Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Anspruch auf rechtliches Gehör. mündliche Verhandlung in Abwesenheit eines Beteiligten. Antrag auf Ermöglichung der Teilnahme durch Übertragung der Verhandlung in Bild und Ton an einen anderen Ort. keine Entscheidung des Gerichts vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung
Orientierungssatz
Zum Vorliegen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, wenn das Gericht vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung nicht über einen rechtzeitig gestellten Antrag auf Ermöglichung der Teilnahme an der Verhandlung durch deren Übertragung in Bild und Ton an einen anderen Ort entscheidet.
Normenkette
SGG § 160a Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, §§ 62, 124 Abs. 1, § 110a; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
SG München (Gerichtsbescheid vom 17.12.2020; Aktenzeichen S 16 AS 1833/20) |
Bayerisches LSG (Urteil vom 13.07.2021; Aktenzeichen L 15 AS 725/20) |
Tenor
Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in die Fristen zur Einlegung und Begründung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 13. Juli 2021 gewährt.
Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 13. Juli 2021 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Der bis zum Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nicht rechtskundig vertretene Kläger wendet sich gegen die Nichtzulassung der Revision in einem Urteil des LSG, das dieses nach mündlicher Verhandlung in seiner Abwesenheit gesprochen hat. Das SG hat die Klage durch Gerichtsbescheid abgewiesen. Im Berufungsverfahren hat der Kläger nach Erhalt der Ladung zur mündlichen Verhandlung am 13.7.2021 ua jeweils einen mündlichen (15.6.2021) und einen schriftlichen (20.6.2021) Antrag auf Übertragung der Verhandlung in Bild und Ton sowie auf Reisekostenvorschuss gestellt. Das LSG hat jedenfalls über die Anträge auf Übertragung der Verhandlung in Bild und Ton nicht entschieden und mit Urteil vom 13.7.2021 die Berufung zurückgewiesen sowie eine während des Berufungsverfahrens erhobene Klage abgewiesen.
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger als Verfahrensmangel eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör ua wegen der fehlenden Entscheidung über seine Anträge auf Übertragung der Verhandlung in Bild und Ton.
II. Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist (§ 67 Abs 2 Satz 4 SGG) wegen der fristgerechten Stellung eines PKH-Antrags durch ihn und der fristgerechten Beschwerdeeinlegung und -begründung seines Prozessbevollmächtigten nach der Bewilligung von PKH durch den Senat gewährt.
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig und im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und Zurückverweisung der Sache begründet (§ 160a Abs 5 SGG).
Das Urteil des LSG vom 13.7.2021 beruht auf einem vom Kläger hinreichend bezeichneten (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Das LSG hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) verletzt, weil es auf seinen rechtzeitig gestellten Antrag auf Übertragung der Verhandlung in Bild und Ton nicht vor dem Termin am 13.7.2021 entschieden hat.
Nach § 124 Abs 1 SGG entscheidet das Gericht - soweit nichts anderes bestimmt ist - aufgrund mündlicher Verhandlung. Der Mündlichkeitsgrundsatz gewährt den Beteiligten grundsätzlich das Recht, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Die mündliche Verhandlung dient dem Zweck, dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen und mit ihnen den Streitstoff erschöpfend zu erörtern (vgl zum Ganzen BSG vom 11.2.2015 - B 13 R 329/13 B - RdNr 11; BSG vom 19.12.2017 - B 1 KR 38/17 B - RdNr 6, jeweils mwN). § 110a SGG regelt eine Ausnahme von der grundsätzlich erforderlichen Anwesenheit des Beteiligten am Ort der mündlichen Verhandlung (vgl Böttiger in Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl 2020, § 110a RdNr 5). Mit der Übertragung der Verhandlung in Bild und Ton gilt nach Gestattung durch das Gericht der Beteiligte durch Zuschaltung mittels Videokonferenz als anwesend. Damit wird ihm die rechtlich wirksame Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung ermöglicht.
