Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Verwerfung der Berufung als unzulässig. Überprüfung der Vollmacht eines Rechtsanwalts von Amts wegen. Fehlen ernstlicher Zweifel an der Bevollmächtigung. Zurückverweisung
Orientierungssatz
1. Bei einer fehlenden Rüge durch den Prozessgegner darf das Berufungsgericht den Prozessbevollmächtigten zur Vorlage einer - ggf konkret auf das Berufungsverfahren bezogenen - Prozessvollmacht nur auffordern, wenn iS von § 73 Abs 6 S 5 SGG von Amts wegen ernstliche Zweifel an der Bevollmächtigung bestehen. Das bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls (vgl zuletzt BSG vom 11.11.2021 - B 14 AS 273/21 B = juris RdNr 10).
2. Ernstliche Zweifel bestehen, wenn in einer Gesamtwürdigung aller Umstände konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Person nicht oder nicht mehr bevollmächtigt ist. Solche Anhaltspunkte können sich aus dem Verhalten des Rechtsanwalts in früheren Verfahren ergeben; sie verlangen allerdings auch die Berücksichtigung der Umstände des konkreten Einzelfalls (vgl dazu nur BSG vom 12.5.2021 - B 4 AS 76/21 B = juris RdNr 6 mwN).
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 5, § 73 Abs. 6 Sätze 1, 4-5
Verfahrensgang
SG Bremen (Gerichtsbescheid vom 15.12.2020; Aktenzeichen S 44 AS 1760/19) |
LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 18.05.2021; Aktenzeichen L 13 AS 25/21) |
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 18. Mai 2021 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Im Streit sind Leistungen nach dem SGB II ab März 2019. Die Klägerin ist bulgarische Staatsangehörige. Sie stellte im März 2019 ua für sich selbst einen Antrag auf ergänzende Leistungen nach dem SGB II. Den Antrag übermittelte der im vorliegenden Beschwerdeverfahren prozessbevollmächtigte Rechtsanwalt. Der Beklagte lehnte den Antrag für die Klägerin ab, weil ein Leistungsanspruch nach dem SGB II aufgrund vorrangig in Anspruch zu nehmender Leistungen in Form von Kinderzuschlag nicht bestehe (Bescheid vom 16.5.2019). Gegen den Bescheid legte der Prozessbevollmächtigte ua für die Klägerin Widerspruch ein, weil unklar sei, ob die vom Beklagten prognostizierten Leistungen tatsächlich bewilligt werden würden. Mit Schreiben vom 20.6.2019 forderte der Beklagte den Prozessbevollmächtigten auf, eine Vertretungsvollmacht bis zum 11.7.2019 vorzulegen. Nach Fristablauf verwarf er den Widerspruch als unzulässig (Widerspruchsbescheid vom 19.8.2019).
Am 19.9.2019 hat der Prozessbevollmächtigte Klage ua im Namen der Klägerin erhoben. Er hat im Hinblick auf seine Bevollmächtigung auf eine in den Verwaltungsakten befindliche allgemeine Vollmacht verwiesen. Nachdem der Beklagte die Rechtmäßigkeit der Verwerfung des Widerspruchs aufgrund nicht vorgelegter Vollmacht geltend gemacht hat, hat das SG den Prozessbevollmächtigten zur Vorlage einer Vollmacht aufgefordert. Daraufhin hat der Prozessbevollmächtigte den Ausdruck einer - nach den Ausführungen des LSG ihrem Schriftbild nach eingescannten - Datei übersandt, die inhaltlich eine von der Klägerin gezeichnete Vollmacht vom 12.3.2019 aufwies. Nach der Vollmacht war der Prozessbevollmächtigte in allen Verfahren gegen den Beklagten bevollmächtigt, die Klägerin zu vertreten.
Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 15.12.2020). Der Widerspruch sei zu Recht als unzulässig verworfen worden. Dagegen hat die Klägerin über ihren Prozessbevollmächtigten Berufung eingelegt. Mit Verfügung vom 1.3.2021 hat der beim LSG erkennende Senat unter Darlegung seiner Zweifel am Vorliegen einer wirksamen Bevollmächtigung mit Fristsetzung bis zum 24.3.2021 dem Prozessbevollmächtigten aufgegeben, eine aktuelle Prozessvollmacht der Klägerin für "das vorliegende Verfahren" vorzulegen. Er hat darauf hingewiesen, dass die im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegte Vollmacht nicht der Schriftform iS des § 73 Abs 6 Satz 1 SGG entspreche. Mit Urteil vom 18.5.2021 hat das LSG die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Die angeforderte Vollmacht sei nicht innerhalb der gesetzten Frist vorgelegt worden. Es fehle daher bereits an einer wirksam eingelegten Berufung. Wecke ein Rechtsanwalt als Prozessbevollmächtigter selbst ernsthafte Zweifel an der Wirksamkeit seiner eigenen Bevollmächtigung, dürfe das Gericht dies auch von Amts wegen prüfen.
Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Klägerin die Verletzung von § 73 Abs 6 SGG.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache begründet (§ 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Der von der Klägerin geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) eines Verstoßes gegen § 73 Abs 6 Satz 5 SGG liegt vor. Unter diesem Gesichtspunkt hat das LSG auch zu Unrecht durch Prozessurteil statt Sachurteil (vgl zu diesem Verfahrensmangel BSG vom 18.4.2016 - B 14 AS 150/15 BH - SozR 4-1500 § 144 Nr 9 RdNr 5 mwN) entschieden.
