Verfahrensgang

SG Duisburg (Urteil vom 30.04.1996)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 30. April 1996 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der Kläger leidet an einer dialysepflichtigen Niereninsuffizienz. Die dreimal wöchentlich erforderliche Dialysebehandlung wird in einer ca zehn Kilometer von seiner Wohnung entfernten Dialysepraxis durchgeführt, die wegen unzureichender Verkehrsverbindungen nur mit einem Privat-PKW erreicht werden kann. Aufgrund einer Empfehlung ihres Bundesverbandes übernahm die beklagte Betriebskrankenkasse ab Dezember 1993 zunächst die Kosten für die Fahrten zur Dialysebehandlung. Nachdem das Bundesministerium für Gesundheit den Bundesverband der Betriebskrankenkassen durch Aufsichtsanordnung vom 9. Mai 1995 zu einer Korrektur seiner Empfehlung verpflichtet hatte, teilte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 16. Juni 1995 mit, daß die Kostenbefreiung am 19. Juni 1995 ende. Nach der für sie verbindlichen Rechtsauffassung der Aufsichtsbehörde sei eine Übernahme der Fahrkosten auf der Grundlage des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) nicht möglich, weil die Dialyseversorgung in der Regel ambulant durchgeführt werde und nicht als teilstationäre Krankenhausbehandlung gewertet werden könne. Eine Kostenbefreiung komme deshalb nur im Rahmen der Härtefallregelungen der §§ 61 und 62 SGB V in Betracht.

Auf die nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) den Bescheid vom 16. Juni 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. November 1995 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Kosten für Fahrten zur Dialysebehandlung über den 19. Juni 1995 hinaus zu erstatten (Urteil vom 30. April 1996). Die Bestimmung des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V erfasse zwar Fälle der in Rede stehenden Art nicht unmittelbar, denn sie setze nach ihrem Wortlaut voraus, daß durch die in Anspruch genommene ambulante Behandlung eine an sich gebotene vollstationäre oder teilstationäre Behandlung vermieden werde, was bei der Dialyse nicht der Fall sei. In der fehlenden Einbeziehung der Dialysebehandlung in die Regelung über Fahrkostenerstattungen sei jedoch eine planwidrige Gesetzeslücke zu sehen, die durch eine analoge Anwendung des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V zu schließen sei. Die Dialysebehandlung sei, wenn man ihre zeitliche Dauer und Häufigkeit sowie den erforderlichen personellen und medizinisch-technischen Aufwand in Rechnung stelle, keine ambulante Behandlung im üblichen Sinne, sondern einer teilstationären Behandlung vergleichbar. Nachdem bei anderen ambulanten Serienbehandlungen wie Chemotherapien oder Strahlentherapien die notwendigen Fahrkosten von den Krankenkassen übernommen würden, gebiete der Gleichbehandlungsgrundsatz, den Anwendungsbereich der gesetzlichen Regelung auf Dialysebehandlungen zu erstrecken.

Mit der Sprungrevision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V. Für eine analoge Anwendung dieser Vorschrift auf andere als die ausdrücklich geregelten Fälle sei kein Raum, denn der Gesetzgeber habe die Privilegierung hinsichtlich der Fahrkostenerstattung bewußt auf solche ambulanten Behandlungen beschränkt, durch die ein an sich notwendiger stationärer Krankenhausaufenthalt vermieden oder verkürzt werde. Da dies bei Dialysebehandlungen nicht der Fall sei, erweise sich auch der vom SG vorgenommene Vergleich mit chemotherapeutischen oder strahlentherapeutischen Serienbehandlungen als verfehlt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 30. April 1996 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Sprungrevision der Beklagten ist zulässig. Dem steht nicht entgegen, daß der Beschluß über die Zulassung der Revision entgegen den prozessualen Erfordernissen von der Vorsitzenden der zuständigen Kammer des SG allein ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter gefällt worden ist. Das Revisionsgericht ist nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im Hinblick auf die Regelung des § 161 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auch an eine in dieser Weise prozeßordnungswidrig getroffene Zulassungsentscheidung gebunden (Beschluß des Großen Senats vom 18. November 1980 – BSGE 51, 23 = SozR 1500 § 161 Nr 27).

Die Revision ist auch begründet.

Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und hätte nicht aufgehoben werden dürfen. Das geltende Recht läßt entgegen der Auffassung des SG eine Übernahme der dem Kläger im Zusammenhang mit Dialysebehandlungen entstehenden Fahrkosten durch die Krankenkasse nicht zu.

Zu der Frage, ob und inwieweit die durch eine Krankenbehandlung verursachten Fahrkosten zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung gehören, trifft das Gesetz eine differenzierende Regelung: Nach der Grundnorm des § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V sind diese Kosten von der Krankenkasse nur bei bestimmten, in der Vorschrift genannten Sachverhalten zu tragen, während sie im übrigen dem Verantwortungsbereich des Versicherten zugerechnet werden. Demgegenüber hat die Kasse nach § 60 Abs 2 Satz 2 SGB V unabhängig von der Art der Leistung einzutreten, wenn die Kosten den Versicherten unzumutbar belasten würden, sei es, daß er wegen seines geringen Einkommens überhaupt keine Eigenleistungen erbringen kann (§ 61 SGB V) oder daß die entstehenden Aufwendungen eine von der Einkommenshöhe abhängige Grenze der zumutbaren Eigenbelastung überschreiten (§ 62 SGB V). Gemäß § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V übernimmt die Kasse die einen Betrag von 20,00 DM je Fahrt übersteigenden Fahrkosten bei Fahrten zu einer stationären Behandlung (Nr 1), bei Rettungsfahrten (Nr 2), bei Krankentransporten (Nr 3) sowie bei Fahrten zu einer ambulanten Krankenbehandlung einschließlich einer Behandlung nach § 115a oder § 115b SGB V, wenn dadurch eine an sich gebotene vollstationäre oder teilstationäre Krankenhausbehandlung vermieden oder verkürzt wird oder diese nicht ausführbar ist (Nr 4).

Da die Dialysebehandlungen des Klägers ambulant durchgeführt werden und keinen qualifizierten Krankentransport iS der Nr 3 erfordern, kommt als Grundlage des geltend gemachten Anspruchs allein § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V in Betracht. Wie das SG richtig erkannt hat, sind die Voraussetzungen dieser Vorschrift jedoch nicht erfüllt; denn die Dialyse gehört nicht zu den Leistungen, durch die eine “an sich gebotene” stationäre Krankenhausbehandlung vermieden oder verkürzt wird. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob mit dieser Wendung nur Ausnahmefälle erfaßt werden sollen, in denen eine aus medizinischer Sicht eigentlich notwendige stationäre Behandlung aus besonderen Gründen ambulant vorgenommen wird (so wohl Krauskopf, Soziale Krankenversicherung und Pflegeversicherung, Stand Juni 1996, § 60 SGB V RdNr 16), oder ob darunter, wofür die Einbeziehung der Leistungen nach § 115b SGB V spricht, auch solche Behandlungen fallen, die zwar bisher (noch) überwiegend stationär erfolgen, grundsätzlich aber auch ambulant durchführbar sind und durchgeführt werden. Nachdem Dialysebehandlungen regelmäßig ambulant erbracht werden und allenfalls beim Auftreten von Komplikationen eine stationäre Aufnahme nach sich ziehen, werden sie vom Regelungsgehalt des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V in keinem Fall erfaßt.

