Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Zurückverweisung. Verfahrensfehler. Verletzung des rechtlichen Gehörs in Verbindung mit dem Grundsatz der mündlichen Verhandlung. Entfernung des Verfahrensbeteiligten aus dem Sitzungszimmer aufgrund alleiniger Entscheidung des Berichterstatters. mündliche Verhandlung und Urteilsverkündung ohne wesentliche Teilnahme des Klägers
Orientierungssatz
1. Zur Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß § 62 SGG und Art 103 Abs 1 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der Mündlichkeit nach § 124 Abs 1 SGG, wenn das LSG die Klägerin mittels einer rechtswidrig allein durch den Berichterstatter getroffenen Entscheidung aus dem Sitzungssaal verwiesen und das angegriffene Urteil aufgrund einer mündlichen Verhandlung verkündet hat, an der die ohne Vertreter erschienene Klägerin in wesentlichen Teilen nicht teilnehmen konnte.
2. Wegen der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens reicht es aus, dass eine andere Entscheidung nicht auszuschließen ist, wenn der Betroffene Gelegenheit gehabt hätte, in der mündlichen Verhandlung vorzutragen (vgl BSG vom 9.4.2019 - B 1 KR 81/18 B = juris RdNr 7 mwN). Dies gilt in besonderem Maße, wenn eine mündliche Verhandlung in der ersten Instanz nicht stattgefunden hat.
Normenkette
SGG § 61 Abs. 1, §§ 62, 124 Abs. 1, § 153 Abs. 5, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 5; GVG § 177 S. 2; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2, Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 7. Juni 2021 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Hamburg zurückverwiesen.
Gründe
I. In dem der Nichtzulassungsbeschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit geht das LSG davon aus, dass die Beteiligten um Beitragsforderungen nebst Säumniszuschlägen und Mahngebühren streiten, welche die Beklagte für die Zeiträume vom 1.5.2010 bis zum 31.7.2011, vom 1.12.2011 bis zum 10.5.2012 und vom 25.8.2012 bis zum 31.1.2013 von der Klägerin fordert.
Das SG Hamburg hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 23.8.2018). In dem nach § 153 Abs 5 SGG dem Berichterstatter übertragenen Berufungsverfahren hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung erklärt, ausschließlich die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG wegen Verfahrensfehlern zu begehren. In einem weiteren Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Berichterstatter sie vor einer Antragstellung des Saales verwiesen, weil sie ihm mehrfach ins Wort gefallen sei.
Mit dem angegriffenen Urteil hat das LSG Hamburg die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Es hat das Begehren der Klägerin unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes darin gesehen, dass sich die Klägerin gegen die Zahlung der für die streitgegenständlichen Zeiträume festgestellten rückständigen Beiträge nebst Säumniszuschlägen und Mahngebühren wende. Dem entspreche der Antrag, den Gerichtsbescheid des SG und die im einzelnen aufgeführten Bescheide der Beklagten aufzuheben. Die so gefasste Berufung sei unbegründet, weil die Rückstände zutreffend festgestellt und ein über den bereits erfolgten Teilerlass hinausgehender weiterer Erlass zu Recht abgelehnt worden sei. Weil über die Berufung entschieden werden könne, sei die begehrte Zurückverweisung nicht sachgerecht (Urteil vom 7.6.2021).
Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat die Klägerin ua die Verletzung rechtlichen Gehörs gerügt, weil sie unrechtmäßig von der mündlichen Verhandlung ausgeschlossen worden sei.
II. 1. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig. Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der gerügte Verfahrensmangel einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält hinreichende Darlegungen zum Verfahrensablauf anhand des Sitzungsprotokolls sowie zur Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch einen unrechtmäßigen Ausschluss der Klägerin aus der mündlichen Verhandlung. Weitergehender Ausführungen zum Beruhen der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler bedarf es nicht, wenn - wie hier - ein Beschwerdeführer behauptet, um sein Recht auf Teilnahme an der mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein (vgl BSG Beschluss vom 10.12.2019 - B 12 KR 69/19 B - juris RdNr 8 mwN). Ob das Mandatsverhältnis zwischen der Klägerin und ihrem Prozessbevollmächtigten nach der zulässig durch ihn erhobenen Beschwerde beendet wurde, ist unerheblich.
2. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist auch begründet, weil der insoweit von der Klägerin gerügte Verfahrensfehler vorliegt und das Urteil des LSG darauf beruhen kann.
a) Die Klägerin beanstandet zu Recht, dass die Entscheidung über den Ausschluss eines Beteiligten von der mündlichen Verhandlung nur durch das Gericht, nicht durch den Berichterstatter ergehen kann. Durch die Übertragung der Berufung auf den Berichterstatter nach § 153 Abs 5 SGG wird dieser zwar zum Vorsitzenden (vgl Keller in Meyer/Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 153 RdNr 25d mwN); nach § 61 Abs 1 SGG iVm § 177 Satz 2 GVG ist allerdings der Vorsitzende nur gegenüber Personen, die bei der Verhandlung nicht beteiligt sind, befugt, zur Aufrechterhaltung der Ordnung über Maßnahmen wie die Entfernung aus dem Sitzungszimmer zu entscheiden. Gegenüber den Beteiligten selbst entscheidet hingegen das Gericht.
