anliegen bedienen darf".

Diese Frage erfüllt schon nicht die Anforderungen an eine klar formulierte Rechtsfrage. Denn die Konkretisierung setzt regelmäßig voraus, dass die Rechtsfrage mit "Ja" oder "Nein" beantwortet werden kann; das schließt nicht aus, dass eine Frage gestellt wird, die je nach den formulierten Voraussetzungen mehrere Antworten zulässt. Unzulässig ist jedoch eine Fragestellung, deren Beantwortung von den Umständen des Einzelfalles abhängt und damit auf die Antwort "kann sein" hinausläuft (stRspr; vgl zB BSG vom 11.11.2019 - B 1 KR 87/18 B - juris RdNr 6 mwN; BSG vom 27.1.2020 - B 8 SO 67/19 B - juris RdNr 10). Die Frage des Klägers ist so allgemein gehalten, dass ihre Beantwortung eine kommentar- oder lehrbuchartige Aufbereitung durch den Senat verlangen würde. Sie könnte offensichtlich nicht losgelöst von näher zu differenzierenden Sachverhaltskonstellationen beantwortet werden. Eine in dieser Weise unkonkrete Frage kann jedoch gerade nicht Gegenstand eines Revisionsverfahrens sein (vgl hierzu auch BSG vom 1.3.2018 - B 8 SO 104/17 B - juris RdNr 8).

Zudem legt der Kläger auch jedenfalls die Klärungsfähigkeit der von ihm formulierten Rechtsfrage nicht dar. Nach den vom LSG getroffenen Feststellungen und dem Inhalt der gesetzlichen Regelungen in § 15 Abs 2 SGB V iVm §§ 291 bis 291b SGB V bedient sich die Beklagte keiner "körperlichen und seelischen Leiden" zur Durchsetzung ihrer Anliegen, sondern sie macht lediglich die Inanspruchnahme von Leistungen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung von der (gesetzlichen) Obliegenheit zur Verwendung der eGK abhängig (vgl zu dieser Obliegenheit BSG vom 20.1.2021 - B 1 KR 7/20 R - BSGE 131, 169 = SozR 4-2500 § 291a Nr 2, RdNr 15 ff).

b) Sofern man vor diesem Hintergrund dem Beschwerdevorbringen sinngemäß die weitere Rechtsfrage entnehmen könnte, ob die gesetzlichen Regelungen zur elektronischen Gesundheitskarte hinsichtlich der in § 16 Abs 3a Satz 2 SGB V geregelten (reduzierten) Leistungen mit den Grundrechten aus Art 2 Abs 1 und Art 2 Abs 2 Satz 1 GG vereinbar sind, fehlt es jedenfalls an Darlegungen zur Klärungsbedürftigkeit dieser Rechtsfrage.

Grundsätzliche Bedeutung kann zwar auch der Frage der Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Vorschrift zukommen (vgl BSG vom 22.10.1975 - 8 BU 88/75 - SozR 1500 § 160a Nr 17). Dabei kommt es aber nicht auf den Bedarf nach Klärung durch das BVerfG an, sondern entscheidend ist die Frage nach der Klärungsbedürftigkeit und -fähigkeit innerhalb des Revisionsverfahrens (vgl BSG vom 31.5.2012 - B 13 R 70/12 B - juris RdNr 9 mwN).

Der erkennende Senat hat bereits entscheiden, dass die gesetzlichen Regelungen zur eGK einen Eingriff in das Grundrecht der Versicherten auf informationelle Selbstbestimmung (Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Abs 1 GG) bewirken, der aber gerechtfertigt ist (vgl BSG vom 20.1.2021 - B 1 KR 7/20 R - BSGE 131, 169 = SozR 4-2500 § 291a Nr 2; ferner BSG vom 20.1.2021 - B 1 KR 15/20 R - juris; jeweils RdNr 92 ff). Hiermit setzt sich der Kläger nicht auseinander.

Soweit er die Grundrechte aus Art 2 Abs 1 und Art 2 Abs 2 Satz 1 GG als betroffen ansieht und meint, der Gesetzgeber, die Beklagte und die vorinstanzlichen Gerichte hätten keine Einordnung der Leistungsverweigerung mit Blick auf das staatliche Schutzgut Leben und den verfassungsmäßigen Auftrag der Krankenkassen vorgenommen, und der Ausschluss von der ambulanten medizinischen Versorgung sei eine unverhältnismäßige Sanktion, legt der Kläger nicht dar, dass die Beklagte ihm tatsächlich Leistungen allgemein verweigert hat bzw woraus sich der behauptete "Ausschluss von der ambulanten medizinischen Versorgung" ergeben sollte. Nach den vom LSG getroffenen - vom Kläger nicht angegriffenen - Feststellungen zum Inhalt des angefochtenen Bescheides hat die Beklagte es lediglich abgelehnt, dem Kläger abstrakt die Kostenübernahme für ambulante Behandlungen ohne Vorlage einer gültigen eGK zuzusichern. Sie macht damit die Gewährung von Leistungen lediglich von der Erfüllung der gesetzlichen Obliegenheit zur Verwendung der eGK abhängig (siehe RdNr 9).

3. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB BSG vom 18.2.1980 - 10 BV 109/79 - SozR 1500 § 160a Nr 36 mwN; BSG vom 31.7.2017 - B 1 KR 47/16 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 30 RdNr 16 mwN). Daran fehlt es.

a) Der Kläger macht geltend, das LSG habe seine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung getroffen, obwohl er mehrfach ausdrücklich auf eine mündliche Verhandlung bestanden habe. Er rügt damit in der Sache eine Verletzung des § 153 Abs 4 SGG.

Die Entscheidung, die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 Satz 1 SGG zurückzuweisen, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts und kann nur auf fehlerhaften Gebrauch, dh sachfremde Erwägungen und grobe Fehleinschätzung, überprüft werden (vgl BSG vom 2.5.2001 - B 2 U 29/00 R - SozR 3-1500 § 153 Nr 13 S 38; BSG vom 12.2.2009 - B 5 R 386/07 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 7 RdNr 27; BSG vom 23.3.2018 - B 1 KR 80/17 B - juris RdNr 8; BSG vom 6.8.2019 - B 13 R 233/18 B - juris RdNr 10 mwN). Eine grobe Fehleinschätzung liegt vor, wenn bei Abwägung aller zu berücksichtigenden Umstände die Wahl des vereinfachten Verfahrens ohne mündliche Verhandlung unter keinen Umständen zu rechtfertigen ist (vgl BSG vom 23.3.2018 - B 1 KR 80/17 B - juris RdNr 8; BSG vom 18.6.2019 - B 9 V 38/18 B - juris RdNr 10; jeweils mwN).

Dass dies vorliegend der Fall war, zeigt der Kläger nicht auf. Er macht lediglich geltend, in einer mündlichen Verhandlung hätte er darlegen können, wie sich die Leistungsverweigerung der Beklagten konkret auf sein Leben auswirke. Er legt aber schon nicht dar, inwiefern diese Auswirkungen für die rechtliche Bewertung des LSG überhaupt relevant gewesen sein sollten.

b) Der Kläger rügt ferner, er habe die Bestellung eines gerichtlichen Gutachters beantragt, um die Anzahl der Todesfälle von Verweigerern der eGK zu klären, deren Tod durch die Nichtgewährung von Leistungen durch Krankenkassen (mit)verursacht worden seien. Diesem Beweisangebot sei das LSG nicht nachgegangen.

Die damit erhobene Rüge der Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 103 SGG) erfordert, dass in der Beschwerdebegründung ein für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbarer, bis zuletzt aufrechterhaltener oder im Urteil wiedergegebener Beweisantrag bezeichnet wird, dem das LSG nicht gefolgt ist, dass die Rechtsauffassung des LSG wiedergegeben wird, auf deren Grundlage bestimmte Tatfragen klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen, dass die von dem Beweisantrag betroffenen tatsächlichen Umstände aufgezeigt werden, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten, dass das voraussichtliche Ergebnis der unterbliebenen Beweisaufnahme angegeben und dass erläutert wird, weshalb die Entscheidung des LSG auf der unterlassenen Beweiserhebung beruhen kann (stRspr; vgl zB BSG vom 16.5.2019 - B 13 R 222/18 B - juris RdNr 12 mwN). Für die Frage, ob ein hinreichender Grund für die unterlassene Beweiserhebung vorliegt, kommt es darauf an, ob das Gericht objektiv gehalten gewesen wäre, den Sachverhalt zu dem von dem betreffenden Beweisantrag erfassten Punkt weiter aufzuklären, ob es sich also zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen (stRspr; vgl zB BSG vom 7.4.2011 - B 9 SB 47/10 B - juris RdNr 4).

An diesen Anforderungen richtet der Kläger sein Vorbringen nicht aus. Er legt schon nicht dar, inwiefern die Anzahl der Todesfälle von Verweigerern der eGK auf der Grundlage der Rechtsauffassung des LSG hätte klärungsbedürftig erscheinen müssen.

4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Schlegel                                       Scholz                               Bockholdt

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15365153

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