Vorliegend hat der Kläger mehrfach und ausdrücklich geltend gemacht, dass er eine mündliche Verhandlung für erforderlich hält und an dieser auch teilnehmen möchte. Er hat zudem beantragt, ihm die Teilnahme an der Verhandlung durch deren Übertragung in Bild und Ton zu ermöglichen. Zwar hat er hierzu auf eine Vorschrift der ZPO verwiesen, die die Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung ermöglicht (§ 128a ZPO). Trotz fehlender Benennung der § 128a ZPO entsprechenden Regelung für das sozialgerichtliche Verfahren (§ 110a SGG) war hinreichend deutlich, dass der Kläger auch bereit sein würde, mit technischer Unterstützung und damit auf andere Weise als durch Anwesenheit am Ort der mündlichen Verhandlung seinen Anspruch auf rechtliches Gehör durchzusetzen. Durch den ebenfalls gestellten Antrag auf Reisekostenvorschuss hat der Kläger Mittellosigkeit als Hinderungsgrund für eine eigenfinanzierte Teilnahme am Termin geltend gemacht. Er hat dadurch schon mit dem Antrag einen abwägungsrelevanten Gesichtspunkt für die Anordnung der Übertragung der mündlichen Verhandlung in Bild und Ton vorgebracht (vgl Müller in jurisPK-ERV, § 110a SGG RdNr 62.1, 63, Stand 23.2.2022).
Angesichts des zeitlichen Ablaufs ist nicht erkennbar, dass das LSG, hätte es beabsichtigt, sein Ermessen in Richtung einer Ablehnung des Antrags auszuüben, nicht in diesem Sinne hätte entscheiden können. Dann wären dem Kläger ggf weitere Schritte möglich gewesen, seine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung doch noch zu organisieren. Bei einer geplanten Gestattung der Übertragung spricht nichts dafür, dass das LSG die in technischer Hinsicht abzuklärenden erforderlichen Organisationsmaßnahmen nicht mehr rechtzeitig hätte treffen können. Auch wenn nach weiterer Prüfung eine den Anforderungen des § 110a SGG entsprechende Übertragung nicht hätte durchgeführt werden können, wäre seine Entscheidung über den Antrag nicht entbehrlich gewesen. Weil die Gestattung der Teilnahme konstitutiv für die Wirksamkeit der Verfahrenshandlungen ist (zuletzt Böttiger in jurisPR-SozR 20/2021 Anm 4 mwN), das LSG aber nicht über den Antrag entschieden hat, kam eine der Anwesenheit in Präsenz gleichzustellende Teilnahme des Klägers über § 110a SGG nicht in Betracht.
Die Entscheidung des LSG kann auch auf dem Verfahrensfehler der Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör beruhen. Grundsätzlich bedarf es keines vertieften Vortrags zum "Beruhen" der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler, wenn ein Beschwerdeführer behauptet, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein. Wegen der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens genügt es, dass eine andere Entscheidung nicht auszuschließen ist, wenn der Betroffene Gelegenheit gehabt hätte, in der mündlichen Verhandlung vorzutragen (vgl nur BSG vom 19.12.2017 - B 1 KR 38/17 B - RdNr 8 mwN). Vorliegend ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass das LSG zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn der Kläger Gelegenheit gehabt hätte, sich über das Verfahren nach § 110a SGG in einer mündlichen Verhandlung zu seinem Begehren zu äußern. Das gilt insbesondere, weil das LSG Erklärungen des Klägers für auslegungsbedürftig gehalten und diese Auslegung ohne weitere Rücksprache mit ihm vorgenommen hat.
Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner Erörterung, ob die weiteren vom Kläger bezeichneten Verfahrensmängel ebenfalls vorgelegen haben und die Entscheidung des LSG auch hierauf beruhen kann.
Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG - wie hier - vorliegen. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.
S. Knickrehm Siefert Neumann
Fundstellen
Dokument-Index HI15203417 |