Entscheidungsstichwort (Thema)

Thrombozytenzählung. Honorarberichtigung. neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. ärztliche Therapiefreiheit

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Berechtigung der Kassenärztlichen Vereinigung, einzelne vertragsärztliche Leistungen, die den Inhalt einer Position der Vertragsgebührenordnungen erfüllen, von der Honorierung auszuschließen, wenn die Leistungen im Rahmen einer nicht allgemein üblichen Diagnosemethode erbracht werden.

 

Normenkette

BMV-Ä § 40 (Fassung: 1.10.1990); EKV-Ä § 21 Abs. 7 (Fassung: 1.10.1990); SGB X § 45; SGB V § 70 Abs. 1, § 72 Abs. 2, § 135 Abs. 1; BMÄ Nr. 3512; E-GO Nr. 3512

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 13.09.1995; Aktenzeichen L 5 Ka 13/94)

SG Mainz (Urteil vom 26.01.1994; Aktenzeichen S 2 Ka 99/93)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. September 1995 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten im Honorarberichtigungsverfahren über die Berechtigung der Beklagten, aus der Honorarabrechnung der als Hautärztin niedergelassenen Klägerin im Quartal IV/92 (Primärkassen und Ersatzkassen) die Leistungen nach Nr 3512 Bewertungsmaßstab für kassenärztliche Leistungen/Ersatzkassen-Gebührenordnung (BMÄ/E-GO) ≪Thrombozytenzählung≫ zu streichen. Die Klägerin brachte die Nr 3512 BMÄ/E-GO im streitbefangenen Quartal in 76 Behandlungsfällen in der Weise zum Ansatz, daß sie einmal vor und fünfmal in bestimmten Zeitabständen nach oraler oder bronchialer Provokation die Thrombozyten des Patienten zählte, um aus der Veränderung ihrer Zahl Schlüsse auf das Vorliegen einer allergischen Reaktion im Hautbereich ziehen zu können (“thrombopenischer Index”). Die Beklagte beanstandete diese Abrechnung mit der Begründung, der thrombopenische Index sei als eigenständige Leistung in den Vertragsgebührenordnungen nicht aufgeführt, so daß eine im Zusammenhang mit dieser Untersuchungsmethode erbrachte Thrombozytenzählung nicht abrechenbar sei (Bescheid vom 14. Juni 1993). Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 3. August 1993).

Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Das Sozialgericht (SG) hat festgestellt, die Beklagte habe Recht mit ihrer Auffassung, daß der Klägerin für die Thrombozytenzählung im Rahmen des thrombopenischen Index kein Honorar für die Erbringung der Leistung Nr 3512 BMÄ/E-GO zustehe, obwohl die Leistung als solche erbracht sei (Urteil vom 24. Januar 1994). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung unter Bezugnahme auf die Vorschrift des § 153 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zurückgewiesen und ergänzend ausgeführt, die von der Klägerin praktizierte Diagnosemethode sei nicht schulmedizinisch anerkannt, was sich schon daraus ergebe, daß die Klägerin die einzige Ärztin ihrer Fachgruppe sei, die dieses Verfahren zum Ansatz bringe. Da der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen für den Einsatz des thrombopenischen Index noch keine Richtlinienempfehlung auf der Grundlage von § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 5 iVm § 135 Abs 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) gegeben habe, sei eine Honorierung der entsprechenden Laborleistungen ausgeschlossen.

Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin, das LSG habe die vom Bundessozialgericht (BSG) aufgestellten Grundsätze zur Auslegung der Vertragsgebührenordnungen nicht richtig angewandt. Sie habe – wie die Beklagte zu keinem Zeitpunkt in Abrede gestellt habe – den Inhalt der Leistung nach Nr 3512 BMÄ/E-GO vollständig und sachgerecht erbracht. Der Wortlaut der Gebührenordnung erhalte keinen Hinweis darauf, daß eine vollständig erbrachte Leistung unter bestimmten Umständen oder im Zusammenhang mit bestimmten Untersuchungsmethoden generell von der Abrechnung ausgeschlossen werden könne. Die vom LSG in diesem Zusammenhang angestellten Überlegungen könnten allenfalls im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung Bedeutung haben.

Weiterhin rügt die Klägerin, das LSG habe den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt. Wenn es richtig sei, daß eine Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) im Rahmen der sachlich-rechnerischen Berichtigung die schulmedizinische Relevanz und Zweckmäßigkeit einer bestimmten Untersuchungsmethode überprüfen dürfe, hätte das LSG ihre Beweisangebote zur Bedeutung und Aussagekraft der Thrombozytenzählung nach oraler oder bronchialer Provokation mit einem Allergen aufgreifen und tatsächlich aufklären müssen, ob es sich insoweit um eine nicht anerkannte Methode bzw um eine echte Außenseitermethode handele.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. September 1995 und des Sozialgerichts Mainz vom 26. Januar 1994 sowie den Bescheid der Beklagten vom 14. Juni 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. August 1993 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin die abgerechneten Thrombozytenzählungen nach Gebührennummer 3512 BMÄ/E-GO zu vergüten,

hilfsweise,

das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. September 1995 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie bleibt bei ihrer Auffassung, daß die Thrombozytenzählung im Rahmen des thrombopenischen Index keine Kassenleistung darstelle und die Klägerin deshalb für diese Leistung kein Honorar beanspruchen könne.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Klägerin ist mit dem Hilfsantrag erfolgreich und führt zur Aufhebung des landessozialgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Auf der Grundlage der Feststellungen des LSG vermag der Senat nicht zu beurteilen, ob die angefochtenen Honorarberichtigungsbescheide rechtmäßig sind oder nicht.

Rechtsgrundlage der Berichtigungsbescheide der Beklagten sind die Vorschriften des § 40 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) und des § 21 Abs 7 Arzt-/ Ersatzkassenvertrag (EKV), jeweils in der ab 1. Oktober 1990 geltenden Fassung. Nach diesen Vorschriften ist die KÄV berechtigt, die Abrechnung der Kassen- bzw Vertragsärzte auf ihre rechnerische und sachliche Richtigkeit zu überprüfen und ggf zu berichtigen. Diese vertraglichen Bestimmungen gehen der gesetzlichen Regelung des § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) vor (BSGE 74, 44 ff = SozR 3-1300 § 45 Nr 21; BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 22). Das Berichtigungsrecht der KÄV erfaßt nicht nur Fehlansätze von Positionen der Gebührenordnung, sondern auch die Abrechnung solcher Leistungen, die der Kassen- bzw Vertragsarzt nach §§ 70 Abs 1, 72 Abs 2 SGB V nicht hat erbringen dürfen, weil sie nicht Gegenstand der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung sind und der Versicherte sie nach § 12 Abs 1 SGB V nicht beanspruchen kann (vgl Senatsurteil vom 12. Oktober 1994 – 6 RKa 18/93 – nicht veröffentlicht, zum Ausschluß eines Honoraranspruchs für mangelhafte Röntgenleistungen). Für Leistungen, die zur Erzielung eines Heilerfolges nicht notwendig oder zweckmäßig sind und/oder dem allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse nicht entsprechen, steht dem Kassen- bzw Vertragsarzt ebensowenig ein Honoraranspruch zu wie für den Einsatz von neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, für die noch keine Richtlinienempfehlung des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen nach § 135 Abs 1 SGB V vorliegt. Werden solche Untersuchungsund Behandlungsmethoden gleichwohl eingesetzt, so sind die zugehörigen Leistungen auch dann nicht vergütungsfähig, wenn sie für sich genommen Gegenstand des vertragsärztlichen Leistungsspektrums sind und im Zusammenhang mit anderen Untersuchungen oder Behandlungen ohne weiteres abgerechnet werden könnten. Allein die Tatsache, daß eine ärztliche Leistung den Inhalt der Leistungslegende einer Ziffer der Gebührenordnung erfüllt, hat nicht zur zwingenden Folge, daß dem Vertragsarzt insoweit ein Honoraranspruch zusteht.

Die Berechtigung der KÄV, auf der Grundlage der Vorschriften des § 70 Abs 1 und § 72 Abs 2 SGB V die Abrechnung bestimmter, in den Gebührenordnungen enthaltener ärztlicher Leistungen zu beanstanden, unterliegt jedoch Einschränkungen zunächst aus kompetenzrechtlichen Gründen. Soweit nämlich die Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Behandlungsweise betroffen ist, besteht nach § 106 Abs 5 SGB V eine abschließende Befugnis der Prüfgremien hinsichtlich der Entscheidung, ob ein Vertragsarzt gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot verstoßen hat oder, nicht. Die KÄV kann nicht von sich aus ärztliche Leistungen im Hinblick auf eine von ihr angenommene Unwirtschaftlichkeit von der Honorierung ausschließen, sondern ist gehalten, auf entsprechende Maßnahmen der Prüfgremien hinzuwirken. Im Rahmen der Honorarberichtigung ist sie, ebenso wie die Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung, verpflichtet, die Diagnose- bzw Therapiefreiheit des Kassen- bzw Vertragsarztes zu respektieren. Grundsätzlich steht dem Arzt die Wahl seiner Untersuchungs- und Behandlungsmethoden frei, und der einzelne Kassen- bzw Vertragsarzt muß die Möglichkeit haben, bei seinen Patienten gerade im diagnostischen Bereich auch Verfahren und Methoden anzuwenden, die die Mehrzahl der Ärzte seiner Fachgruppe nicht, noch nicht oder nur in sehr viel geringerem Umfang zum Einsatz bringt (vgl BSG SozR 2200 § 368n Nr 19 S 53 im Zusammenhang mit der Wirtschaftlichkeitsprüfung). Die Beachtung der ärztlichen Diagnose- bzw Therapiefreiheit im Rahmen von Honorarberichtigungen ist insbesondere dann geboten, wenn sich sowohl das diagnostische Vorgehen des Arztes wie auch das angewandte Untersuchungsverfahren im Rahmen allgemein anerkannter medizinischer Grundsätze halten. Bei dieser Sachlage ist die KÄV im Rahmen der sachlich-rechnerischen Honorarberichtigung nicht berechtigt, solche vertragsärztlichen Leistungen, die unbestritten die Leistungslegende einer Ziffer der Gebührenordnungen erfüllen und die der Vertragsarzt kraft seiner persönlichen Verantwortung für die Behandlung eines Patienten zur Absicherung einer Diagnose für erforderlich hält, generell von der Honorierung auszunehmen. Etwas anderes gilt nur, wenn es sich um eine Leistung handelt, die im konkreten Behandlungszusammenhang in offenkundigem Widerspruch zum Stand der medizinischen Wissenschaft steht oder erkennbar ohne jeden Nutzen erbracht wird. Solange sich für das im Abrechnungsverhalten dokumentierte diagnostische Vorgehen des Kassen- oder Vertragsarztes plausible, medizinisch zumindest nachvollziehbare Gründe benennen lassen, ist der KÄV der Weg der sachlich-rechnerischen Berichtigung verschlossen. Sie ist gegebenenfalls darauf verwiesen, Maßnahmen zur Prüfung der Wirtschaftlichkeit zu beantragen. Bei Beachtung dieses Prüfungsmaßstabs kann gegenwärtig nicht festgestellt werden, daß die Beklagte berechtigt war, der Klägerin das Honorar für die Leistungen nach Nr 3512 BMÄ/E-GO im streitbefangenen Quartal zu versagen.

Das diagnostische Vorgehen der Klägerin beim Verdacht auf das Vorliegen einer allergischen Hauterkrankung hält sich hinsichtlich der einzelnen Untersuchungsschritte grundsätzlich im Rahmen des auch in den Gebührenordnungen zum Ausdruck kommenden Standes der medizinischen Erkenntnisse (§ 72 Abs 2 SGB V) und stellt auch keine “neue Untersuchungsmethode” iS von § 135 Abs 1 SGB V dar. Die Klägerin führt nach ihren eigenen Angaben Provokationstests nach Nrn 355 ff BMÄ/E-GO durch, um auf diese Weise – nicht anders als die Ärzte ihrer Fachgruppe – festzustellen, ob die Haut eines Patienten auf die Provokation mit einem bestimmten Allergen reagiert oder nicht. Auch das laborchemische Verfahren der Thrombozytenzählung (Nr 3512 BMÄ/E-GO) stellt – für sich allein genommen – ein anerkanntes, seit Jahrzehnten praktiziertes Untersuchungsverfahren dar.

Ein Dissens zwischen der Klägerin und der größeren Zahl der Ärzte ihrer Fachgruppe besteht offenbar lediglich insoweit, als die Klägerin der Auffassung ist, das Resultat der mehrfachen Thrombozytenzählung in bestimmten zeitlichen Abständen nach oraler oder bronchialer Provokation gebe zuverlässig Aufschluß darüber, ob eine allergische Körperreaktion erfolgt ist oder nicht. Dieses von ihr zur Absicherung einer Verdachtsdiagnose auf das Vorliegen einer allergischen Erkrankung angewandte Untersuchungsverfahren darf die Klägerin auch im Rahmen der kassen- bzw vertragsärztlichen Versorgung einsetzen, solange nicht feststeht, daß der von ihr unter Hinweis auf zahlreiche wissenschaftliche Publikationen vermutete Zusammenhang zwischen einer allergischen Reaktion und der Veränderung der Thrombozytenzahl aus fachlich-medizinischen Gründen schlechterdings nicht bestehen kann. Zur Begründung dafür, daß dies der Fall ist, reicht entgegen der Annahme des LSG die Feststellung nicht aus, daß andere Ärzte der Fachgruppe der Klägerin eine entsprechende diagnostische Absicherung offenbar nicht für erforderlich oder für möglich halten. Das LSG wird vielmehr den von der Klägerin im Laufe des gerichtlichen Verfahrens wiederholt gegebenen Hinweisen auf medizinische Publikationen der vergangenen 30 Jahre, in denen der von ihr angenommene Zusammenhang bestätigt worden sein soll, nachzugehen haben. Es wird sich gegebenenfalls sachverständiger Hilfe bedienen müssen, um zu klären, ob die Beurteilung der Aussagekraft des thrombopenischen Indexes seitens der Klägerin gänzlich abwegig bzw aus medizinisch-wissenschaftlichen Gründen unhaltbar ist. Wenn sich dafür keine hinreichenden Anhaltspunkte ergeben sollten, sind die angefochtenen Bescheide aufzuheben, denn bloße Meinungsverschiedenheiten im Rahmen der fachlich-medizinischen Beurteilung des diagnostischen Nutzens einer für sich genommen allgemein anerkannten laborchemischen Untersuchung berechtigen die KÄV nicht zur Verweigerung der Honorierung der entsprechenden ärztlichen Leistungen. Gegebenenfalls bleibt der Beklagten die Möglichkeit, die Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise der Klägerin durch die zuständigen Prüfgremien untersuchen zu lassen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sich die Klägerin, die gerade für sich in Anspruch nimmt, dieselben Gesundheitsstörungen wie die Ärztinnen und Ärzte ihrer Fachgruppe mit vergleichbaren Methoden zu diagnostizieren und anschließend zu therapieren, hinsichtlich des wirtschaftlichen Aufwands ihrer Untersuchungsmethoden mit den Ärzten ihrer Fachgruppe vergleichen lassen muß.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 956157

SozSi 1997, 118

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