Verfahrensgang
SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 01.06.2020; Aktenzeichen S 11 KR 412/15) |
Hessisches LSG (Urteil vom 22.04.2020; Aktenzeichen L 8 KR 196/20) |
Tenor
Der Antrag der Klägerin, ihr für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 22. April 2021 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und einen Rechtsanwalt beizuordnen, wird abgelehnt.
Gründe
I
Die bei der beklagten Krankenkasse versicherte, 1968 geborene Klägerin ist mit ihrem Begehren auf Erstattung von Kosten eines privatärztlichen Heil- und Kostenplans (HKP) und einer privatärztlich durchgeführten Kieferabformung - jeweils ohne vorausgehende Antragstellung bei der Beklagten - sowie mit ihrem Begehren auf Versorgung mit einer kombinierten kieferchirurgischen und kieferorthopädischen Behandlung bei der Beklagten und den Vorinstanzen erfolglos geblieben. Das LSG hat zur Begründung ausgeführt, die kieferorthopädische Behandlung von Versicherten, die zu Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr vollendet hätten, sei grundsätzlich ausgeschlossen. Ausgenommen sei die kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlung schwerer Kieferanomalien. Die Voraussetzungen dafür seien in § 28 Abs 2 Satz 7 SGB V iVm § 29 Abs 4 Satz 1 SGB V und den Kieferorthopädie-Richtlinien (KFO-RL) des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen (jetzt des Gemeinsamen Bundesausschusses) geregelt. Weder die die Klägerin behandelnden Ärzte noch der Sachverständige H hätte einen danach erforderlichen Schweregrad bei der Klägerin festgestellt. Die Klägerin erfülle nur die Indikationsgruppe O2/K2 (entsprechend einem offenen Biss von bis zu 2 mm sowie Kopfbiss). Für eine Leistungspflicht der Beklagten müsste die Klägerin dagegen den Behandlungsgrad O5 erfüllen (offener Biss mit einem Abstand über 4 mm skelettal offen). Ein Naturalleistungsanspruch ergebe sich nach der neueren Rechtsprechung des BSG (Hinweis auf das Urteil vom 26.5.2020 - B 1 KR 9/18 R - BSGE 130, 200 = SozR 4-2500 § 13 Nr 53) auch nicht aus einer eventuellen Genehmigungsfiktion. Soweit die Klägerin aus §§ 116, 119 SGB X einen Anspruch gegen die Beklagte ableiten wolle, begründeten diese Vorschriften keine zusätzlichen sozialrechtlichen Ansprüche, sondern setzten voraus, dass der Sozialleistungsträger nach seinem Leistungsrecht die Leistungen zu erbringen habe. Eine Kostenerstattung für den HKP und die Kieferabformung sei schon deswegen ausgeschlossen, weil es sich um privatärztliche Leistungen gehandelt habe (Urteil vom 22.4.2021).
Die Klägerin begehrt, ihr für eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung eines Rechtsanwalts zu bewilligen.
II
Der Antrag der Klägerin auf Bewilligung von PKH und Beiordnung eines Rechtsanwalts ist abzulehnen. Nach § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 114, 121 ZPO kann einem bedürftigen Beteiligten für das Beschwerdeverfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt und ein Rechtsanwalt beigeordnet werden, wenn ua die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Daran fehlt es.
Die Klägerin kann aller Voraussicht nach mit ihrem Begehren auf Zulassung der Revision nicht durchdringen. Nach Durchsicht der Akten fehlen auch unter Würdigung ihres Vorbringens Anhaltspunkte dafür, dass sie einen der in § 160 Abs 2 Nr 1 bis 3 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe darlegen könnte.
1. Die Sache bietet keine Hinweise für eine über den Einzelfall der Klägerin hinausgehende grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Die 1968 geborene Klägerin dürfte schon nicht die Klärungsbedürftigkeit der Regelung des § 28 Abs 2 Satz 6 SGB V darlegen können, wonach nicht zur zahnärztlichen Behandlung die kieferorthopädische Behandlung von Versicherten gehört, die zu Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr vollendet haben. In der Rechtsprechung des erkennenden Senats ist zudem geklärt - worauf bereits das SG hingewiesen hat -, dass diese Leistungsbeschränkung die Verfassung nicht verletzt (vgl BSG vom 9.12.1997 - 1 RK 11/97 - BSGE 81, 245, 250 f = SozR 3-2500 § 28 Nr 3 S 11 ff).
Auch dürfte die Klägerin die Klärungsfähigkeit einer im Hinblick auf § 28 Abs 2 Satz 7 SGB V formulierten Rechtsfrage nicht darzulegen vermögen. § 28 Abs 2 Satz 7 SGB V bestimmt als Rückausnahme zur Leistungsbegrenzung des § 28 Abs 2 Satz 6 SGB V zugunsten volljähriger Versicherter: "Dies gilt nicht für Versicherte mit schweren Kieferanomalien, die ein Ausmaß haben, das kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen erfordert." Nach den Feststellungen des LSG liegt bei der Klägerin nach § 29 Abs 1 und Abs 4 SGB V iVm den KFO-RL und seinen drei Anlagen nur die kieferorthopädischen Indikationsgruppen O2 und K2 vor, die auch bei noch nicht volljährigen Versicherten einen Anspruch auf eine kieferorthopädische Behandlung ausschließen (vgl B 2. KFO-RL iVm Anlage 1 und 2). Es ist deshalb nicht davon auszugehen, dass die Klägerin in der Lage sein wird, bei ihr eine schwere Kieferanomalie aufzuzeigen, die sogar zwingend kieferchirurgische Behandlungsmaßnahmen erfordert. Es kann daher offenbleiben, ob die Regelungen in den KFO-RL, die die Ausnahmen iS des § 28 Abs 2 Satz 7 SGB V regeln, deshalb nicht ermächtigungskonform sind, weil der Gesetzgeber den Gemeinsamen Bundesausschuss - anders als bei § 28 Abs 2 Satz 9 SGB V für die implantologischen Leistungen - jedenfalls nicht ausdrücklich ermächtigt hat, in einer Richtlinie die sich aus § 28 Abs 2 Satz 7 SGB V ergebenden Ausnahmen zu konkretisieren.
2. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass das LSG entscheidungstragend bewusst von Rechtsprechung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abgewichen sein könnte (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 2 SGG).
3. Schließlich ist nicht davon auszugehen, dass die Klägerin einen die Revisionszulassung rechtfertigenden Verfahrensfehler des LSG bezeichnen könnte (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
Danach ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
Soweit die Klägerin eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht geltend macht und vorbringt, das LSG hätte ein unabhängiges Sachverständigengutachten einholen müssen, ist nicht zu erkennen, dass und warum das LSG ausgehend von seiner Rechtsauffassung zu weiterer Amtsermittlung gedrängt gewesen sein könnte.
Wer sich auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG stützt, muss ua einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag bezeichnen, die Rechtsauffassung des LSG wiedergeben, aufgrund der bestimmte Tatsachen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen und die von dem betreffenden Beweisantrag berührten Tatumstände darlegen, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten. Hierzu gehört nach ständiger Rechtsprechung des BSG die Darlegung, dass ein anwaltlich vertretener Beteiligter einen Beweisantrag bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt und noch zumindest hilfsweise aufrechterhalten hat. Zwar sind an Form, Inhalt, Formulierung und Präzisierung eines Beweisantrags verminderte Anforderungen zu stellen, wenn ein Beteiligter - wie hier die Klägerin - in der Berufungsinstanz durch keinen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten vertreten war. Auch ein unvertretener Beteiligter muss aber dem Gericht deutlich machen, dass er noch Aufklärungsbedarf sieht (vgl BSG vom 8.5.2018 - B 1 KR 3/18 B - juris RdNr 5 mwN). Hieran dürfte es fehlen.
Die Klägerin hat sich während des gesamten Berufungsverfahrens nur in ihrem Berufungsschriftsatz vom 8.7.2020 zur Sache geäußert. Sie hat lediglich in einem weiteren Schriftsatz auf Nachfrage des LSG sinngemäß klargestellt, dass sie mit der ursprünglich eingelegten "Beschwerde" den Gerichtsbescheid im Wege der Berufung angegriffen hat. Im Berufungsschriftsatz hat sie nur Rechtsausführungen dazu gemacht, dass die Beklagte nach §§ 116, 119 SGB X anstelle des Schädigers (Verkehrsunfallgegners) verpflichtet sei, den Gesundheitszustand wieder herzustellen, wie er vor dem Unfall bei ihr bestanden habe. Nachdem die Klägerin ohne vorherige Angabe von Gründen nicht zum Termin zur mündlichen Verhandlung erschienen war, musste das LSG bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung auch nicht davon ausgehen, dass die Klägerin die vom SG im Anschluss an die Stellungnahme des von der Beklagten beauftragten Zahnarztes H als zutreffend zugrunde gelegten kieferorthopädischen Indikationsgruppen O2 und K2 als sachlich unrichtig angreifen will.
Ein Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann, ist schließlich nicht darin zu erkennen, dass das LSG vor seinen beiden Beschlüssen zur Übertragung des Rechtsstreits nach § 153 Abs 5 SGG die Klägerin nicht jeweils angehört hat.
Soweit die Klägerin ihre fehlende Anhörung vor den Übertragungsbeschlüssen des LSG auf den Berichterstatter nach § 153 Abs 5 SGG vom 9.9.2020 und vom 21.10.2020 rügen könnte, ist nicht ersichtlich, dass in der unterbliebenen Anhörung ein Verfahrensmangel liegt, auf dem die Entscheidung des LSG beruhen kann. Denn eine solche Gehörsverletzung führt nicht zu einer fehlerhaften Besetzung der Richterbank und damit zu einem absoluten Revisionsgrund nach § 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO, weil die Rückübertragung durch Beschluss des Senats auf den Senat möglich ist, wenn sich nach der Übertragung auf den Berichterstatter wegen einer wesentlichen Änderung der Prozesslage erweist, dass die Sache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist oder grundsätzliche Bedeutung hat (vgl BSG vom 21.9.2017 - B 8 SO 3/16 R - SozR 4-1500 § 153 Nr 16 RdNr 16; BSG vom 24.1.2018 - B 14 AS 73/17 BH - juris RdNr 6; BSG vom 24.1.2018 - B 14 AS 73/17 BH - juris RdNr 6; BSG vom 18.6.2018 - B 9 V 1/18 B - juris RdNr 27; tendenziell aA - allerdings nicht entscheidungstragend - BSG vom 14.10.2020 - B 4 AS 188/20 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 19 RdNr 10 f). Der Klägerin war es nicht verwehrt, auch weiterhin nach Zustellung des ersten Übertragungsbeschlusses geltend zu machen, dass die Voraussetzungen für eine Übertragung nicht vorlägen. Sie konnte mit der Anhörung aber nur geltend machen, dass die Voraussetzungen des § 153 Abs 5 SGG nicht erfüllt seien. Dass vorliegend die Voraussetzungen für eine solche Rückübertragung vorgelegen haben könnten (vgl allgemein dazu auch BSG vom 6.12.2018 - B 8 SO 53/18 B - juris RdNr 5), ist nicht ersichtlich. Auch ist nicht ersichtlich, dass und warum jedenfalls nach Zustellung des zweiten Übertragungsbeschlusses im Anschluss an das Hinweisschreiben des LSG zur Frage des eingelegten Rechtsmittels die angefochtene Entscheidung auf einer fehlenden Anhörung beruhen könnte. Die Klägerin hatte zuvor hinreichend Gelegenheit gehabt, zur bereits erfolgten erstmaligen Übertragung auf den Berichterstatter Stellung zu nehmen, insbesondere im Zuge der Beantwortung des Schreibens des LSG zur fehlerhaften Bezeichnung des eingelegten Rechtsmittels.
Fundstellen
Dokument-Index HI14982598 |