Verfahrensgang
Tenor
Der Antrag der Klägerin ihr Prozesskostenhilfe für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28. Juli 2021 zu bewilligen und einen Rechtsanwalt beizuordnen, wird abgelehnt.
Gründe
I
Die bei der beklagten Krankenkasse, versicherte gewesene, 2010 verstorbene Mutter der Klägerin war an einem Ovarialkarzinom erkrankt, zu dessen Behandlung sie sich selbst das für diese Indikation nicht zugelassene Arzneimittel Avastin (Wirkstoff Bevacizumab) zum Preis von 16 433,25 Euro beschaffte. Die Klägerin als (Sonder-)Rechtsnachfolgerin der Versicherten ist mit ihrem Begehren auf Kostenerstattung beim SG erfolglos geblieben. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin, ein Mitarbeiter des VdK, Landesverband e.V., hat in Abwesenheit der Klägerin, deren persönliches Erscheinen nicht angeordnet gewesen war, am 8.10.2019 in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG auf dessen Vorschlag folgenden Vergleich mit der Beklagten geschlossen: "I. Die Beklagte zahlt der Klägerin ein Pauschalbetrag von 1.000,- €. II. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet. III. Die Beteiligten sind sich einig, dass damit der Rechtsstreit vollumfänglich erledigt ist." Der Vergleich ist ausweislich des Protokolls vorgelesen und von den Beteiligten genehmigt worden. Die Klägerin hat mit Schreiben vom 7.10.2020, eingegangen beim LSG am 8.10.2020 den Vergleich angefochten. Nach Ablehnung des Antrags auf Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) mit Beschluss vom 9.2.2021 hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 18.5.2021 ihren "Feststellungsantrag, dass der Vergleich vom 08.10.2019 unwirksam ist", zurückgenommen. Sodann hat die Klägerin mit erneutem Scheiben vom 2.6.2021 ihre Auffassung bekräftigt, dass der Prozessvergleich unwirksam sei und sie ihren Feststellungsantrag nicht zurückgenommen habe. Das LSG hat nach entsprechender Anhörung zur beabsichtigten Entscheidung durch Beschluss vom 28.7.2021 festgestellt, dass die Berufung der Klägerin durch den Prozessvergleich beendet worden sei und zur Begründung ua ausgeführt, dass der Prozessvergleich formell, aber auch materiell keine rechtlichen Mängel aufweise. Anfechtungsgründe nach den §§ 119, 123 BGB lägen nicht vor. Aus dem Protokoll sei ersichtlich, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin nach ausführlichem Hinweis des Vorsitzenden zu den Erfolgsaussichten der Berufung einen für die Klägerin sehr vorteilhaften Vergleich habe aushandeln können.
Die Klägerin beantragt, ihr für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde PKH unter Beiordnung eines Rechtsanwalts zu bewilligen.
II
Die Bewilligung von PKH unter Beiordnung eines Rechtsanwalts ist abzulehnen.
Nach § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Abs 1 Satz 1 ZPO kann einem Beteiligten für das Verfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Das ist hier nicht der Fall. Aus diesem Grund kommt auch die Beiordnung eines Rechtsanwalts nicht in Betracht (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO).
Das BSG darf gemäß § 160 Abs 2 SGG die Revision gegen eine Entscheidung des LSG nur dann zulassen, wenn
- die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1) oder
- das angefochtene Urteil von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht (Nr 2)
oder
- bestimmte Verfahrensmängel geltend gemacht werden (Nr 3).
Dagegen ist die bloße Behauptung der Unrichtigkeit einer Berufungsentscheidung kein Revisionszulassungsgrund.
Die Durchsicht der Akten und das Vorbringen der Klägerin in ihren beim BSG eingegangenen Schreiben vom 3.9., 9.9. und vom 15.12.2021 nebst Anlagen hat keinen Hinweis auf das Vorliegen eines der oben genannten Revisionszulassungsgründe ergeben.
1. Es ist nicht ersichtlich, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung haben könnte. Dies wäre nur dann der Fall, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist (vgl BSG vom 17.4.2012 - B 13 R 347/11 B - SozR 4-2600 § 72 Nr 5 RdNr 17 mwN; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs BVerfG vom 14.4.2010 - 1 BvR 2856/07 - SozR 4-1500 § 160a Nr 24 RdNr 5 ff mwN). Das Bedürfnis für die Klärung einer Rechtsfrage in einem Revisionsverfahren fehlt ua, wenn ihre Beantwortung nach der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung keinem vernünftigen Zweifel unterliegt, die Frage also "geklärt" ist (vgl BSG vom 1.4.2019 - B 1 KR 1/19 B - SozR 4-1200 § 56 Nr 7 RdNr 6 mwN).
Rechtsfragen, die in diesem Sinne grundsätzliche Bedeutung haben könnten, sind nicht erkennbar. Gegenstand des LSG-Beschlusses, den die Klägerin nach Bewilligung von PKH und Beiordnung eines Rechtsanwalts angreifen will, ist allein die Wirksamkeit des am 8.10.2019 zwischen der Klägerin, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten vom VdK, Landesverband e.V., und der beklagten KK geschlossenen Prozessvergleichs, den die Klägerin mit Schreiben vom 7.10.2020 angefochten hat.
Die Voraussetzungen, unter denen ein Prozessvergleich angefochten werden kann, sind höchstrichterlich geklärt. Ein Prozessvergleich hat eine Doppelnatur. Er ist einerseits ein - im Bereich der Sozialversicherung öffentlich-rechtlicher - Vertrag, welcher den Beteiligten bestimmte materiell-rechtliche Verpflichtungen auferlegt, andererseits eine Prozesshandlung, welche die Beendigung des Rechtsstreits bewirkt. Die den Prozess beendigende Wirkung des Prozessvergleichs entfällt nicht nur bei formellen Mängeln der Prozesshandlung, sondern auch dann, wenn ein materiell-rechtlich wirksamer Vertrag zwischen den Vergleichspartnern nicht zustande gekommen ist, also insbesondere wenn der Vergleich von vornherein nichtig gewesen oder durch Anfechtung nichtig geworden ist (stRspr; BSG vom 27.6.1958 - 4 RJ 7/57 - BSGE 7, 279, 280; BSG vom 26.4.1963 - 2 RU 228/59 - BSGE 19, 112, 115 = SozR Nr 6 zu § 101 SGG; BSG vom 1.4.1981 - 9 RV 43/80 - juris RdNr 23 und 27; BSG vom 7.7.2020 - B 12 KR 18/18 R - juris RdNr 12 mwN zur neueren Rspr).
2. Es ist überdies nicht ersichtlich, dass der Beschluss des LSG von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweichen könnte und darauf beruht (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG).
3. Schließlich ist nicht davon auszugehen, dass die Klägerin einen die Revisionszulassung rechtfertigenden Verfahrensfehler des LSG bezeichnen könnte (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Danach ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann.
a) Dass das LSG die Beendigung des Berufungsverfahrens entsprechend § 153 Abs 4 SGG durch Beschluss festgestellt hat, dürfte nicht zu beanstanden sein. Denn die Feststellung der Beendigung des Berufungsverfahrens kommt einer Zurückweisung der Berufung gleich (vgl zu § 130a VwGO BVerwG vom 12.11.1993 - 2 B 151/93 - NVwZ-RR 1994, 362; ferner Burkiczak in jurisPK-SGG, § 153 RdNr 66, Stand 7.12.2021; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 153 RdNr 14). Das LSG hat die Beteiligten hierzu auch vorher angehört (§ 153 Abs 4 Satz 2 SGG).
b) Das Ergehen eines Prozessurteils anstatt des gebotenen Sachurteils ist ein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG(stRspr; vgl nur BSG vom 27.10.1955 - 4 RJ 105/54 - BSGE 1, 283; BSG vom 19.5.2021 - B 14 AS 389/20 B - juris RdNr 6) .
Für einen solchen Verfahrensfehler fehlt es nach dem Vorbringen der Klägerin und nach summarischer Prüfung des Akteninhalts an Anhaltspunkten. Das LSG hat im Tenor des Beschlusses vom 28.7.2021 festgestellt, dass die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 1.3.2019 mit Prozessvergleich vom 8.10.2019 beendet wurde. Es hat damit nicht zur Sache entschieden, sondern einen einem Prozessurteil gleichstehenden Beschluss erlassen (vgl BSG vom 25.2.2020 - B 14 AS 120/19 B - juris RdNr 6; siehe ferner zur Klagerücknahmefiktion BSG vom 14.5.2020 - B 14 AS 73/19 B - juris RdNr 9 und BSG vom 5.7.2018 - B 8 SO 50/17 B - juris RdNr 4; BFH vom 11.7.2007 - XI R 1/07 - BFHE 218, 20 = juris RdNr 13 f). Der Klägerin dürfte es jedoch in einem Beschwerdeverfahren voraussichtlich schon nicht gelingen, einen die Unwirksamkeit des Prozessvergleichs bewirkenden Mangel substantiiert darzulegen.
Aufgrund der Doppelnatur eines gerichtlichen Vergleichs (siehe 1.) kann sich dessen materiellrechtliche Unwirksamkeit insbesondere daraus ergeben, dass er wirksam angefochten wurde. Sie kann sich aber auch aus prozessrechtlichen Mängeln ergeben. Ungeachtet der Frage, ob die Klägerin innerhalb der Anfechtungsfrist die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung erklärt hat (vgl § 124 BGB), ist nichts dafür ersichtlich, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin zur Abgabe der Willenserklärung durch arglistige Täuschung oder widerrechtlich durch Drohung bestimmt worden ist. Im Übrigen behauptet die Klägerin selbst nicht, dass ihr Prozessbevollmächtigter bei Abgabe der Willenserklärung sich in einem Irrtum im Sinne des § 119 BGB (Erklärungs- oder Inhaltsirrtum) befunden habe. Schließlich ist ausweislich des Protokolls der Verhandlung vom 8.10.2019 nichts dafür ersichtlich, dass prozessrechtliche Mängel der Wirksamkeit des Prozessvergleichs entgegenstehen. Dies behauptet die Klägerin auch nicht. Insbesondere ist der Prozessvergleich ordnungsgemäß protokolliert worden (§ 122 SGG iVm § 160 Abs 3 Nr 1, § 162 Abs 1 und § 163 Abs 1 Satz 1 ZPO) und damit formwirksam zustande gekommen.
Schlegel Bockholdt Estelmann
Fundstellen
Dokument-Index HI15225271 |