Orientierungssatz

1. Ein Gehbehinderter, der zur Nachtzeit in eine einsame Gegend gefahren wird, dort ausgesetzt wird und sich im andauernden Zustand der Hilflosigkeit mit Gesundheits- oder Lebensgefahr auf der Flucht vom Ort der Aussetzung zum Rettungsort Sturzverletzungen zuzieht, hat dem Grunde nach Anspruch auf Entschädigung nach § 1 Abs 1 S 1 OEG .

2. Die grundsätzliche Frage, ob auch ein Unterlassen tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG sein kann, kann offenbleiben, weil der Täter die Straftat der Aussetzung nach § 221 Abs 1 StGB in dessen erster Begehungsart durch aktives Tun und nicht als Unterlassungsdelikt begangen hat.

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 24.10.1991)

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. Oktober 1991 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im Revisionsverfahren.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob der Kläger Opfer einer Gewalttat iS des Gewaltopferentschädigungsgesetzes geworden ist, obwohl ihm die Verletzungen nicht beigebracht wurden, sondern zugestoßen sind, als er sich aus der hilflosen Lage zu befreien versuchte, in die ihn der Täter durch eine Straftat – Aussetzung -gebracht hatte.

Am Abend des 25. Mai 1987 versprach der damals 83 Jahre alte Kläger dem R., ihn von L. nach W. zu fahren. Während der Fahrt übernahm R. gewaltsam das Steuer und zwang den Kläger, ihm Brieftasche und Geldbörse auszuhändigen. Gegen 23.00 Uhr setzte R. den auf zwei Unterarmgehstützen angewiesenen Kläger an einsamer Stelle auf unbefestigtem Gelände aus und fuhr mit dessen Auto davon. Der Kläger stürzte bei dem Versuch, festen Weg zu erreichen, wiederholt und zog sich dabei neben Hautabschürfungen und Blutergüssen einen Bruch des linken Ellengelenks zu. Deshalb wurde er anschließend bis zum 4. September 1987 stationär behandelt.

Nach dem rechtskräftigen Strafurteil wurde R. wegen Aussetzung (§ 221 des Strafgesetzbuches ≪StGB≫), räuberischer Erpressung (§ 255 StGB) und wegen räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer (§ 316a StGB) zwar als schuldunfähig freigesprochen, aber wegen Allgemeingefährlichkeit in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht.

Der Beklagte lehnte den Antrag auf Gewaltopferentschädigung mit der Begründung ab, der Kläger sei nicht infolge eines vorsätzlichen tätlichen Angriffs verletzt worden (Bescheid vom 8. Mai 1989 und Widerspruchsbescheid vom 8. Mai 1990). Die Klage hatte Erfolg; die Berufung des Beklagten wurde zurückgewiesen (Urteile des Sozialgerichts Osnabrück vom 14. März 1991 und des Landessozialgerichts Niedersachsen ≪LSG≫ vom 24. Oktober 1991). Das Opferentschädigungsgesetz (OEG) fordere zwar einen zielgerichteten Angriff des Täters auf das Opfer. Dem aktiven Aggressor sei aber entschädigungsrechtlich gleichzustellen, wer – wie hier der Täter R. – pflichtwidrig und zielgerichtet dem Opfer keine Hilfe leiste.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht der Beklagte geltend, es fehle an dem nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG erforderlichen vorsätzlichen tätlichen Angriff. Den R. habe keine Pflicht zur Hilfeleistung aus vorangegangenem Tun getroffen. Er habe auch nicht damit rechnen müssen, daß der ausgesetzte Kläger sich verletzen werde.

Der Beklagte beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. Oktober 1991 und des Sozialgerichts Osnabrück vom 14. März 1991 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben zu Recht entschieden, daß der Kläger dem Grunde nach Anspruch auf Versorgung als Gewaltopfer hat.

Nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG erhält derjenige, der durch einen vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen seine oder eine andere Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Der Kläger ist Opfer eines solchen Angriffs geworden. Die dadurch verursachte Schädigung hat Gesundheitsstörungen zur Folge, für die Versorgung zu gewähren ist.

Entgegen der Ansicht des LSG kann die vom Bundessozialgericht (BSG) noch nicht entschiedene grundsätzliche Frage offenbleiben, ob auch ein Unterlassen tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG sein kann (dagegen Schoreit/Düsseldorf, OEG, 1977, § 1 Rz 63 bis 66; dafür Kolb, Versorgungsbeamter, 1977, 134, 136; Kunz, OEG, 2. Aufl 1989, § 1 Rz 11; Schulz-Lüke/Wolf, OEG, 1977, § 1 Rz 88 ff, 99; Wilke/Sailer, Soziales Entschädigungsrecht, 6. Aufl 1987, § 1 OEG, Rz 6). Denn R. hat die Straftat der Aussetzung nach § 221 Abs 1 StGB in dessen erster Begehungsart durch aktives Tun, nicht als Unterlassungsdelikt begangen, indem er den Kläger zur Nachtzeit in eine einsame Gegend gefahren und dort gezwungen hat, das sichere Transportmittel Auto zu verlassen. Sein hilfloses Opfer hat er dann ohne Schutz vor Gefahren für Leben und Gesundheit zurückgelassen.

R. hat den Kläger iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG vorsätzlich tätlich angegriffen, weil seine Handlung in feindseliger Absicht unmittelbar auf den Kläger zielte und auf ihn einwirken sollte (BSGE 56, 234, 236 = SozR 3800 § 1 Nr 4; BSGE 59, 46, 47 = SozR 3800 § 1 Nr 6). Er hat unmittelbaren körperlichen Zwang ausgeübt, indem er den Kläger an eine einsam gelegene Stelle gefahren und dort aufgefordert hat, den eigenen Wagen zu verlassen. Diese erzwungene Ortsveränderung war das letzte Glied in einer Kette von Gewalttaten. Vorangegangen waren die gewaltsame Übernahme des Autos und der Raub von Geldbörse und Brieftasche. Durch diese Taten war der 83 Jahre alte gehbehinderte und dem Täter ohnehin unterlegene Kläger bereits derart eingeschüchtert und verängstigt, daß die Aufforderung des fortgesetzt aggressiv handelnden R. zum Verlassen des Autos genügte, um ihn zum Aussteigen zu zwingen und ihn so seines sicheren Transportmittels zu berauben. Ein größerer Kraftaufwand oder eine körperliche Berührung, etwa durch Hinausdrängen oder Herauszerren des Klägers aus dem Auto, war unter diesen Umständen tatsächlich nicht nötig und ist rechtlich für den tätlichen Angriff nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG nicht erforderlich (Kunz aaO § 1 Rz 10; Schulz-Lüke/Wolf aaO § 1 Rz 102, 66 ff).

R. hat auch vorsätzlich gehandelt. Es gilt der strafrechtliche Vorsatzbegriff. R. wußte um die zum gesetzlichen Tatbestand gehörenden objektiven Merkmale und wollte sie. Nach unbestrittener, auf die Begründung des Regierungsentwurfs zu § 1 Abs 1 OEG gestützter Auffassung genügt der natürliche Vorsatz des schuldunfähigen R., schuldhaftes Handeln setzt das Opferentschädigungsrecht nicht voraus (BT-Drucks 7/2506, S 14; Schoreit/Düsseldorf aaO § 1 Rz 75). Nach der dem LSG damals noch nicht bekannten Entscheidung des Senats vom 24. April 1991 9a/9 RVg 1/89 (SozR 3800-3 § 1 Nr 1) brauchte sich der Vorsatz nicht auch auf die gesundheitliche Schädigung zu erstrecken. Es reicht aus, daß der Täter die zum gesetzlichen Tatbestand gehörenden Umstände kannte und wollte (BSG SozR 3800-3 § 1 Nr 1).

Der durch den tätlichen Angriff in Gang gesetzte schädigende Vorgang endete nicht mit Vollendung der Straftat nach § 221 StGB. Er dauerte darüber hinaus bis zur Rettung des Klägers und schließt als schädigendes Ereignis die Folge von Stürzen auf dem Fluchtweg vom Ort der Aussetzung zum Rettungsort ein. Strafrechtlich wird das Geschehen im Rahmen des § 221 StGB nur bis zu dem Zeitpunkt betrachtet, in dem der Kläger von seinem sicheren Transportmittel getrennt und in einsamer Gegend zurückgelassen worden war, weil damit Gesundheit und Leben des Opfers konkret gefährdet und das Delikt vollendet war. Entschädigungsrechtlich dagegen kommt es auf den nach vollendeter Aussetzungstat andauernden Zustand der Hilflosigkeit mit Gesundheits- und hier sogar Lebensgefahr an. Diesen Zustand konnte der Kläger ohne Aussicht auf rasche Rettung nur erdulden oder er konnte versuchen, sich daraus – als kleineres Übel mit größerer Aussicht auf Überleben – zu befreien, was einer Flucht gleichkommt. Die auf der Flucht vor einer Gewalttat oder ihren Folgen erlittenen Sturzverletzungen sind keine Unfallverletzungen, sondern Schädigungen „infolge” dieser Gewalttat und damit nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG zu entschädigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1175124

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