Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 31.07.1997) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 31. Juli 1997 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten um die Übernahme der Kosten für eine kieferorthopädische Behandlung.
Die 1957 geborene Klägerin ist versicherungspflichtiges Mitglied der beklagten Ersatzkasse. Wegen Zahnfehlstellungen vor allem am Oberkiefer ließ sie einen Behandlungsplan aufstellen, der kieferorthopädische Maßnahmen, aber keine operativen Eingriffe vorsieht. Ihren darauf gestützten Antrag auf Kostenübernahme lehnte die Beklagte unter Berufung auf die seit 1993 geltende Altersgrenze für kieferorthopädische Behandlungen ab (Bescheid vom 13. Oktober 1993, Widerspruchsbescheid vom 11. Januar 1994).
Die Klage hatte vor dem Sozialgericht (SG) Erfolg, weil sich die Notwendigkeit der kieferorthopädischen Behandlung bei der Klägerin erst nach Vollendung des 18. Lebensjahres gezeigt habe und weder durch mangelnde zahnmedizinische Vorsorge veranlaßt sei noch mit ästhetischen Gründen zusammenhänge (Urteil vom 25. November 1996). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) dieses Urteil geändert und die Klage abgewiesen. Im Urteil vom 31. Juli 1997 ist ua ausgeführt: Der einschlägige Gesetzeswortlaut lasse die erweiternde Auslegung durch das SG nicht zu, zumal sich der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung mit den aus seiner Sicht erforderlichen Ausnahmen eingehend auseinandergesetzt habe. Eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes liege infolge des weiten Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers nicht vor.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin insbesondere Verletzungen von §§ 28, 29 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) sowie von Art 3 Grundgesetz (GG). In ihrem Falle sei der Behandlungsbeginn auf Zahnextraktionen im Alter zwischen 10 und 14 Jahren zurückzubeziehen, weil damals die Notwendigkeit von kieferorthopädischen Maßnahmen begründet worden sei, so daß die Ausschlußbestimmung nicht eingreife. Zumindest liege eine Regelungslücke vor, denn an die Fälle der im Jugendalter begründeten Notwendigkeit späterer kieferorthopädischer Maßnahmen habe der Gesetzgeber nicht gedacht. Ästhetische Gründe oder mangelnde zahnmedizinische Vorsorge seien nicht der Anlaß für die streitige Behandlung.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG abzuändern und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Das LSG hat den geltend gemachten Anspruch zu Recht verneint.
Die Kosten der kieferorthopädischen Behandlung der Klägerin sind nicht von der Beklagten zu tragen. Zwar hat die Beklagte nach § 29 Abs 1 Satz 1 und Abs 3 SGB V grundsätzlich auch die Kosten für kieferorthopädische Behandlungen zu erstatten, sofern in den vom Bundesausschuß der Zahnärzte und Krankenkassen festgelegten medizinischen Indikationsgruppen (§ 29 Abs 4 SGB V) eine Kiefer- oder Zahnfehlstellung vorliegt, die das Kauen, Beißen, Sprechen oder Atmen erheblich beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht. Nach § 28 Abs 2 Satz 6 SGB V (als Satz 2 zum 1. Januar 1993 eingeführt durch das Gesundheitsstrukturgesetz vom 21. Dezember 1992, BGBl I 2266) gehört jedoch die kieferorthopädische Behandlung von Versicherten, die zu Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr vollendet haben, nicht zur zahnärztlichen Behandlung. Eine Ausnahme gilt nach § 28 Abs 2 Satz 7 (früher Satz 3) SGB V nur für Versicherte mit schweren Kieferanomalien, die ein Ausmaß haben, das kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen erfordert. Die Ausschlußregelung des § 28 Abs 2 Satz 6 SGB V greift bei der Klägerin ein; ein Ausnahmefall nach Satz 7 aaO ist nicht gegeben.