Nach der Übertragung eines Berufungsverfahrens auf den Berichterstatter entscheidet dieser gemäß § 153 Abs 5 iVm § 33 Abs 1 Satz 1 SGG zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern. Über die Entfernung der Klägerin aus dem Sitzungszimmer hätte daher der Spruchkörper unter Mitwirkung des vorsitzenden Berichterstatters und zwei ehrenamtlicher Richter entscheiden müssen. Dem hatte eine entsprechende Beratung und Abstimmung vorauszugehen (§ 61 Abs 2 SGG iVm §§ 192 ff GVG; vgl BVerfG Kammerbeschluss vom 2.6.2010 - 1 BvR 448/06 - juris RdNr 18 f mwN). Die Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter ist ein tragender Grundsatz des sozialgerichtlichen Verfahrens. Die Frage, ob der Vorsitzende allein oder zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet, berührt die Bestimmung des gesetzlichen Richters iS von Art 101 Abs 1 Satz 2 GG in der Person der im Einzelfall nach den allgemeinen Gesetzen zur Mitwirkung berufenen Richter unter Einschluss der ehrenamtlichen Richter (BVerfG aaO RdNr 17 mwN).
b) Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass es die Klägerin mittels einer rechtswidrig allein durch den Berichterstatter getroffenen Entscheidung aus dem Sitzungssaal verwiesen und das angegriffene Urteil aufgrund einer mündlicher Verhandlung verkündet hat, an der die ohne Vertreter erschienene Klägerin in wesentlichen Teilen nicht teilnehmen konnte. Der Mündlichkeitsgrundsatz gemäß § 124 Abs 1 SGG räumt den Beteiligten das Recht ein, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Bei einem Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung muss den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Äußerung und Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben oder nicht, Gelegenheit gegeben werden, sich zur Sach- und Rechtslage in der mündlichen Verhandlung selbst zu äußern (vgl BSG Beschluss vom 10.12.2019 - B 12 KR 69/19 B - juris RdNr 10 mwN). Wird dieses Äußerungsrecht in rechtswidriger Weise verkürzt, leidet das Verfahren wegen der Versagung rechtlichen Gehörs an einem wesentlichen Mangel.
c) Die angefochtene Entscheidung kann auch auf diesem Verfahrensmangel beruhen. Wegen der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens reicht es aus, dass - wie hier - eine andere Entscheidung nicht auszuschließen ist, wenn der Betroffene Gelegenheit gehabt hätte, in der mündlichen Verhandlung vorzutragen (BSG Beschluss vom 9.4.2019 - B 1 KR 81/18 B - juris RdNr 7 mwN). Dies gilt in besonderem Maße, wenn - wie hier - eine mündliche Verhandlung in der ersten Instanz nicht stattgefunden hat (vgl Art 6 Abs 1 EMRK).
3. Der Senat macht von seiner Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 160a Abs 5 SGG). Der Zurückverweisung steht nicht der - auch in einem Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der Revision grundsätzlich anwendbare (vgl hierzu BSG Beschluss vom 24.11.2020 - B 12 KR 37/20 B - juris RdNr 16 mwN) - Rechtsgedanke des § 170 Abs 1 Satz 2 SGG entgegen, nach dem eine Revision bei einer Gesetzesverletzung auch dann zurückzuweisen ist, wenn sich die Entscheidung aus anderen Gründen als richtig darstellt. Sogar bei Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes kann eine Entscheidung des BSG in der Sache ausnahmsweise zulässig sein, wenn die Klage unter keinem denkbaren Gesichtspunkt Erfolg haben kann (so für den absoluten Revisionsgrund der verspäteten Urteilsabsetzung BSG Urteil vom 20.11.2003 - B 13 RJ 41/03 R - BSGE 91, 283 = SozR 4-1500 § 120 Nr 1 RdNr, 11). Eine abschließende Prüfung, ob nach Zurückverweisung keine andere Entscheidung in der Sache ergehen kann, ist dem Senat hier aber nicht möglich. Hierfür fehlt es bereits an einem hinreichend klar erkennbaren Begehren der Klägerin.
4. Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.
5. Damit hat sich der Antrag der Klägerin vom 13.7.2022, ihr einen zusätzlichen Anwalt beizuordnen, erledigt.
Heinz Padé U. Waßer
Fundstellen
Dokument-Index HI15459368 |