Entgegen der Rechtsauffassung des SG kann § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V nicht auf Fahrten zur Dialysebehandlung analog angewandt werden. Eine Erstreckung des Anwendungsbereichs der Vorschrift auf weitere, nicht ausdrücklich genannte Fälle einer ambulanten Behandlung käme nur in Betracht, wenn die getroffene Regelung gemessen an den mit ihr verfolgten Zielen unvollständig wäre und durch die Einbeziehung ähnlicher, vom Gesetzeszweck ebenfalls erfaßter Sachverhalte ergänzt werden müßte. Für die Annahme einer solchen planwidrigen Gesetzeslücke ist indessen nach dem Inhalt der Vorschrift und der ihr zugrundeliegenden Regelungsabsicht kein Raum.

Bereits die Tatsache, daß das Gesetz die Übernahme der durch eine medizinische Behandlung verursachten Fahrkosten durch die Krankenkasse auf bestimmte, genau umschriebene Sachverhalte beschränkt und den Versicherten im übrigen in § 60 Abs 2 Satz 2 SGB V auf die Härteklauseln der §§ 61 und 62 SGB V verweist, macht deutlich, daß die Regelung Ausnahmecharakter hat und die privilegierten Tatbestände abschließend erfassen will. Dies wird durch die Rechtsentwicklung bestätigt. Während der frühere, am 31. Dezember 1988 außer Kraft getretene § 194 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) noch generell die Erstattung der im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse erforderlichen Fahr-, Verpflegungs- und Übernachtungskosten einschließlich eines notwendigen Gepäcktransports vorgesehen hatte, hat das Gesundheits-Reformgesetz (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I S 2477) die Ansprüche auf Reisekostenerstattung drastisch eingeschränkt. Seither werden nur noch Fahrkosten und auch diese nur in besonderen Fällen übernommen. Die Fahrkosten zu einer ambulanten Behandlung hat der Versicherte grundsätzlich selbst zu tragen. Ausgenommen hiervon waren nach der ursprünglichen, auf dem GRG beruhenden Fassung des § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V nur Rettungsfahrten zum Krankenhaus und Krankentransporte in einem speziellen Krankentransportfahrzeug. Der Gesetzgeber war der Auffassung, daß einerseits die starke, durch eine weitgehend unkritische Verordnung von Krankenfahrten seitens der Ärzte und Krankenhäuser mitverursachte Kostenbelastung der Krankenkassen finanziell nicht länger vertretbar, andererseits angesichts des hohen Grades der Motorisierung und des zumindest im städtischen Bereich dichten Netzes öffentlicher Verkehrsmittel eine umfassende Kostenübernahme auch nicht zwingend geboten sei (Regierungsentwurf zum GRG, BR-Drucks 200/88 S 186 Begr zu § 68). Das Gesundheits-Strukturgesetz (GSG) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I S 2266) hat den Katalog der zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung zählenden Fahrkosten um den Tatbestand des jetzigen § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V erweitert, ohne das der Vorschrift zugrundeliegende Regel-Ausnahmeprinzip aufzugeben. Angesichts dessen ist nicht zweifelhaft, daß die Aufzählung der für eine Kostenerstattung in Frage kommenden Fälle abschließend sein soll.

Der Annahme einer unbeabsichtigten Regelungslücke als Voraussetzung für eine analoge Anwendung des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V auf Fahrten zu Dialysebehandlungen steht aber vor allem der aus der Entstehungsgeschichte ersichtliche Zweck dieser Vorschrift entgegen. Im Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und F.D.P. vom 5. November 1992 (BT-Drucks 12/3608 S 82) ist ihre Einführung damit begründet worden, daß dadurch Anreize zur Vermeidung oder Verkürzung einer stationären Behandlung geschaffen werden sollten. Im Unterschied zu den in § 60 Abs 2 Satz 1 Nrn 1 bis 3 SGB V genannten Sachverhalten, bei denen die überdurchschnittliche Höhe der zu erwartenden Kosten den Grund für die Ausnahmeregelung abgibt, ging es bei den Behandlungsfällen nach Nr 4 darum, das Ziel einer Verlagerung von Leistungen aus dem stationären in den ambulanten Bereich nicht durch eine Schlechterstellung der ambulanten Behandlungsalternativen bei der Fahrkostenerstattung zu gefährden. Mit Blick auf diese gesetzgeberische Absicht sind Dialysebehandlungen den in § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V aufgeführten Behandlungen von vornherein nicht vergleichbar, so daß es insoweit an einem analogiefähigen Tatbestand fehlt. Diese Konsequenz ist im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich gesehen und gebilligt worden. Der Ausschuß für Gesundheit des Deutschen Bundestages, auf dessen Beschlußempfehlung vom 7. Dezember 1992 (BT-Drucks 12/3930 S 17) der endgültige Text der Vorschrift zurückgeht, hat in seinem Bericht vom 8. Dezember 1992 (BT-Drucks 12/3937 S 12) wörtlich ausgeführt: “Für Leistungen, die grundsätzlich ambulant erbracht werden (zB Dialysebehandlungen) bringt die Neuregelung keine Änderung gegenüber dem bisherigen Recht, da bei solchen Behandlungen stationäre oder teilstationäre Krankenhauspflege nicht erforderlich ist und damit auch nicht vermieden werden kann.” Das Problem der Fahrkosten bei Dialysebehandlungen und allgemein bei ambulanten Dauer- oder Serienbehandlungen war dem Gesetzgeber demnach bekannt und sollte bewußt nicht in dem vom Kläger befürworteten Sinne einer Einbeziehung dieser Leistungen in die Kostenerstattungsregelung gelöst werden.

Fehlt es somit an der vom SG angenommenen Regelungslücke, so kann auch der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 Grundgesetz nicht zur Begründung des geltend gemachten Anspruchs herangezogen werden. Abgesehen davon, daß die gesetzliche Regelung gegen den erklärten Willen des Gesetzgebers auch im Wege einer verfassungskonformen Auslegung nicht auf Fahrten zu Dialysebehandlungen erstreckt werden könnte (vgl dazu BVerfGE 8, 28, 34; 70, 35, 63 f mwN; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl, RdNr 80), gibt es für die Privilegierung der in § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V genannten Tatbestände hinreichende sachliche Gründe. Daß Dialysebehandlungen auf der einen und die in § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V aufgeführten ambulanten Leistungen auf der anderen Seite in bezug auf die Erstattung von Fahrkosten unterschiedlich behandelt werden, ist angesichts des mit der genannten Vorschrift verfolgten Zwecks sachgerecht. Der Umstand, daß die Dialyse wegen der Häufigkeit und der Zeitdauer der Behandlung sowie des erforderlichen personellen und medizinisch-technischen Aufwands einer teilstationären Behandlung vergleichbar sein mag, zwingt auch nicht dazu, sie hinsichtlich der Übernahme von Fahrkosten einer stationären Therapie iS des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V gleichzusetzen. Anders als in den Fällen des § 60 Abs 2 Satz 1 Nrn 1 bis 3 SGB V, in denen es darum geht, den Versicherten von dem Risiko einer einmaligen hohen Kostenbelastung freizustellen, verteilen sich die – in der Summe unter Umständen ebenfalls hohen – Fahrkosten bei Dialysebehandlungen regelmäßig über einen längeren Zeitraum. Insoweit wird durch die Regelung in § 62 Abs 1 SGB V sichergestellt, daß die finanzielle Gesamtbelastung des Versicherten durch Fahrkosten sowie Zuzahlungen zu Arznei-, Verband- und Heilmitteln längerfristig nicht über einen zumutbaren Eigenanteil hinaus anwächst. Im Hinblick auf diese Unterschiede und bei Berücksichtigung der Härtefallregelung ist die Differenzierung zwischen Fahrten zur stationären Behandlung auf der einen und den auf lange Sicht vergleichbar kostenaufwendigen Fahrten zu einer ambulanten Langzeitbehandlung auf der anderen Seite verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Das angefochtene Urteil konnte nach alledem keinen Bestand haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1058857

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