Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 26.06.1990) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. Juni 1990 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin für 1986 den Kindergeldzuschlag gemäß § 11a des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) zu zahlen hat.
Die ledige Klägerin ist Mutter zweier 1980 und 1984 geborener Kinder, die – was der Beklagten erst im Laufe des Jahres 1987 bekannt geworden ist – seit 1984 im Haushalt ihres Großvaters, W. … R., leben; dieser bezieht das Kindergeld erst ab Juli 1987.
Die Klägerin hat im August 1986 insgesamt drei Wochen gearbeitet und hierbei nach den Eintragungen in ihrer Lohnsteuerkarte während dieser Zeit ein Bruttoarbeitsentgelt von 2.974,79 DM erzielt. Hiervon ist – neben Versicherungsbeiträgen – eine Lohnsteuer von 369,40 DM einbehalten worden, deren Rückzahlung die Klägerin auch nicht im Lohnsteuerjahresausgleichsverfahren beansprucht hat.
Den ersten Antrag der Klägerin auf Zahlung von Abschlägen auf den Zuschlag zum Kindergeld (§ 11a Abs 8 BKGG) hat die Beklagte durch den bindend gewordenen Bescheid vom 5. Februar 1986 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. April 1986 mit der Begründung abgelehnt, der Klägerin stünden für ihre Kinder nur Freibeträge in Höhe von jeweils 0,5 des vollen Freibetrages zu; Vorauszahlungen entsprechend § 11a Abs 8 Satz 2 BKGG kämen jedoch nur bei Berechtigten in Betracht, bei denen mindestens ein voller Kinderfreibetrag anzusetzen sei.
Den Antrag der Klägerin vom 21. August 1986, beim Arbeitsamt eingegangen am 3. Oktober 1986, auf laufende Zahlung des Kindergeldzuschlages für das Jahr 1986 lehnte die Beklagte durch den Bescheid vom 2. Juni 1987 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. November 1987 mit der Begründung ab, der Klägerin stehe der Kindergeldzuschlag nicht zu, weil sie 1986 steuerpflichtige Einkünfte erzielt habe und Lohnsteuer gezahlt worden sei. Da sie trotz Aufforderung nicht mitgeteilt habe, ob sie die Erstattung der abgeführten Lohnsteuer im Erstattungsverfahren beanspruchen wolle oder ob sie eine Einkommensteuererklärung abzugeben habe, müsse angenommen werden, daß die Klägerin die Kinderfreibeträge voll ausgeschöpft habe.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Gewährung des Kindergeldzuschlages an die Klägerin verurteilt und die Berufung zugelassen (Urteil vom 22. August 1989). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 26. Juni 1990). Beide Instanzen sind der Ansicht, daß der Klägerin der Kindergeldzuschlag auch dann zustehe, wenn der Kindergeldanspruch in der streitigen Zeit schon dem Großvater zugestanden haben sollte. Die Klägerin habe im Jahre 1986 nur ein Bruttoeinkommen von 2.974,79 DM erzielt, so daß ihr Einkommen bereits den Grundfreibetrag nicht erreicht habe. Der Umstand, daß sie den Lohnsteuerjahresausgleich für 1986 nicht beantragt habe, stehe dem Anspruch auf Kindergeldzuschlag nicht entgegen.
Die Beklagte wiederholt zur Begründung ihrer Revision ihre zuvor dargelegte Rechtsansicht. Aber selbst wenn man die Rechtsansicht des LSG zugrundelege, sei der Rechtsstreit nicht entscheidungsreif, weil dieses bei seinem rechtlichen Ausgangspunkt habe ermitteln müssen, ob die Klägerin 1986 noch andere steuerpflichtige Einkünfte erzielt habe.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. Juni 1990 sowie des Sozialgerichts Lüneburg vom 22. August 1989 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin und die Beigeladene sind im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
II
Der Senat hat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Ob der Klägerin der Kindergeldzuschlag für 1986 zusteht, läßt sich nach den vom LSG getroffenen Tatsachenfeststellungen derzeit nicht entscheiden.
Das LSG hat festgestellt, daß die beiden Kinder der Klägerin, derentwegen sie den Kindergeldzuschlag für 1986 beansprucht, seit 1984 ununterbrochen im Haushalt ihres Großvaters, W. … R., leben. Bei dieser Sachlage ist der Großvater R. gemäß § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 3 BKGG selbst dann kindergeldberechtigt, wenn die Klägerin die Kinder überwiegend unterhalten hat. Denn für die Kindergeldberechtigung nach dieser Vorschrift genügt die Aufnahme in den Haushalt. Die Anspruchsberechtigung wegen Unterhaltsleistung begründet vielmehr einen von der Aufnahme in den Haushalt unabhängigen weiteren Anspruchstatbestand.
An der Anspruchsberechtigung des Großvaters R. ändert auch der Umstand nichts, daß die Beklagte der Klägerin im Jahr 1986 das Kindergeld gezahlt hat. Denn wenn – wie das LSG festgestellt hat – der Großvater R. die Kinder in seinen Haushalt aufgenommen hat, war er gemäß § 3 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG gegenüber der leiblichen Mutter bevorrechtigt, die in der Rangfolge erst an dritter Stelle steht (§ 3 Abs 2 Satz 1 Nr 3 BKGG). Der Kindergeldzuschlag ist zwar ein Teil des Kindergeldes, rechtlich ist er jedoch gegenüber dem Regelkindergeld eine eigenständige Leistung, weil seine Gewährung von den besonderen Voraussetzungen des § 11a Abs 1 BKGG abhängt (erkennender Senat, Urteil vom 18. Juli 1989 – 10 RKg 27/88 –, SozR 5870 § 27 Nr 3). Deshalb hat die Beklagte mit dem Bescheid, mit dem sie der Klägerin das Regelkindergeld iS des § 10 BKGG als laufende Leistung bewilligt hat, ihr nicht zugleich auch den Kindergeldzuschlag gemäß § 11a BKGG bewilligt. Die Richtigkeit dieser Abgrenzung folgt allein schon daraus, daß § 11a Abs 7 Satz 1 BKGG die Zahlung des Kindergeldzuschlages von der Stellung eines gesonderten Antrages abhängig macht (erkennender Senat aa0).
Das LSG konnte bei den von ihm festgestellten Tatsachen auch nicht davon ausgehen, daß die Klägerin im Hinblick auf § 11a Abs 4 BKGG den Kindergeldzuschlag beanspruchen darf. Diese Vorschrift billigt zwar demjenigen, der nach § 3 Abs 2 Satz 1 BKGG ausgeschlossen ist – hier also der Klägerin, weil ihre Kinder im Haushalt des Großvaters R. leben –, den „Zuschlag als Kindergeld” zu, sofern der Kinderfreibetrag nicht dem Berechtigten – hier also dem Großvater R. … -zusteht. Das LSG hat jedoch keine Tatsachen dafür festgestellt, daß die Kinder der Klägerin im Hause des Großvaters R. nicht „Pflegekinder” waren und daß infolgedessen dem Großvater der Kinderfreibetrag iS des § 32 Abs 1 Nr 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht zugestanden hat. Erst wenn das LSG feststellt, daß beide Kinder der Klägerin nicht Pflegekinder des Großvaters R. im steuerrechtlichen Sinne waren, kann es auch davon ausgehen, daß dem Großvater R. ein Kinderfreibetrag gemäß § 32 Abs 1 Nr 2 EStG nicht zusteht, und daß infolgedessen die Klägerin gemäß § 11a Abs 4 BKGG vorrangig für den Kindergeldzuschlag berechtigt ist.
Kommt das LSG bei dieser Prüfung zu dem Ergebnis, daß der Klägerin gemäß § 11a Abs 4 BKGG der Kindergeldzuschlag als Kindergeld zusteht, würde ihr Anspruch auf den Kindergeldzuschlag nicht, wie die Revision meint, daran scheitern, daß ihr Arbeitgeber für das von der Klägerin im Jahr 1986 erzielte, den Grundfreibetrag nach § 32a Abs 1 Nr 1 EStG nicht erreichende Einkommen aus abhängiger Arbeit Lohnsteuer abgeführt und die Klägerin es verabsäumt hat, hinsichtlich dieser Steuer einen Antrag auf Durchführung des Lohnsteuerjahresausgleichs zu stellen. Denn das LSG hat aus den von ihm bereits im einzelnen dargelegten Rechnungs- und Zahlungsmodalitäten des § 38 EStG hinsichtlich der Lohnsteuer den zutreffenden Schluß gezogen, daß die Klägerin 1986 aus der von ihr geleisteten abhängigen Arbeit nur 2.974,79 DM erzielt hat. Da der Grundfreibetrag jedoch 4.752,– DM betrug, erreichte ihr Einkommen aus abhängiger Arbeit 1986 den Grundfreibetrag nicht. Die Beklagte konnte demgemäß die Zahlung des Kindergeldzuschlages an die Klägerin nicht mit der Begründung verweigern, daß die Klägerin 1986 tatsächlich Lohnsteuer gezahlt hat. Denn bei der Inhaltsbestimmung des § 11a Abs 1 Satz 1 BKGG ist allein darauf abzuheben, welches Jahreseinkommen der Besteuerung zugrunde gelegt worden ist. Es wird jedoch weder dem Normgehalt noch der Zielsetzung des § 11a BKGG gerecht, allein aus der Tatsache, daß im Lohnsteuerabzugsverfahren nach § 38 EStG Einkommensteuern einbehalten worden sind, zu folgern, daß damit auch das zu versteuernde Einkommen höher ist als der Grundfreibetrag nach § 32a Abs 1 Nr 1 EStG. Ebensowenig ist aus Gründen der praktikablen Handhabung zugunsten einer Massenverwaltung zu fordern, daß jedenfalls bei einer eindeutigen Fallgestaltung wie dieser gleichwohl der Kindergeldzuschlag erst nach erfolgter Einkommensteuerveranlagung oder nach einem Lohnsteuerjahresausgleich gewährt werden könnte. Eine solche rein formale Betrachtung kann, wie das LSG zutreffend anmerkt, nicht zum Verlust des materiellen Anspruchs führen.
Die Revision macht aber zutreffend geltend, daß bei der Feststellung des Jahreseinkommens nicht nur auf das Einkommen aus abhängiger Arbeit abzuheben ist, sondern daß der Kindergeldzuschlag nur dann zu zahlen ist, wenn das gesamte zu versteuernde Einkommen iS des § 2 Abs 5 EStG geringer ist als der Grundfreibetrag nach § 32a Abs 1 Nr 1 EStG. Die Vorschrift des § 2 Abs 5 EStG erfaßt nicht nur Lohneinkommen, sondern alle Einkünfte, die steuerpflichtiges Einkommen im Sinne dieser Vorschrift sind. Ob insoweit die Feststellungen der Beklagten über die Einkünfte der Klägerin im Jahre 1986 (vgl Bl 73 Kindergeld-Akte) erschöpfend sind, ist offen geblieben. Demzufolge hätte das LSG von seinem Rechtsstandpunkt aus prüfen und feststellen müssen, welche steuerpflichtigen Einkünfte die Klägerin 1986 insgesamt hatte. Erst wenn sonach feststeht, daß das zu versteuernde Einkommen der Klägerin geringer ist als der Grundfreibetrag nach § 32a Abs 1 Nr 1 EStG, kann die Klägerin unter den Voraussetzungen des § 11a Abs 4 BKGG den Kindergeldzuschlag als Kindergeld beanspruchen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen