Entscheidungsstichwort (Thema)
Revisionszulässigkeit. Bezugnahme auf die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde. Querschnittslähmung mit Blasenentleerungsstörung. Benutzung von Windelhosen. Verstoß gegen Menschenwürde
Orientierungssatz
1. Die Bezugnahme auf die Nichtzulassungsbeschwerde reicht für die Revisionsbegründung aus, wenn sich die Beschwerde mit den materiell-rechtlichen Fragen auseinandergesetzt hat, sich diese Fragen auch im Revisionsverfahren stellen und eine erneute eigenständige Begründung im wesentlichen auf eine Wiederholung des bereits Vorgetragenen hinauslaufen würde (vgl BSG vom 24.8.1976 - 8 RU 152/75 = SozR 1500 § 164 Nr 3; BSG vom 27.8.1976 - 5 RJ 70/76 = SozR 1500 § 164 Nr 4; BSG vom 22.4.1986 - 10 RKg 22/85 = SozR 1500 § 164 Nr 27.
2. Die als Folge der Querschnittslähmung vorliegende Blasenentleerungsstörung, die zu unkontrolliertem Harnabgang führt, rechtfertigt nicht die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "RF".
3. Das Benutzen von Einmalwindeln bzw Windelhosen verletzt nicht die Menschenwürde iS von Art 1 GG.
Normenkette
SchwbG § 4 Abs. 1, 4; RdFunkGebBefrV ST § 1 Abs. 1 Nr. 3; SGG § 164 Abs. 2 S. 3; GG Art. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger begehrt von dem beklagten Land die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen einer Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (Merkzeichen RF). Er leidet unter einer hohen Querschnittslähmung und ist auf den Rollstuhl angewiesen. Als Folge der Querschnittslähmung liegt bei ihm ua eine Blasenentleerungsstörung vor, die zu unkontrolliertem Urinabgang führt. Auf den im Mai 1992 gestellten Antrag des Klägers stellte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 4. Mai 1993 den Grad der Behinderung (GdB) mit 100 und die Voraussetzungen für die Merkzeichen G, aG, H und B fest. Die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen RF lehnte es ab. Der dagegen eingelegte Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 23. September 1993). Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, die gesundheitlichen Voraussetzungen für "RF" festzustellen (Urteil vom 10. Februar 1994). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 29. Juni 1994). Es hat anders als das SG nicht für erheblich angesehen, daß der Kläger von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen weitgehend ausgeschlossen sei, weil er lediglich zwei bis drei Stunden in seinem Rollstuhl ununterbrochen sitzend verbringen und in dieser Zeit wegen seines abgelegenen Wohnortes nur wenige Veranstaltungen besuchen könne. Es hat aber gemeint, der Kläger könne wegen seiner Harninkontinenz nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen, weil er alsbald nach bemerktem Einnässen eine Toilette aufsuchen müsse und dadurch häufig andere Besucher störe, einer Begleitperson zur Last falle und letztlich auch den eigenen Genuß an der Veranstaltung einschränke. Die Möglichkeit der Benutzung von Einmalwindeln sei dem Kläger im Hinblick auf die Gefahr von Entzündungen und die allgemeine Menschenwürde nicht zuzumuten.
Dagegen richtet sich die vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene Revision des Beklagten. Er rügt eine Verletzung des § 4 Abs 4 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) iVm § 1 Abs 1 Nr 3 der Verordnung über die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 28. April 1992 (GVBl LSA Nr 16/1992, S 308). Das LSG habe zu Unrecht und unter Verstoß gegen Beweisgrundsätze die Benutzung von Einmalwindeln wegen Geschwürgefahr als unzumutbar angesehen.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist zulässig, insbesondere in ausreichender Form begründet worden, obwohl der Beklagte weitgehend auf die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde Bezug genommen hat. Dies ist unschädlich, weil sich der Beklagte bereits dort mit den materiell-rechtlichen Fragen auseinandergesetzt hat, sich diese Fragen auch im Revisionsverfahren stellen und eine erneute eigenständige Begründung im wesentlichen auf eine Wiederholung des bereits Vorgetragenen hinauslaufen würde. Unter solchen Umständen darf sich der Revisionskläger mit einer Bezugnahme begnügen (BSG SozR 1500 § 164 Nrn 3, 4, 27).
Die Revision des Beklagten ist auch begründet. Die Vorinstanzen haben zu Unrecht die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens RF bejaht.
Nach § 4 Abs 1 SchwbG stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag des Behinderten das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, treffen die genannten Behörden ebenfalls die erforderlichen Feststellungen (§ 4 Abs 4 SchwbG). Diese Vorschriften gelten nach Errichtung der Versorgungsverwaltung uneingeschränkt auch im Gebiet der ehemaligen DDR. Zu den Nachteilsausgleichen gehört gemäß dem mit dem Recht der anderen Bundesländer übereinstimmenden und deshalb auch vom Revisionsgericht auszulegenden § 1 Abs 1 Nr 3 der Landesverordnung von Sachsen-Anhalt über die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 28. April 1992 (GVBl LSA 308) - der seine Ermächtigungsgrundlage in Art 4 § 6 Abs 1 Nr 1 des Staatsvertrags über den Rundfunk im vereinten Deutschland vom 21. April 1991 iVm Art 1 Abs 1 des Zustimmungsgesetzes vom 12. Dezember 1991 (GVBl LSA 478) hat - die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht, wenn der GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und der Behinderte wegen seines Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen kann. Die Bescheide der Versorgungsverwaltung, daß der Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen nicht erfüllt, sind rechtlich nicht zu beanstanden. Der Kläger hat zwar eine Behinderung mit einem GdB von mehr als 80; er ist dennoch nicht ständig gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.