Die Behandlung wurde nach Vollendung des 18. Lebensjahres begonnen. Als Behandlungsbeginn ist der Zeitpunkt der Aufstellung des kieferorthopädischen Behandlungsplans anzusehen, auch wenn die eigentliche Behandlung erst danach beginnt und wichtige Vorbereitungshandlungen schon vor diesem Zeitpunkt liegen sollten. Denn das Datum des Behandlungsplans belegt in nachprüfbarer Weise die Feststellung der Behandlungsnotwendigkeit sowie den Behandlungswunsch des Versicherten und die Behandlungsbereitschaft des Zahnarztes; andere denkbare Zeitpunkte könnten erhebliche Rechtsunsicherheit nach sich ziehen (so auch die Vorstellungen des Gesetzgebers in der Begründung zum Gesetzentwurf, BT-Drucks 12/3608 S 79).
Der Behandlungsplan für die in Rede stehende Behandlung datiert vom 30. Juli 1993, so daß der Anspruch der damals 25-jährigen Klägerin ausgeschlossen ist. Die im Alter von etwa 10 bis 14 Jahren durchgeführten Zahnextraktionen können an diesem Ergebnis nichts ändern. Bei einer so langen Zeit ohne Behandlung ist nicht von einer Fortsetzung der damals begonnenen Maßnahmen auszugehen, auch wenn die spätere Zahnfehlstellung zumindest teilweise auf jene Behandlung zurückzuführen ist. Ob und unter welchen Umständen kürzere Behandlungsunterbrechungen für den Anspruch unschädlich sein können, bedarf hier keiner Entscheidung. Die Klägerin erfüllt auch nicht die Voraussetzungen, unter denen die kieferorthopädische Behandlung eines Erwachsenen nach § 28 Abs 2 Satz 7 SGB V ausnahmsweise in den Versicherungsschutz einbezogen wird. Das LSG hat – für den Senat gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bindend – festgestellt, daß kieferchirurgische Eingriffe bei ihr nicht erforderlich sind.
Entgegen der Auffassung der Klägerin und des SG ist der gesetzliche Leistungsausschluß für kieferorthopädische Behandlungen bei über achtzehnjährigen Versicherten nicht einschränkend dahin zu verstehen, daß er nur für Maßnahmen gilt, die aus ästhetischen Gründen oder wegen mangelnder zahnmedizinischer Vorsorge erfolgen. Diese Interpretation ist mit Wortlaut und Systematik des § 28 Abs 2 Satz 6 und 7 SGB V nicht zu vereinbaren. Der Gesetzestext gibt für die Beschränkung der Ausschlußregelung auf bestimmte Gründe einer Behandlung nichts her. Soweit in Satz 7 Ausnahmen vorgesehen sind, beziehen sie sich allein auf die Art der erforderlichen Maßnahmen und nicht auf den Behandlungsanlaß. Dessen notwendige medizinische Orientierung ergibt sich im übrigen bereits aus § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V; zum Ausschluß nur ästhetisch begründbarer Maßnahmen hätte es keiner eigenen Vorschrift bedurft. Nachdem das Gesetz die Fallgestaltungen nennt, in denen kieferorthopädische Maßnahmen im Erwachsenenalter ausnahmsweise in den Krankenversicherungsschutz einbezogen werden, steht der vom SG befürworteten Auslegung der abschließende Charakter der Regelung entgegen. Zwar wird die Ausschlußregelung in der Begründung zum Fraktionsentwurf des Gesundheitsstrukturgesetzes ua damit gerechtfertigt, daß kieferorthopädische Maßnahmen bei Erwachsenen überwiegend aus ästhetischen Erwägungen oder zur Behebung selbstverschuldeter Gebißschäden durchgeführt werden (BT-Drucks 12/3608 S 79). Dieser Aussage zum typischen Behandlungsanlaß ist jedoch ebensowenig wie den übrigen Gesetzesmaterialien ein Anhalt dafür zu entnehmen, daß der Leistungsausschluß auf die genannten Behandlungsanlässe beschränkt werden sollte.
Es kommt auch nicht darauf an, ob der bei der Klägerin anzutreffende Befund einen vergleichbaren Schweregrad aufweist wie eine Kieferanomalie, die kieferchirurgische Maßnahmen erfordert. § 28 Abs 1 Satz 7 SGB V ist auf derartige Fälle nicht entsprechend anzuwenden. Abgesehen davon, daß kaum sinnvoll abzugrenzen wäre, nach welchen Merkmalen kieferorthopädisch behandelbare Fehlstellungen einem operationsbedürftigen Befund gleichzustellen wären, steht schon der Gesetzeswortlaut einer Ausdehnung auf vergleichbare Fälle entgegen. Die Gesetzesbegründung ihrerseits zeigt, daß die Operationsbedürftigkeit als ganz konkrete Leistungsvoraussetzung im Einzelfall verstanden werden muß, denn es werden eine Reihe von Fehlbildungen erwähnt, die nur mit Hilfe von kieferchirurgischen Maßnahmen ausgeglichen werden können (BT-Drucks aaO). An derselben Stelle kommt außerdem zum Ausdruck, daß es dem Gesetzgeber nicht darum geht – wie die Anknüpfung an das „Ausmaß” der Anomalie im Gesetzestext vermuten lassen könnte – besonders schwerwiegende Anomalien von leichteren Behandlungsfällen abzugrenzen. Vielmehr soll das Merkmal der kieferchirurgischen Behandlungsbedürftigkeit außer verletzungsbedingten skelettalen Fehlstellungen vor allem solche Fälle erfassen, bei denen der Abschluß des Körperwachstums abgewartet werden muß, bevor die notwendige chirurgische (und daher auch die darauf aufbauende kieferorthopädische) Maßnahme überhaupt sinnvoll durchgeführt werden kann. Die genannten Umstände – die erst im Erwachsenenalter erlittene traumatische Veränderung des Kieferknochens oder der medizinisch erzwungene Aufschub des kieferchirurgischen Eingriffs bis zum Abschluß des Wachstums – machen die Behandlung im jugendlichen Alter unmöglich und bilden den sachlichen Hintergrund für die Ausnahmevorschrift. Danach scheidet die Einbeziehung aller „vergleichbar schweren Fälle” aus, zumal bei diesen die Unterscheidung zwischen ästhetisch und medizinisch begründeter sowie diejenige zwischen bereits im Jugendalter und erst später erkennbarer Behandlungsnotwendigkeit auf noch größere Unsicherheiten stößt.
Die durch das Gesundheitsstrukturgesetz eingeführte Beschränkung des Versicherungsschutzes dahingehend, daß kieferorthopädische Behandlungen bei Erwachsenen nur noch in Ausnahmefällen von den Krankenkassen zu bezahlen sind, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Sie ist sowohl mit dem Rechtsstaatsprinzip als auch mit dem Sozialstaatsprinzip vereinbar. Der Senat hat in seinem Urteil vom 25. Juni 1991 (BSGE 69, 76 = SozR 3-2500 § 59 Nr 1) in anderem Zusammenhang näher ausgeführt, daß die in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten grundsätzlich nicht auf einen unveränderten Fortbestand der im Gesetz vorgesehenen Leistungen vertrauen können. Angesichts fortlaufender Veränderungen der wirtschaftlichen, soziologischen und medizinischen Rahmenbedingungen und Interessenlagen mit Auswirkungen auf die Finanzierbarkeit der Krankenversicherung und die Belastbarkeit der Sozialversicherungssysteme insgesamt muß es dem Gesetzgeber erlaubt sein, den Leistungsumfang und die Modalitäten der Leistungsgewährung an neue Entwicklungen und Erkenntnisse anzupassen.
Der unterschiedliche Versicherungsschutz für Erwachsene und Jugendliche bei kieferorthopädischen Maßnahmen verletzt auch nicht den Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG. Diese Vorschrift verbietet es, Gruppen von Normadressaten unterschiedlich zu behandeln, obwohl zwischen ihnen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen (BVerfGE 87, 1, 36 = SozR 3-5761 Allg Nr 1 S 7 mwN). Der Gesetzgeber hat den Leistungsausschluß bei Erwachsenen mit medizinischen Erwägungen begründet, welche die Differenzierung tragen. Zwischen kieferorthopädischen Maßnahmen vor Abschluß des Skelettwachstums und danach bestehen grundsätzliche Unterschiede, die bisher dazu geführt haben, daß die Erwachsenenbehandlung mit Skepsis betrachtet wird (Vanarsdall/Musich in: Graber/Swain, Orthodontics, St. Louis 1985, S 791 ff; vgl auch die in BSGE 45, 212, 219 f = SozR 2200 § 182 Nr 29 S 56 zitierte Literatur). Zu den dabei zu beachtenden Schwierigkeiten gehören insbesondere die wesentlich längere Behandlungsdauer, weil aus mehreren Gründen nur geringe Kräfte eingesetzt werden dürfen, die höhere Empfindlichkeit gegenüber sekundären Schädigungen und die lange Nachbehandlung (Retention), um eine Rückbildung zu verhindern, so daß kieferorthopädische Maßnahmen nach Abschluß des Wachstums nur mit erheblichen Vorbehalten empfohlen werden (Meyerhöfer, Prärestaurative Kieferorthopädie, Berlin 1987, S 17 ff; Witt in: Wissenschaftliches Institut der Ortskrankenkassen, Colloquium Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten, Bonn 1984, S 78 ff). Daran anknüpfend konnte der Gesetzgeber davon ausgehen, daß mit einer kieferorthopädischen Behandlung aus medizinischen Gründen regelmäßig vor Abschluß des Körperwachstums begonnen werden sollte (vgl nochmals BT-Drucks 12/3608 S 79 zu § 28). Mit dem Hinweis auf die Risiken und den im allgemeinen geringeren Wirkungsgrad einer Erwachsenenbehandlung sowie die Schwierigkeit, bei solchen Behandlungen medizinische von anderen Behandlungszielen abzugrenzen, sind sachliche Unterschiede aufgezeigt, die es rechtfertigten, die Leistungspflicht der Krankenkassen auf kieferorthopädische Maßnahmen im Jugendalter zu begrenzen. Daß in der Literatur Fälle diskutiert werden, in denen kieferorthopädische Maßnahmen auch noch im Erwachsenenalter sinnvoll sein mögen, steht der Zulässigkeit der notwendigerweise typisierenden Regelung nicht entgegen.
Die in § 28 Abs 2 Satz 7 SGB V geregelte Ausnahme ist ebenfalls sachlich gerechtfertigt. Sie steht mit der im Krankenversicherungsrecht notwendigen Risikoabgrenzung nach der Art der Behandlungsmaßnahme im Einklang (vgl Senatsurteil vom 9. Dezember 1997 – 1 RK 11/97, zur Veröffentlichung bestimmt) und vermeidet unbefriedigende Unterscheidungen nach der Art, der Schwere oder der Ursache einer Erkrankung. Der Gesetzgeber war verfassungsrechtlich nicht gehalten, den Anspruch von anderen Merkmalen als dem der kombinierten kieferchirurgischen und kieferorthopädischen Behandlung abhängig zu machen. Soweit er unterstellt hat, daß bei kieferorthopädischen Maßnahmen im Erwachsenenalter häufig medizinische von ästhetischen Gesichtspunkten überlagert werden, kann das mit Rücksicht auf die oben schon angedeuteten praktischen Abgrenzungsschwierigkeiten nicht als sachwidrig angesehen werden. Gegen eine Ausdehnung des Anspruchs auf alle medizinisch begründbaren Behandlungsfälle, in denen dem Versicherten weder mangelnde Zahnpflege noch Untätigkeit trotz einer frühzeitig erkennbaren Behandlungsnotwendigkeit entgegengehalten werden kann, sprechen ähnliche Gründe. Denn nach Jahren oder Jahrzehnten sind die im Jugendalter gesetzten Bedingungen für eine im Erwachsenenalter diagnostizierte Fehlstellung in aller Regel nicht mehr verläßlich festzustellen.
Sonstige Grundrechte der Klägerin sind ebenfalls nicht verletzt. Wie das Bundesverfassungsgericht zuletzt mit Beschlüssen vom 5. März 1997 (ua 1 BvR 1071/95 = NJW 1997, 3085 = Breith 1997, 764) erneut bekräftigt hat, ergibt sich aus der Verfassung kein Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung oder Finanzierung bestimmter Gesundheitsleistungen. Bei der Festlegung des Umfangs des Krankenbehandlungsanspruchs durch die Leistungsgesetze hat der Gesetzgeber infolgedessen einen weiten Gestaltungsspielraum.
Da das LSG den Anspruch der Klägerin zu Recht verneint hat, ist die Revision zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen