Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache. Maßnahmegesetz
Leitsatz (amtlich)
Ein Maßnahmegesetz kann in aller Regel keine grundsätzliche Rechtsfrage aufwerfen.
Stand: 25. Oktober 2002
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1, § 160a Abs. 2 S. 3; ASRG 1995 Art. 9
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerden der Klägerin und der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 18. Januar 2000 werden als unzulässig verworfen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die gegen die Nichtzulassung der Revision im angefochtenen Urteil des Landessozialgerichts (LSG) gerichteten, von der Klägerin auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung und des Verfahrensmangels und von der Beklagten auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung gestützten Beschwerden sind unzulässig. Die dazu gegebenen Begründungen entsprechen nicht der in § 160 Abs 2 und § 160a Abs 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) festgelegten Form. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erfordern diese Vorschriften, daß der Zulassungsgrund schlüssig dargetan wird (BSG SozR 1500 § 160a Nrn 34, 47 und 58; vgl hierzu auch Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 2. Aufl, 1997, IX, RdNrn 177 und 179 mwN). Diesen Anforderungen an eine Beschwerdebegründung haben die Beschwerdeführerinnen nicht hinreichend Rechnung getragen.
Soweit sich die Klägerin und die Beklagte auf eine grundsätzliche Bedeutung der Sache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) berufen, kann dies nicht zur Zulassung der Revision führen, weil sie die grundsätzliche Bedeutung in ihren Beschwerdebegründungen nicht, wie in § 160a Abs 2 Satz 3 SGG vorgeschrieben, hinreichend dargelegt haben. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ist gegeben, wenn zu erwarten ist, daß die Revisionsentscheidung die Rechtseinheit in ihrem Bestand erhalten oder die Weiterentwicklung des Rechts fördern wird. Es muß eine über den Einzelfall hinaus reichende (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nrn 11, 39; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 1; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21) Rechtsfrage aufgeworfen sein, welche bisher revisionsgerichtlich noch nicht – ausreichend – geklärt ist (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17 sowie ua Beschluß des Senats vom 11. Mai 1999 – B 2 U 3/99 B –), die also noch klärungsbedürftig ist. Demgemäß muß ein Beschwerdeführer aufzeigen, ob und inwieweit zu der aufgeworfenen Frage bereits Rechtsgrundsätze herausgearbeitet sind und in welchem Rahmen noch eine weitere Ausgestaltung, Erweiterung oder Änderung derselben durch das Revisionsgericht zur Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits erforderlich erscheint (vgl Krasney/Udsching, aaO, IX, RdNrn 65 und 66; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNrn 116 ff). Insbesondere ist in der Beschwerdebegründung darzulegen, daß der Rechtsstreit sich in seiner Bedeutung nicht in diesem Einzelfall erschöpft, sondern dazu dienen kann, die Rechtseinheit zu wahren oder die Entwicklung des Rechts zu fördern (BSG SozR 1300 § 13 Nr 1). Daran fehlt es hier.
Zwar haben die Beschwerdeführerinnen eine Reihe von Rechtsfragen formuliert, die anhand des Rechtsstreits zu entscheiden sein mögen. Indessen ist zu allen diesen Fragen die in § 160 Abs 2 Nr 1 SGG vorausgesetzte grundsätzliche, über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung nicht hinreichend dargelegt. Daß die Beantwortung der Rechtsfragen die Rechtseinheit in ihrem Bestand erhalten oder die Weiterentwicklung des Rechts fördern wird (vgl Kummer, aaO, RdNr 126 mwN), ist von den Beschwerdeführerinnen nicht dargelegt und auch nicht erkennbar. Alle geltend gemachten Fragen beziehen sich im Kern auf die Auslegung und Anwendung des Art 9 des Gesetzes zur Reform der agrarsozialen Sicherung vom 29. Juli 1994 ≪ASRG≫ (BGBl I 1890) und insbesondere auf dessen Abs 5 über die „Vermögensauseinandersetzung” zwischen den von Art 9 Abs 1 ASRG betroffenen drei Trägern der landwirtschaftlichen Unfallversicherung. Art 9 ASRG regelt ausschließlich die Änderungen der Zuständigkeiten der vom 1. Januar 1995 an aus der Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft Rheinhessen-Pfalz hervorgegangenen Klägerin und der Rheinischen landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft sowie der Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft Hessen-Nassau. Es handelt sich bei Art 9 ASRG um ein sog Maßnahmegesetz, dh um ein Gesetz zur Regelung eines konkreten Einzelfalles, das als Vollzugs-, Plan- oder Organisationsgesetz eine konkrete Maßnahme trifft (vgl Degenhart in Sachs, Grundgesetz, 1996, Art 70 RdNr 11), was nicht verfassungswidrig ist (vgl nur Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 5. Aufl, 2000, Art 19 RdNr 1 mwN auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts). In der Regelung des Einzelfalles – hier der Neugestaltung der Zuständigkeit zur Durchführung der landwirtschaftlichen Unfallversicherung im Lande Rheinland-Pfalz und deren Folgen – erschöpft sich jedoch der Inhalt des Gesetzes. Es enthält keine abstrakt-generellen Bestimmungen, die für andere Fälle von Zuständigkeitsänderungen landwirtschaftlicher oder anderer Unfallversicherungsträger anwendbar sein könnten.
Die von der Klägerin durch Vorlage verschiedener Unterlagen dokumentierten Bestrebungen der zukünftigen Neuordnung der landwirtschaftlichen Sozialversicherung in der Bundesrepublik Deutschland bedürfen, sofern sie sich nicht auf der Grundlage der §§ 118, 119 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) durchführen lassen, entweder eines dem Art 9 ASRG vergleichbaren Maßnahmegesetzes oder jedenfalls der Schaffung gesetzlicher Grundlagen, die die Neuordnung etwa durch Rechtsverordnung oder sonstige Einzelfallentscheidungen ermöglichen. Der Gesetzgeber ist insoweit aber frei und wäre auch durch die Entscheidung der von den Beschwerdeführerinnen gestellten Rechtsfragen nicht gebunden; denn eine solche Entscheidung beträfe lediglich die Auslegung des Art 9 ASRG, nicht aber die vom Gesetzgeber noch zu schaffenden Gesetze. Selbst wenn die Klägerin dargelegt hätte, daß der Bundesgesetzgeber dem Art 9 ASRG nachgebildete gesetzliche Bestimmungen zu erlassen beabsichtige, würde dies die Annahme einer über den Einzelfall hinausgehenden Bedeutung der Rechtssache nicht rechtfertigen.
Soweit die Klägerin verfassungsrechtliche Fragen angesprochen hat, hat sie keine im angestrebten Revisionsverfahren zu entscheidende abstrakte Rechtsfragen formuliert, sondern allein ihre Rechtsauffassung zum Verteilungsmaßstab bei der Vermögensaufteilung und zum Ausgleich der künftigen Versorgungsverbindlichkeiten dargestellt. Auch insoweit hat sie die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht dargelegt iS des § 160a Abs 2 Satz 2 SGG.
Soweit die Klägerin als Mangel des landessozialgerichtlichen Verfahrens eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs sowie Mängel der Entscheidungsgründe rügt, ist die Beschwerde ebenfalls nicht zulässig. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 (Anhörung eines bestimmten Arztes) und 128 Abs 1 Satz 1 SGG (freie richterliche Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
Eine Verletzung des § 128 Abs 2 SGG ist nicht hinreichend dargelegt. Diese Vorschrift konkretisiert den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 des Grundgesetzes, § 62 SGG). Sie soll verhindern, daß die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten. In diesem Rahmen besteht jedoch insbesondere gegenüber rechtskundig vertretenen Beteiligten weder eine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage, noch die Pflicht, bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage bereits die endgültige Beweiswürdigung darzulegen. Denn das Gericht kann und darf das Ergebnis der Entscheidung, die in seiner nachfolgenden Beratung erst gefunden werden soll, nicht vorwegnehmen. Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (BSG Beschlüsse vom 31. August 1993 – 2 BU 61/93 – HVBG-Info 1994, 209, 13. Oktober 1993 – 2 BU 79/93 – SozR 3-1500 § 153 Nr 1 und 17. Februar 1999 – B 2 U 141/98 B – HVBG-Info 1999, 3700).
Im übrigen hat die Klägerin selbst darlegt, daß sowohl die Frage der Erforderlichkeit einer gesetzlichen Grundlage für die Einbeziehung der Versorgungsrückstellungen in das Vermögen der Beklagten als auch die Frage der Ansatzfähigkeit der Ansprüche aus der Auftragsverwaltung Gegenstand kontroverser Stellungnahmen der Beteiligten vor der Entscheidung des LSG gewesen ist. Daher ist ihre Behauptung, das LSG habe insoweit überraschend entschieden, auch nach dem eigenen Vorbringen unschlüssig. Das gleiche gilt für die von der Klägerin behaupteten Mängel der Entscheidungsgründe des LSG. Sie legt insoweit selbst dar, daß das LSG – aus ihrer Sicht – unzutreffend entschieden habe und rügt damit die Fehlerhaftigkeit des Urteils. Dies kann, wie sie selbst ausgeführt hat, einen Verfahrensfehler iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG grundsätzlich nicht darstellen.
Die Beschwerden waren daher als unzulässig zu verwerfen (§ 169 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
NVwZ 2001, 473 |
SozR 3-1500 § 160a, Nr. 30 |
www.judicialis.de 2000 |