Bei der Auslegung der Vorschrift, die eine Teilnahme am öffentlichen Leben und kulturellen Geschehen ermöglichen sowie behinderungsbedingte Störungen bei der Teilnahme am öffentlichen Gemeinschaftsleben durch erleichterten Zugang zu Rundfunk- und Fernsehsendungen ausgleichen will und damit der Eingliederung Behinderten in die Gesellschaft dient, ist von den bislang durch den Senat entwickelten Grundsätzen auszugehen. Danach muß der Schwerbehinderte wegen seiner Leiden allgemein und umfassend von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sein. Solange ein Schwerbehinderter mit technischen Hilfsmitteln und mit Hilfe einer Begleitperson in zumutbarer Weise öffentliche Veranstaltungen aufsuchen kann, ist er von der Teilnahme am öffentlichen Geschehen nicht ausgeschlossen (BSG SozR 3870 § 3 Nr 25). Das Merkzeichen RF steht dem Kläger deshalb nicht schon aus dem Grunde zu, weil er öffentliche Veranstaltungen nur mit einem Rollstuhl und einer Begleitperson aufsuchen kann. Desgleichen ist die ungünstige Lage seines Wohnortes, in dessen Nahbereich nur ein begrenztes Angebot öffentlicher Veranstaltungen zu finden ist, entgegen der Auffassung des SG kein Grund, schon deswegen das Merkzeichen RF zuzuerkennen. Insoweit ist die eingeschränkte Teilnahme am kulturellen Geschehen nicht behinderungs-, sondern wohnungsbedingt. Das Risiko der ungünstigen Wohnlage ist - ähnlich wie das schlechter Witterungsverhältnisse - von jedermann selbst zu tragen und rechtfertigt keinen Nachteilsausgleich (BSG SozR 3870 § 3 Nr 25).
Entgegen der Auffassung des LSG rechtfertigt auch das Leiden des unkontrollierten Harnabgangs nicht die Zuerkennung des umstrittenen Nachteilsausgleichs. Denn der Kläger ist nach den Feststellungen des LSG objektiv in der Lage, durch Benutzung von Einmalwindeln, die den Harn ohne Geruchsbelästigung für die Umwelt für die Dauer von zwei Stunden auffangen, den meisten öffentlichen Veranstaltungen ungestört bis zu ihrer Beendigung beizuwohnen. Die vom LSG herangezogene, aber nicht näher begründete, insbesondere medizinisch-sachverständig nicht gestützte Geschwürgefahr besteht nach dem eigenen Vorbringen des Klägers erst dann, wenn er länger als zwei bis drei Stunden hintereinander im Rollstuhl sitzt. Damit ist allenfalls ein geringer Teil öffentlicher Veranstaltungen im Hinblick auf diese Gefahr dem Kläger verschlossen.
Die Auffassung des LSG, die Verweisung auf das Benutzen von Windelhosen verletze die Menschenwürde (Art 1 Grundgesetz), ist ebenfalls nicht näher begründet. Sie steht im Widerspruch zu der Rechtsprechung des Senats (vgl Urteil vom 11. September 1991 - 9a RVs 1/90 - nicht veröffentlicht). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Der Verweis auf das Tragen von Windelhosen, die den Harn bis zu zwei Stunden ohne Geruchsbelästigung für andere Menschen aufnehmen, verstößt weder gegen die Würde des Menschen noch gegen den Sozialstaatsgrundsatz. Der Kläger wird dadurch nicht zum Objekt des Staates gemacht oder einer Behandlung ausgesetzt, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt (BVerfGE 50, 166, 175; 87, 209, 228). Der Kläger wird vielmehr mit seiner schweren Behinderung anerkannt, die schicksalhafter Teil des menschlichen Lebens ist und als solche ebensowenig gegen die Menschenwürde verstößt wie das Leben unter anderen beschwerlichen Umständen. Die Notwendigkeit, Windelhosen zu tragen, ist nur eine Auswirkung dieser Behinderung. Es handelt sich dabei um ein übliches, behindertengerechtes Hilfsmittel, dessen funktionsgerechte Benutzung als solche keine Verletzung der Menschenwürde darstellen kann, weil sie den behinderten Menschen nicht zusätzlich herabmindert, sondern im Rahmen des Möglichen die Auswirkungen seiner Behinderung mildert. Das subjektive Empfinden des Behinderten, der dies als unangenehm empfinden mag, ist eine verständliche Begleiterscheinung seiner Erkrankung, hat aber nicht zur Folge, ihm deswegen überhaupt nicht mehr den Besuch öffentlicher Veranstaltungen zuzumuten. Allenfalls das Bekanntwerden oder die Auffälligkeit eines solchen Hilfsmittels könnte seine Benutzung bei öffentlichen Veranstaltungen im Hinblick auf vielerorts anzutreffende Intoleranz als subjektiv unzumutbar erscheinen lassen. Dafür, daß solches zu befürchten ist, bestehen aber keine Anhaltspunkte.
Ist dem Kläger die Benutzung von Einmalwindeln zumutbar, so entfällt auch, worauf die Revision zu Recht hinweist, die Notwendigkeit, eine Begleitperson für den Toilettengang in Anspruch zu nehmen und dadurch den Veranstaltungsablauf zu stören.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen