Entscheidungsstichwort (Thema)

Kind des Lebenspartners. Pflegekindschaftsverhältnis. ungebrochenes Verhältnis zum leiblichen Elternteil

 

Orientierungssatz

1. Wenn das Gesetz in § 2 Abs 1 S 1 Nr 2 BKGG ein familienähnliches Band verlangt, so wird nicht vorausgesetzt, daß ein familienhaftes Verhältnis des Kindes zu einem Elternteil nicht mehr besteht.

2. § 3 Abs 2 S 2 BKGG hätte keinen Sinn, wenn sich schon aus der Bestimmung des Begriffs der Haushaltsaufnahme ergäbe, daß ein Kind nicht in den Haushalt eines Pflegeelternteiles aufgenommen sein kann, wenn in diesem Haushalt auch ein leiblicher Elternteil mitwohnt.

 

Normenkette

BKGG § 2 Abs 1 S 1 Nr 2 Fassung: 1986-01-21, § 3 Abs 2 S 2

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 23.08.1988; Aktenzeichen L 3 Kg 19/88)

SG Braunschweig (Entscheidung vom 25.02.1988; Aktenzeichen S 4 Kg 17/87)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger von Juli 1985 bis zum 30. Juni 1989 als Pflegevater Kindergeld unter Berücksichtigung des im Jahre 1975 geborenen Lars K.       zusteht. Sozialgericht (SG - Urteil vom 25. Februar 1988) und Landessozialgericht (LSG - Urteil vom 23. August 1988) haben dies angenommen.

Der Kläger ist Witwer. Er hat zwei eheliche Kinder. Seit Juli 1985 lebt er mit Helga K.       (Beigeladene zu 1) und deren Sohn Lars in seinem Hause zusammen. Die Lebensverhältnisse gestalten sich wie bei einem Ehepaar mit drei Kindern.

Im August 1985 beantragte der Kläger als Pflegevater Kindergeld für Lars. Die Beigeladene zu 1) erklärte sich damit einverstanden, daß das Kindergeld für Lars an den Kläger gezahlt wird.

Durch ihren Bescheid vom 30. Dezember 1985 lehnte die zuständige Kindergeldkasse es ab, Lars als Pflegekind zu berücksichtigen, weil er nicht in den Haushalt des Klägers aufgenommen sei. Das Kind lebe im gemeinsamen Haushalt mit der Beigeladenen zu 1). Der gegen diesen Bescheid eingelegte Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 19. Februar 1987).

Das SG hat die Beklagte verurteilt, an den Kläger Kindergeld für das Kind Lars ab Juli 1985 zu zahlen. Es sei rechtlich unerheblich, daß der Kläger als Pflegevater gemeinsam in einem Haushalt mit der leiblichen Mutter des Kindes wohne. In dem die Berufung der Beklagten zurückweisenden Urteil des LSG heißt es, das Pflegekindschaftsverhältnis zwischen dem Kläger und Lars bestehe trotz des gemeinsamen Haushaltes des Klägers mit der Beigeladenen zu 1). Das Kind wachse bei dem Kläger wie bei einem "Beinahe-Vater" auf. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Mit der Revision macht die Beklagte geltend, das LSG habe den Begriff des Pflegekindes iS von § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) verkannt. Zwischen dem Lebenspartner und dem leiblichen Kind eines mit ihm in Gemeinschaft wohnenden Elternteils bestehe kein familienähnliches Band. Das natürliche Familienband zum leiblichen Elternteil werde durch die Begründung eines gemeinsamen Haushalts nicht unterbrochen. Das Pflegekindschaftsverhältnis setze aber voraus, daß das Kind aus dem Obhuts- und Fürsorgeverhältnis zu seinem leiblichen Elternteil ausgeschieden sei. Solange das Familienband zwischen der Mutter und ihrem leiblichen Kind noch bestehe, könne ein Pflegekindschaftsverhältnis demgemäß nicht begründet werden. Dies ergebe sich nicht zuletzt aus Vorschriften des Jugendwohlfahrtsgesetzes (JWG) und des Einkommensteuergesetzes (EStG). Es fehle insbesondere auch an der Haushaltsaufnahme des Kindes durch den Kläger. Von einer solchen könne nur ausgegangen werden, wenn der leibliche Elternteil nur einen geringfügigen Beitrag zum Lebensunterhalt des Kindes beitrage. Von derartigen rechtlichen Voraussetzungen gehe auch das Bundessozialgericht (BSG) in seiner Rechtsprechung zur Haushaltsaufnahme von Enkelkindern aus. Diese Voraussetzungen seien im vorliegenden Falle nicht erfüllt, weil die Beigeladene zu 1) zu den monatlichen Gesamtkosten von 2.600,-- DM bis 3.000,-- DM des Haushalts nur 850,-- DM beitrage.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG Niedersachsen vom 23. August 1988 und des SG Braunschweig vom 25. Februar 1988 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hat seinen Klageanspruch im Revisionsverfahren auf die Zeit bis zum 30. Juni 1989 beschränkt. Nach seiner Überzeugung ist das LSG zu Recht von dem Bestehen eines Pflegekindschaftsverhältnisses zwischen dem Kläger und Lars ausgegangen. Hieran ändere nichts, daß das natürliche Band zwischen dem Kind und der Beigeladenen zu 1) bestehen geblieben sei. Der gemeinsame Haushalt des Klägers mit der Mutter von Lars sei auch als sein Haushalt anzusehen. Dies ergebe sich nicht zuletzt aus § 3 Abs 2 Satz 2 BKGG.

Die Beigeladenen stellen keine eigenen Anträge.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat hat gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung entschieden, nachdem die Beteiligten sich übereinstimmend damit einverstanden erklärt haben.

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie betrifft nur noch den Zeitraum bis zum 30. Juni 1989; die weitergehende Klage ist durch Rücknahme erledigt. SG und LSG haben zutreffend entschieden, daß Lars bei dem Kläger als Pflegekind berücksichtigt werden muß. Zwar geht der leibliche Elternteil, wenn er mit dem Pflegekind und dem Pflegeelternteil in einem gemeinsamen Haushalt lebt, dem Pflegeelternteil grundsätzlich im Range vor, § 3 Abs 2 Satz 2 BKGG. Das gilt jedoch nicht, wenn der Elternteil gegenüber der zuständigen Stelle auf seinen Vorrang schriftlich verzichtet, § 3 Abs 2 Satz 2 zweiter Halbsatz BKGG. Da die Mutter von Lars, die Beigeladene zu 1), auf ihren Vorrang ordnungsgemäß verzichtet hat, kommt es für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits demgemäß nur noch darauf an, ob der Kläger als Pflegevater dieses Kindes angesehen werden kann. Das ist der Fall.

Nach der bis zum Inkrafttreten des Zwölften Änderungsgesetzes vom 30. Juni 1989 (BGBl I 1294) geltenden Definition des Gesetzes, auf welche es hier allein ankommt, sind Pflegekinder Personen, mit denen der Berechtigte durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie in seinen Haushalt aufgenommen hat, § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG aF idF der Bekanntmachung vom 21. Januar 1986 (BGBl I 221). Nach den Feststellungen des LSG ist davon auszugehen, daß zwischen dem Kläger und Lars ein familienähnliches auf längere Dauer berechnetes Band besteht. Danach leben nämlich der Kläger und die Beigeladene zu 1) mit ihren drei Kindern wie eine Familie zusammen. Die Beziehungen zwischen dem Kläger und Lars gestalten sich ähnlich wie die zwischen einem Kind und seinem Vater. Dieses familienähnliche Band ist nach den Feststellungen in dem angefochtenen Urteil auch auf Dauer angelegt. Auf diese wirklichen Umstände kommt es aber bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG aF allein an. Die enge Beziehung zwischen Lars und dem Kläger ist tatsächlicher Natur und wird nicht dadurch ungeschehen, daß das Kind ein ungebrochenes Verhältnis zu seiner Mutter behalten hat. Auch bei einer bestehenden Familie existieren Bande zwischen dem Kind und beiden Elternteilen. Wenn das Gesetz in § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG aF ein familienähnliches Band verlangt, so wird also im Gegensatz zur Auffassung der Beklagten nicht vorausgesetzt, daß ein familienhaftes Verhältnis des Kindes zu einem Elternteil nicht mehr besteht.

Unter den dargelegten rechtlichen Voraussetzungen kommt es demgemäß allein noch auf die Beantwortung der Frage an, ob der Kläger Lars in seinen Haushalt aufgenommen hat. Für das Tatbestandsmerkmal der Aufnahme in den Haushalt sind die tatsächlichen Umstände maßgebend, unter denen das Kind lebt, wo es untergebracht ist und wo es betreut wird. Anders als bei ehelichen Kindern verlangt das Gesetz - offenbar wegen des fehlenden Verwandtschaftsverhältnisses - bei Pflegekindern eine Aufnahme in den Haushalt, weil nur bei ehelichen Kindern oder gleichartigen Kindschaftsverhältnissen unterstellt wird, daß die Kinder persönlich betreut werden. Hierin wird die Zielsetzung des Kindergeldrechts deutlich, die in der Begünstigung der Familien besteht, in denen Kinder dauernd leben. Derjenige, der Kindern eine Heimstatt bietet und sich um ihr persönliches Wohl sowie um ihre Erziehung kümmert, soll für die damit verbundenen finanziellen, mindestens aber persönlichen Opfer einen Ausgleich von der Gesellschaft erhalten (BVerfGE 22, 163, 169, 173; BSG SozR 5870 § 3 Nr 3). Der Kläger hat Lars in diesem Sinne in seinen Haushalt aufgenommen. Das hat das LSG festgestellt. Er lebt mit ihm nicht nur räumlich zusammen, sondern versorgt und betreut das Kind auch persönlich (vgl BSGE 20, 91, 93; 33, 105, 106). Lars wird wie "zur Familie gehörig" angesehen und behandelt (vgl BSG SozR 5870 § 2 Nr 54).

Unter diesen tatsächlichen Umständen ist es, wie schon SG und LSG ausführlich dargelegt haben, gleichgültig, daß der Haushalt, in welchem Lars aufgenommen worden ist, nicht der alleinige Haushalt seiner Mutter, der Beigeladenen zu 1), ist, sondern vielmehr der gemeinschaftliche Haushalt des Klägers und der Beigeladenen zu 1). Dies folgt aus § 3 Abs 2 Satz 2 BKGG. Danach kann ein leiblicher Elternteil ebenso wie ein Pflegeelternteil kindergeldberechtigt sein, wenn beide zusammen in einem gemeinsamen Haushalt leben. Die Vorschrift bestimmt die Rangfolge, welche gegeben ist, wenn ein Pflegeelternteil und ein Elternteil in einem gemeinsamen Haushalt mit dem Kind leben. Diese Regelung hätte aber keinen Sinn, wenn sich schon aus der Bestimmung des Begriffs der Haushaltsaufnahme ergäbe, daß ein Kind nicht in den Haushalt eines Pflegeelternteiles aufgenommen sein kann, wenn in diesem Haushalt auch ein leiblicher Elternteil mitwohnt. Ebenso wie bei leiblichen Eltern setzt demgemäß ein Pflegekindschaftsverhältnis iS von § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG aF nicht voraus, daß das Kind aus dem Obhuts- und Fürsorgeverhältnis zu dem (anderen) leiblichen Elternteil ausgeschieden ist.

Allerdings hat das BSG bereits mehrfach entschieden, daß die Aufnahme in den Haushalt eines Großvaters nicht gegeben ist, wenn das Enkelkind zusammen mit seiner Mutter beim Großvater oder bei den Großeltern lebt (zuletzt Urteil vom 8. Mai 1981 - Az.: 5b RJ 56/81 - mwN). Ob diese Rechtsprechung der Vorschrift des § 3 Abs 2 Satz 2 BKGG gerecht wird, kann hier offenbleiben. Das BSG hat sie nämlich auf einen Sachverhalt wie den vorliegenden ausdrücklich nicht angewendet. Wie schon das LSG dargelegt hat, unterscheidet das BSG in seiner Rechtsprechung zwischen der Aufnahme in den Haushalt des Großvaters und den eines Stiefelternteiles. Wird ein Kind in die Wohnung eines Stiefelternteiles aufgenommen, so kann eine Aufnahme in den Haushalt iS des § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG auch dann vorliegen, wenn in demselben Haushalt die Mutter des Kindes wohnt (BSGE 20, 26, 27).

Von dieser Rechtsprechung abzuweichen, besteht auch aus den in dem angefochtenen Urteil näher dargelegten sonstigen Gründen keine Veranlassung. In diesem Zusammenhang ist auch gleichgültig, ob Vorschriften anderer Rechtsgebiete eine andere Auslegung des Begriffes Haushaltsaufnahme verlangen. Für den Bereich des Steuerrechts verlangen die inhaltlich veränderten Vorschriften seit dem Einkommensteuergesetz 1986 eine abweichende Auslegung (vgl BFH BStBl 1989 Teil II S 680 ff). Für den Bereich des Kindergeldrechts gilt jedenfalls die besondere Vorschrift des § 3 Abs 2 Satz 2 BKGG.

Die unbegründete Revision war zurückzuweisen.

Die Kostentscheidung beruht auf § 193 SGG. Der Senat war nicht gehindert, der Beigeladenen zu 1) auch die außergerichtlichen Kosten der Vorinstanzen zuzusprechen (BSG SozR 4100 § 141b Nr 40).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655522

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt TVöD Office Professional. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge