Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Fahrkosten. ambulante Dialysebehandlung. Härtefallregelung
Leitsatz (amtlich)
Kosten für Fahrten zur ambulanten Dialysebehandlung können von der Krankenkasse nur nach Maßgabe der Härtefallregelungen der §§ 61 und 62 SGB 5 übernommen werden.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
SGB V § 60 Abs. 2 S. 1 Nrn. 4, 1, § 61 Abs. 1 Nr. 3, § 62 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. September 1996 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der 1938 geborene Kläger leidet an einer Niereninsuffizienz, derentwegen er sich seit Dezember 1993 zwei- bis dreimal wöchentlich einer Dialysebehandlung unterziehen muß. Für die Fahrten zwischen seiner Wohnung in Wilhelmshaven und dem Dialysezentrum in Jever benötigt er ein Taxi. Die beklagte Ersatzkasse übernahm aufgrund der Härtefallregelung des § 62 Abs 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) für 1994 den die Belastungsgrenze übersteigenden Teil der notwendigen Fahrkosten. Eine darüber hinausgehende, generelle Kostenübernahme nach Maßgabe des § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V lehnte sie ab, weil die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht erfüllt seien (Bescheid vom 9. März 1994; Widerspruchsbescheid vom 9. September 1994).
Klage und Berufung des Klägers sind ohne Erfolg geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat im Urteil vom 26. September 1996 ausgeführt, auf § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V lasse sich der geltend gemachte Anspruch nicht stützen. Diese Bestimmung sehe bei Fahrten zu einer ambulanten Krankenbehandlung eine Kostenübernahme nur für den Fall vor, daß dadurch eine an sich gebotene vollstationäre oder teilstationäre Krankenhausbehandlung vermieden werde. Dialysebehandlungen würden aber regelmäßig ambulant durchgeführt, so daß der angesprochene Gesichtspunkt bei ihnen nicht zum Tragen komme. Da die Regelung in § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V vom Gesetzgeber bewußt eng gefaßt worden sei, scheide auch eine analoge Anwendung der Bestimmung auf andere, vom Wortlaut nicht erfaßte Tatbestände aus. Das Gleichbehandlungsgebot des Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG) werde durch die Nichteinbeziehung der Dialysebehandlungen in die gesetzliche Regelung nicht verletzt.
Mit der Revision macht der Kläger geltend, die Dialyse müsse im Hinblick auf den damit verbundenen zeitlichen, personellen und medizinisch-technischen Aufwand einer teilstationären Behandlung gleichgesetzt werden. Der Gleichbehandlungsgrundsatz gebiete, daß bei Dialysepatienten ebenso wie bei anderen Schwerkranken die mit der medizinischen Versorgung in Zusammenhang stehenden Fahrkosten von der Krankenkasse getragen werden.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. September 1996 und des Sozialgerichts Oldenburg vom 25. Oktober 1995 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 9. Mai 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. September 1994 zu verurteilen, ihm den Eigenanteil an den Fahrkosten zu Dialysebehandlungen ab April 1994 zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist nicht begründet.
Zwischen den Beteiligten besteht Übereinstimmung, daß die Beklagte die Kosten des Klägers für Fahrten zur Dialysebehandlung nach der Härtefallregelung des § 62 Abs 1 SGB V insoweit zu tragen hat, als sie die dort festgelegte individuelle Belastungsgrenze übersteigen. Eine darüber hinausgehende, generelle Übernahme dieser Kosten, wie sie der Kläger begehrt, läßt das geltende Recht nicht zu. Die klageabweisenden Urteile der Vorinstanzen sind deshalb zu bestätigen.
Zu der Frage, ob und inwieweit die durch eine Krankenbehandlung verursachten Fahrkosten zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung gehören, trifft das Gesetz eine differenzierende Regelung: Nach der Grundnorm des § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V sind diese Kosten von der Krankenkasse nur bei bestimmten, in der Vorschrift genannten Sachverhalten zu tragen, während sie im übrigen dem Verantwortungsbereich des Versicherten zugerechnet werden. Demgegenüber hat die Kasse nach § 60 Abs 2 Satz 2 SGB V unabhängig von der Art der Leistung einzutreten, wenn die Kosten den Versicherten unzumutbar belasten würden, sei es, daß er wegen seines geringen Einkommens überhaupt keine Eigenleistungen erbringen kann (§ 61 SGB V) oder daß die entstehenden Aufwendungen eine von der Einkommenshöhe abhängige Grenze der zumutbaren Eigenbelastung überschreiten (§ 62 SGB V). Gemäß § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V übernimmt die Krankenkasse die einen Betrag von 20,00 DM je Fahrt übersteigenden Fahrkosten bei Fahrten zu einer stationären Behandlung (Nr 1), bei Rettungsfahrten (Nr 2), bei Krankentransporten (Nr 3) sowie bei Fahrten zu einer ambulanten Krankenbehandlung einschließlich einer Behandlung nach § 115a oder § 115b SGB V, wenn dadurch eine an sich gebotene vollstationäre oder teilstationäre Krankenhausbehandlung vermieden oder verkürzt wird oder diese nicht ausführbar ist (Nr 4).
Da die Dialysebehandlungen des Klägers ambulant durchgeführt werden und keinen qualifizierten Krankentransport iS der Nr 3 erfordern, kommt als Grundlage des geltend gemachten Anspruchs allein § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V in Betracht. Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, sind die Voraussetzungen dieser Vorschrift jedoch nicht erfüllt; denn die Dialyse gehört nicht zu den Leistungen, durch die eine „an sich gebotene” stationäre Krankenhausbehandlung vermieden oder verkürzt wird. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob mit dieser Wendung nur Ausnahmefälle erfaßt werden sollen, in denen eine aus medizinischer Sicht eigentlich notwendige stationäre Behandlung aus besonderen Gründen ambulant vorgenommen wird (so wohl Krauskopf, Soziale Krankenversicherung und Pflegeversicherung, Stand Juni 1996, § 60 SGB V RdNr 16), oder ob darunter, wofür die Einbeziehung der Leistungen nach § 115b SGB V spricht, auch solche Behandlungen fallen, die zwar bisher (noch) überwiegend stationär erbracht werden, grundsätzlich aber auch ambulant durchführbar sind und durchgeführt werden. Nachdem Dialysebehandlungen regelmäßig ambulant erbracht werden und allenfalls beim Auftreten von Komplikationen eine stationäre Aufnahme nach sich ziehen, werden sie vom Regelungsgehalt des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V in keinem Fall erfaßt.
Mit Recht hat es das LSG auch abgelehnt, § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V auf Fahrten zur Dialysebehandlung analog anzuwenden. Eine Erstreckung des Anwendungsbereichs der Vorschrift auf weitere, nicht ausdrücklich genannte Fälle einer ambulanten Behandlung käme nur in Betracht, wenn die getroffene Regelung gemessen an den mit ihr verfolgten Zielen unvollständig wäre und durch die Einbeziehung ähnlicher, vom Gesetzeszweck ebenfalls erfaßter Sachverhalte ergänzt werden müßte. Für die Annahme einer solchen planwidrigen Gesetzeslücke ist indessen nach dem Inhalt der Vorschrift und der ihr zugrundeliegenden Regelungsabsicht kein Raum.
Bereits die Tatsache, daß das Gesetz die Übernahme der durch eine medizinische Behandlung verursachten Fahrkosten durch die Krankenkasse auf bestimmte, genau umschriebene Sachverhalte beschränkt und den Versicherten im übrigen in § 60 Abs 2 Satz 2 SGB V auf die Härteklauseln der §§ 61 und 62 SGB V verweist, macht deutlich, daß die Regelung Ausnahmecharakter hat und die privilegierten Tatbestände abschließend erfassen will. Dies wird durch die Rechtsentwicklung bestätigt. Während der frühere, am 31. Dezember 1988 außer Kraft getretene § 194 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) noch generell die Erstattung der im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse erforderlichen Fahr-, Verpflegungs- und Übernachtungskosten einschließlich eines notwendigen Gepäcktransports vorgesehen hatte, hat das Gesundheits-Reformgesetz (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I S 2477) die Ansprüche auf Reisekostenerstattung drastisch eingeschränkt. Seither werden nur noch Fahrkosten und auch diese nur in besonderen Fällen übernommen. Die Fahrkosten zu einer ambulanten Behandlung hat der Versicherte grundsätzlich selbst zu tragen. Ausgenommen hiervon waren nach der ursprünglichen, auf dem GRG beruhenden Fassung des § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V nur Rettungsfahrten zum Krankenhaus und Krankentransporte in einem speziellen Krankentransportfahrzeug. Der Gesetzgeber war der Auffassung, daß einerseits die starke, durch eine weitgehend unkritische Verordnung von Krankenfahrten seitens der Ärzte und Krankenhäuser mitverursachte Kostenbelastung der Krankenkassen finanziell nicht länger vertretbar, andererseits angesichts des hohen Grades der Motorisierung und des zumindest im städtischen Bereich dichten Netzes öffentlicher Verkehrsmittel eine umfassende Kostenübernahme auch nicht zwingend geboten sei (Regierungsentwurf zum GRG, BR-Drucks 200/88 S 186 Begr zu § 68). Das Gesundheits-Strukturgesetz (GSG) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I S 2266) hat den Katalog der zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung zählenden Fahrkosten um den Tatbestand des jetzigen § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V erweitert, ohne das der Vorschrift zugrundeliegende Regel-Ausnahmeprinzip aufzugeben. Angesichts dessen ist nicht zweifelhaft, daß die Aufzählung der für eine Kostenerstattung in Frage kommenden Fälle abschließend sein soll.
Der Annahme einer unbeabsichtigten Regelungslücke als Voraussetzung für eine analoge Anwendung des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V auf Fahrten zu Dialysebehandlungen steht aber vor allem der aus der Entstehungsgeschichte ersichtliche Zweck dieser Vorschrift entgegen. Im Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und F.D.P. vom 5. November 1992 (BT-Drucks 12/3608 S 82) ist ihre Einführung damit begründet worden, daß dadurch Anreize zur Vermeidung oder Verkürzung einer stationären Behandlung geschaffen werden sollten. Im Unterschied zu den in § 60 Abs 2 Satz 1 Nrn 1 bis 3 SGB V genannten Sachverhalten, bei denen die überdurchschnittliche Höhe der zu erwartenden Kosten den Grund für die Ausnahmeregelung abgibt, ging es bei den Behandlungsfällen nach Nr 4 darum, das Ziel einer Verlagerung von Leistungen aus dem stationären in den ambulanten Bereich nicht durch eine Schlechterstellung der ambulanten Behandlungsalternativen bei der Fahrkostenerstattung zu gefährden. Mit Blick auf diese gesetzgeberische Absicht sind Dialysebehandlungen den in § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V aufgeführten Behandlungen von vornherein nicht vergleichbar, so daß es insoweit an einem analogiefähigen Tatbestand fehlt. Diese Konsequenz ist im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich gesehen und gebilligt worden. Der Ausschuß für Gesundheit des Deutschen Bundestages, auf dessen Beschlußempfehlung vom 7. Dezember 1992 (BT-Drucks 12/3930 S 17) der endgültige Text der Vorschrift zurückgeht, hat in seinem Bericht vom 8. Dezember 1992 (BT-Drucks 12/3937 S 12) wörtlich ausgeführt: „Für Leistungen, die grundsätzlich ambulant erbracht werden (zB Dialysebehandlungen) bringt die Neuregelung keine Änderung gegenüber dem bisherigen Recht, da bei solchen Behandlungen stationäre oder teilstationäre Krankenhauspflege nicht erforderlich ist und damit auch nicht vermieden werden kann.” Das Problem der Fahrkosten bei Dialysebehandlungen und allgemein bei ambulanten Dauer- oder Serienbehandlungen war dem Gesetzgeber demnach bekannt und sollte bewußt nicht in dem von der Revision befürworteten Sinne einer Einbeziehung dieser Leistungen in die Kostenerstattungsregelung gelöst werden.
Zu Unrecht beruft sich der Kläger für seinen Rechtsstandpunkt auf den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG. Abgesehen davon, daß die gesetzliche Regelung gegen den erklärten Willen des Gesetzgebers auch im Wege einer verfassungskonformen Auslegung nicht auf Fahrten zu Dialysebehandlungen erstreckt werden könnte (vgl dazu BVerfGE 8, 28, 34; 70, 35, 63 f mwN; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl, RdNr 80), gibt es für die Privilegierung der in § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V genannten Tatbestände hinreichende sachliche Gründe. Daß Dialysebehandlungen auf der einen und die in § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V aufgeführten ambulanten Leistungen auf der anderen Seite in bezug auf die Erstattung von Fahrkosten unterschiedlich behandelt werden, ist angesichts des mit der genannten Vorschrift verfolgten Zwecks sachgerecht. Der Umstand, daß die Dialyse wegen der Häufigkeit und der Zeitdauer der Behandlung sowie des erforderlichen personellen und medizinisch-technischen Aufwands einer teilstationären Behandlung vergleichbar sein mag, zwingt auch nicht dazu, sie hinsichtlich der Übernahme von Fahrtkosten einer stationären Therapie iS des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V gleichzusetzen. Anders als in den Fällen des § 60 Abs 2 Satz 1 Nrn 1 bis 3 SGB V, in denen es darum geht, den Versicherten von dem Risiko einer einmaligen hohen Kostenbelastung freizustellen, verteilen sich die – in der Summe unter Umständen ebenfalls hohen – Fahrkosten bei Dialysebehandlungen regelmäßig über einen längeren Zeitraum. Insoweit wird jedoch durch die Regelung in § 62 Abs 1 SGB V sichergestellt, daß die finanzielle Gesamtbelastung des Versicherten durch Fahrkosten sowie Zuzahlungen zu Arznei-, Verband- und Heilmitteln längerfristig nicht über einen zumutbaren Eigenanteil hinaus anwächst. Im Hinblick auf diese Unterschiede und bei Berücksichtigung der Härtefallregelung ist die Differenzierung zwischen Fahrten zur stationären Behandlung auf der einen und den auf lange Sicht vergleichbar kostenaufwendigen Fahrten zu einer ambulanten Langzeitbehandlung auf der anderen Seite verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen
NJW 1997, 3116 |
SozR 3-2500 § 60, Nr.1 |
SozSi 1997, 435 |