Der Zulässigkeit der Beschwerde der Klägerin steht die - unaufgeforderte - Nichtvorlage einer gesonderten Vollmacht für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren (vgl zur Generalvollmacht BSG vom 20.1.2016 - B 14 AS 180/15 B - SozR 4-1500 § 73 Nr 10 RdNr 6; BSG vom 20.1.2016 - B 14 AS 188/15 B - juris RdNr 7; BSG vom 17.3.2016 - B 4 AS 684/15 B - juris RdNr 6) nicht entgegen. Da von der Beantwortung der Frage, ob die Vollmacht vom 12.3.2019 als Nachweis für die Bevollmächtigung genügt, zugleich die Zulässigkeit der Beschwerde abhängt, ist bis zum Abschluss des Beschwerdeverfahrens eine wirksame Bevollmächtigung zu unterstellen (vgl zuletzt BSG vom 11.11.2021 - B 14 AS 273/21 B - juris RdNr 8).
Anlass dafür, die Vorlage einer weiteren, auf das Berufungs- oder das vorliegende Beschwerdeverfahren bezogenen Vollmacht zu verlangen und die zumindest im Verfahren vor dem SG vorgelegte Generalvollmacht insoweit ausnahmsweise nicht als beachtlich anzusehen, besteht nicht.
Nach § 73 Abs 6 Satz 1 SGG ist die Vollmacht schriftlich zu den Gerichtsakten einzureichen. Der Mangel der Vollmacht kann in jeder Lage des Verfahrens geltend gemacht werden (§ 73 Abs 6 Satz 4 SGG). Das Gericht hat den Mangel der Vollmacht von Amts wegen zu berücksichtigen, wenn nicht als Bevollmächtigter ein Rechtsanwalt auftritt (§ 73 Abs 6 Satz 5 SGG). Daraus folgt, dass bei einer fehlenden Rüge durch den Prozessgegner das Berufungsgericht den Prozessbevollmächtigten zur Vorlage einer - ggf konkret auf das Berufungsverfahren bezogenen - Prozessvollmacht nur auffordern darf, wenn iS von § 73 Abs 6 Satz 5 SGG von Amts wegen ernstliche Zweifel an der Bevollmächtigung bestehen. Das bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls (vgl zuletzt BSG vom 11.11.2021 - B 14 AS 273/21 B - juris RdNr 10; Hauck, juris-PR-SozR 18/2008, Anm 4). Grundsätzlich kommt es darauf an, dass das Verhalten des anwaltlichen Bevollmächtigten selbst ernsthafte Zweifel an der Wirksamkeit seiner Bevollmächtigung aufkommen lässt (BSG vom 17.3.2016 - B 4 AS 684/15 B - juris RdNr 6 unter Hinweis auf BGH vom 5.4.2001 - IX ZR 309/00 - NJW 2001, 2095, 2096). Ernstliche Zweifel bestehen, wenn in einer Gesamtwürdigung aller Umstände konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Person nicht oder nicht mehr bevollmächtigt ist. Solche Anhaltspunkte können sich aus dem Verhalten des Rechtsanwalts in früheren Verfahren ergeben; sie verlangen allerdings auch die Berücksichtigung der Umstände des konkreten Einzelfalls (vgl dazu nur BSG vom 12.5.2021 - B 4 AS 76/21 B - juris RdNr 6 mwN). Allein durch die Nichtvorlage einer gesondert angeforderten Vollmacht nach Aufforderung wird hingegen das dem Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege ausweislich des § 73 Abs 6 Satz 5 SGG beigemessene besondere Vertrauen nicht erschüttert (zum wortgleichen § 67 Abs 6 Satz 4 VwGOBVerfG vom 18.2.2022 - 1 BvR 305/21 - juris RdNr 16).
Bezogen auf das vorliegende Verfahren fehlt es an Anhaltspunkten, die ernstliche Zweifel an der Bevollmächtigung rechtfertigen.
So hat die Klägerin die Vollmacht im zeitlichen Zusammenhang mit der Beantragung der Leistungen im März 2019 ausgestellt. Nach den Feststellungen des LSG hat der Prozessbevollmächtigte den Antrag für die Klägerin eingereicht; im Verwaltungsverfahren wurden offenbar Unterlagen und Erklärungen für die Klägerin vorgelegt, die den Beklagten veranlasst haben, einen Leistungsanspruch nach dem SGB II und einen möglichen solchen auf Kinderzuschlag nach dem BKGG der Sache nach zu prüfen und eine Entscheidung zu treffen. Auf eine anhaltende Tätigkeit für die Klägerin deutet die Mitteilung des Prozessbevollmächtigten im Berufungsverfahren, der Antrag auf Kinderzuschlag sei durch die Familienkasse mit Bescheid vom 21.10.2019 abgelehnt worden.
Auf die Frage der Formwirksamkeit der beim SG eingereichten Erklärung (vgl allgemein zum Schriftformerfordernis im sozialgerichtlichen Verfahren zuletzt BSG vom 10.6.2021 - B 9 BL 1/20 R - vorgesehen für BSGE und SozR 4-5926 § 1 Nr 2, RdNr 15 ff) kommt es nicht an, nachdem das SG und LSG keine ernsthaften Zweifel an der Bevollmächtigung des Prozessbevollmächtigten haben durften. Im Klageverfahren hat der Beklagte nicht den Mangel der Vollmacht im gerichtlichen Verfahren geltend gemacht, sondern sich auf deren fehlende Vorlage im Verwaltungsverfahren bezogen.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.
S. Knickrehm Siefert Neumann
Fundstellen
Dokument-Index HI15274472 |