Entscheidungsstichwort (Thema)
Revisionsgrund. grundsätzliche Bedeutung. Verfahrensfehler. Pflicht zur Amtsermittlung. Beweisantrag. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Leitsatz (redaktionell)
1. Macht ein Beschwerdeführer den Revisionsgrund der grundsätzlichen Bedeutung geltend, muss er eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (= Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog. Breitenwirkung) darlegen, letzteres jedoch nur, soweit sich nicht bereits aus der Darlegung der Klärungsbedürftigkeit die behauptete Breitenwirkung ergibt.
2. Beruft sich ein Beschwerdeführer zur Begründung eines Verfahrensfehlers darauf, das Landessozialgericht habe gegen die Pflicht zur Amtsermittlung verstoßen, so ist dies nur dann beachtlich, wenn er zugleich geltend macht, das Gericht sei einem Beweisantrag nicht gefolgt.
Normenkette
SGG §§ 67, 106, 160 Abs. 2 Nrn. 1, 3, § 160a Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 30. August 2001 – Az L 11 AL 202/01 – wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Klägerin wendet sich gegen ein Urteil des Landessozialgerichts (LSG) vom 30. August 2001, mit dem dieses die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 8. März 2001 verworfen hat, weil die Klägerin die Berufung nicht innerhalb eines Monats nach Zustellung des SG-Urteils eingelegt habe und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumens dieser Frist nicht gewährt werden könne.
Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin eine grundsätzliche Bedeutung der Sache geltend. Insoweit trägt sie vor, sie sei davon ausgegangen, die Berufungsfrist laufe nicht schon ab dem Zeitpunkt der Zustellung an ihren Prozessbevollmächtigten, sondern erst ab dem Zeitpunkt der Zustellung an sie. Zu Unrecht habe das LSG hierzu ausgeführt, ein unverschuldeter Rechtsirrtum über den Beginn der Berufungsfrist habe nicht vorgelegen, weil sie (die Klägerin) nicht einfach auf ihre Meinung habe vertrauen dürfen, sondern sich hätte sachkundig beraten lassen müssen. Die Rechtsmittelbelehrung des SG-Urteils weise nur darauf hin, dass die Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils eingelegt werden müsse. Diese Rechtsmittelbelehrung könne demnach auch so verstanden werden, dass es für den Beginn der Rechtsmittelfrist ausschließlich auf die Zustellung an die Partei ankomme. Dies gelte insbesondere, wenn die Partei in dem Rechtsmittelverfahren nicht mehr anwaltlich vertreten sei. Die Entscheidung des LSG beruhe auf der Rechtsfrage, ob in den Fällen, in denen eine Zustellung erstinstanzlich an den Prozessbevollmächtigten erfolgt sei, wodurch es zu einer zeitlichen Verzögerung der Kenntnisnahme des Urteils durch die Partei komme, in der Berufungsinstanz jedoch eine anwaltliche Vertretung nicht mehr vorliege, ein die Wiedereinsetzung rechtfertigender unverschuldeter Rechtsirrtum vorliege. Diese Rechtsfrage sei aufklärungsbedürftig, weil sie bisher noch nicht höchstrichterlich entschieden sei. Sie habe eine über den Einzelfall hinausgehende grundsätzliche Bedeutung, weil sie einen größeren Personenkreis betreffe. Die Klägerin rügt im Übrigen eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) und des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG). Insoweit wirft sie dem LSG vor, in seiner Entscheidung ausschließlich auf die Irrtumsproblematik hinsichtlich der Zustellung eingegangen zu sein, während sie in ihrem Wiedereinsetzungsantrag eine Reihe weiterer Umstände angeführt habe, die zu einer Versäumung der Berufungsfrist geführt hätten. Das LSG hätte damit nicht ohne weitere Sachaufklärung entscheiden dürfen bzw sie (die Klägerin) darauf hinweisen müssen, dass es den vorgetragenen Rechtsirrtum nicht als ausreichenden Grund ansehe. Wäre das LSG seiner Hinweispflicht nachgekommen, hätte sie (die Klägerin) möglicherweise die anderen Gründe substantiieren und glaubhaft machen können.
Entscheidungsgründe
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) und des Verfahrensfehlers, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), nicht in der erforderlichen Weise dargelegt bzw bezeichnet sind (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Gegenstand einer Nichtzulassungsbeschwerde ist andererseits nicht, ob die zweitinstanzliche Entscheidung richtig ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).
Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die – über den Einzelfall hinaus – aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung – ggf sogar des Schrifttums – angeben, welche Rechtsfragen sich stellen, dass diese Rechtsfragen noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt (BSG SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nr 7, 11, 13, 31, 39, 59 und 65). Es müssen mit anderen Worten Rechtsfragen formuliert und deren abstrakte Klärungsbedürftigkeit und konkrete Klärungsfähigkeit (= Entscheidungserheblichkeit) sowie deren über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung (Breitenwirkung) dargelegt werden, soweit sich diese nicht bereits aus der Darlegung der Klärungsbedürftigkeit ergibt. Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung der Klägerin nicht.
Es fehlt bereits an der Formulierung einer abstrakten Rechtsfrage. Die Formulierungen der Klägerin in der Beschwerdebegründung laufen im Ergebnis vielmehr lediglich auf eine Kritik an der Richtigkeit der LSG-Entscheidung hinaus. Im Übrigen hat sich die Klägerin nicht einmal ansatzweise mit der bestehenden Rechtsprechung zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und der Frage eines unverschuldeten Rechtsirrtums auseinander gesetzt.
Soweit die Klägerin als Verfahrensfehler einen Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht rügt, entspricht der Vortrag schon deshalb nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG die Geltendmachung dieses Verfahrensmangels voraussetzt, dass das LSG einem entsprechenden Beweisantrag nicht gefolgt ist. Gerade dies trägt die Klägerin jedoch nicht vor. Vielmehr wirft sie dem LSG vor, sie nicht auf eine mögliche weitere Substantiierung bzw auf die Möglichkeit eines Beweisangebots hingewiesen zu haben. Ist aber ein Beweisantrag nicht gestellt, so kann nicht über den Umweg des § 106 SGG ein nicht gestellter Beweisantrag zur Zulassung der Revision führen (BSG SozR 1500 § 160 Nr 13). Das Gleiche muss gelten, wenn – wie vorliegend – die Verletzung der Amtsermittlungspflicht mit einem Verstoß gegen die richterliche Hinweispflicht begründet wird (BSG, Beschluss vom 18. November 1998 – B 12 RA 6/98 B, unveröffentlicht). Im Übrigen fehlt es ohnedies, soweit es den Vorwurf der Verletzung der Amtsermittlungspflicht und des rechtlichen Gehörs betrifft, an einer substantiierten Darlegung, wieso sich das LSG zu richterlichen Hinweisen hätte gedrängt fühlen müssen und dass die Entscheidung des LSG auf dem behaupteten Verfahrensmangel beruhen kann. Hierzu hätte die Klägerin vortragen müssen, welche weiteren Gründe sie dem LSG für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumens der Berufungsfrist genannt hat und was sie im Einzelnen bei entsprechendem Hinweis zusätzlich vorgetragen hätte. Gerade zu letzterer Voraussetzung formuliert die Klägerin selbst nur, sie hätte möglicherweise andere Gründe substantiieren und glaubhaft machen können.
Selbst wenn man in dem Vortrag der Klägerin, ohne dass dies ausdrücklich gesagt ist, außerdem die Rüge sehen würde, das LSG habe zu Unrecht ein Prozessurteil statt eines Sachurteils erlassen, genügt die Beschwerdebegründung nicht den gesetzlichen Anforderungen. Denn die Klägerin hätte hierzu im Einzelnen darlegen müssen, wieso die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 SGG vorgelegen haben. Dazu genügt es nicht, allein auf den angeblichen unverschuldeten Irrtum über die Zustellungsproblematik zu verweisen. Vielmehr wäre eine substantiierte Darlegung erforderlich, dass alle Voraussetzungen des § 67 SGG erfüllt waren, insbesondere die Antragsfrist für die Wiedereinsetzung eingehalten war (§ 67 Abs 2 Satz 1 SGG).
Entspricht mithin die Begründung der Beschwerde nicht den gesetzlichen Anforderungen, muss die Beschwerde in entsprechender Anwendung des § 169 SGG – ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter – als unzulässig verworfen werden (BSG SozR 1500 § 160a Nr 1 und 5).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen