Entscheidungsstichwort (Thema)
Versorgung mit Zahnersatz. Übernahme der berechnungsfähigen Restkosten. Anfechtungs- und Leistungsklage. Bezieher von Arbeitslosenhilfe. Sozialplan. monatlicher Nettoausgleich. Unzumutbarkeit eines Eigenanteils. typisierende Regelung. Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Gleichheitssatz
Leitsatz (amtlich)
Bei Beziehern von Arbeitslosenhilfe haben die gesetzlichen Krankenkassen die berechnungsfähigen Restkosten für die Versorgung mit Zahnersatz auch dann zu übernehmen, wenn der Versicherte neben der Arbeitslosenhilfe über weitere Einnahmen verfügt. Diese Regelung verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG.
Normenkette
SGG § 54 Abs. 1 S. 1 iVm Abs. 4; SGB V § 30 Abs. 3 S. 1 Fassung: 1992-12-21, § 61 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 21.07.1993; Aktenzeichen L 4 Kr 106/93) |
SG Braunschweig (Urteil vom 10.02.1993; Aktenzeichen S 4 Kr 61/91) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 21. Juli 1993 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten für das Revisionsverfahren zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Krankenkasse im Falle des Klägers den von den Versicherten zu tragenden Teil der berechnungsfähigen Kosten bei der Versorgung mit Zahnersatz zu übernehmen hat.
Der Kläger, der versicherungspflichtiges Mitglied der Beklagten ist, lebt mit seiner Ehefrau im gemeinsamen Haushalt. Er bezieht Arbeitslosenhilfe (Alhi), die ab 1. Januar 1991 monatlich 1.394,64 DM betrug. Zudem erhält er von seinem früheren Arbeitgeber im Rahmen eines Sozialplanes im Zusammenhang mit der Auflösung seines Arbeitsverhältnisses einen Netto-Ausgleich in Höhe von ca 1.300,-- DM pro Monat.
Anläßlich einer Versorgung mit Zahnersatz beantragte der Kläger im März 1991 den gesetzlichen Kassenzuschuß und die Übernahme des von den Versicherten zu tragenden Teils der berechnungsfähigen Kosten. Die Beklagte gewährte zwar den Kassenzuschuß, lehnte aber mit Bescheid vom 8. April 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Juli 1991 die Übernahme des von den Versicherten zu tragenden Teils der berechnungsfähigen Kosten ab.
Das Sozialgericht (SG) hat – unter Zulassung der Berufung – die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Antrag des Klägers auf vollständige Übernahme der berechnungsfähigen Kosten für die Versorgung mit Zahnersatz stattzugeben. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Beklagte verurteilt wird, den Kostenanteil des Klägers für die Versorgung mit Zahnersatz zu übernehmen. In den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils wird ua ausgeführt: Die Voraussetzungen für eine Übernahme der berechnungsfähigen Restkosten lägen vor. Der Kläger erhalte Alhi nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG). Entgegen der Ansicht der Beklagten erfordere die Restkostenübernahme nicht ein kumulatives Vorliegen der Nrn 1 und 2 oder 3 des § 61 Abs 2 des Fünften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB V). Die Vorschrift des § 61 Abs 2 Nr 2 SGB V enthalte eine Aufzählung, nach der Bezieher bestimmter Sozialleistungen vollständig von Zuzahlungen bzw von der Eigenbeteiligung zu befreien seien. Bei diesen Personengruppen werde unterstellt, daß die Zuzahlungen bzw Eigenbeteiligungen immer eine unzumutbare Belastung darstellten. Deshalb müsse derjenige, der zu einer dieser Personengruppen zähle, unabhängig von seinen tatsächlichen Einkommensverhältnissen von der Zuzahlungspflicht befreit werden. Diese vollständige Befreiung gelte zB für alle Versicherten, die Alhi bezögen. Es komme auch nicht auf die Rechtmäßigkeit des Bescheides an, mit dem das Arbeitsamt Alhi bewilligt habe. Entscheidend sei allein der tatsächliche Bezug der AFG-Leistung.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision macht die Beklagte geltend, die Regelung des § 61 SGB V in der Auslegung des LSG verstoße gegen den Gleichheitssatz. Die Zahlung des Eigenanteils an den Kosten des Zahnersatzes sei dem Kläger zuzumuten. Er habe fast das gleiche Nettoeinkommen wie vor Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses. Sozialplanregelungen mit zusätzlichen Bezügen zur Alhi seien sicherlich arbeitsmarktpolitisch zweckmäßig. Die Arbeitnehmer sollten sozialverträglich für eine bestimmte Zeit abgesichert werden. Es sei aber sozialversicherungsrechtlich zweifelhaft, ob die Krankenkassen durch derartige Regelungen zusätzliche Leistungen aufbringen müßten, die andere Versicherte mit gleichen Bezügen nicht erhielten. Der Gesetzgeber könne eine solche Regelung nicht gewollt haben. Seine Gestaltungsfreiheit sei dort begrenzt, wo andere benachteiligt würden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 21. Juli 1993 und das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 10. Februar 1993 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und hebt ua hervor, der Gesetzgeber habe im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit eine typisierende Regelung schaffen dürfen. Dafür, daß § 61 Abs 2 SGB V verfassungswidrig sein könnte, gebe es keine Anhaltspunkte.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist unbegründet. Das LSG hat die zulässige Berufung zu Recht zurückgewiesen. Die Beklagte ist verpflichtet, den von den Versicherten zu tragenden Teil der berechnungsfähigen Kosten für die beim Kläger durchgeführte Versorgung mit Zahnersatz zu übernehmen.
1. Gegen die gewählte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 iVm Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) bestehen keine Bedenken. Die Klage richtet sich gegen die Ablehnung des vom Kläger im Verwaltungsverfahren gestellten Antrags und die Verurteilung der Beklagten zu einer bestimmten Leistung, nämlich zur Übernahme der berechnungsfähigen Restkosten für die Versorgung mit Zahnersatz. Anders als im Falle des § 61 Abs 1 Nr 1 SGB V (vgl dazu Urteil des erkennenden Senats vom 3. März 1994 – 1 RK 33/93 – zur Veröffentlichung bestimmt) kommt hier nicht die Verurteilung zum Erlaß eines Befreiungsbescheides in Betracht, sondern es ist eine Leistung zu erbringen, auf die – wenn die gesetzlichen Voraussetzungen des § 61 Abs 1 Nr 2 SGB V vorliegen – ein Rechtsanspruch besteht (vgl dazu Hommel in Peters/Sautter/Wolff, Komm zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, § 54 Anm 6b auf S 185/13 -4/2-). Der Senat kann offenlassen, ob die begehrte Leistung dadurch zu erbringen ist, daß die Krankenkasse in Anwendung des § 30 Abs 3 Satz 1 SGB X in der ab 1. Januar 1993 geltenden Fassung des Art 1 Nr 17 Buchst c des Gesetzes zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung – Gesundheitsstrukturgesetz – (GSG) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I S 2266; zum Meinungsstreit vor der Klarstellung durch den Gesetzgeber s Höfler in KassKomm, § 30 SGB V RdNr 19; Schmidt in Peters, Handbuch der KrV, § 30 SGB V RdNrn 43 ff; zu § 30 Abs 3 Satz 1 idF des Art 1 Nr 17 GSG s Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Komm, § 30 SGB V RdNr 14) auch den von ihr nach § 61 Abs 1 Nr 2 SGB V zu übernehmenden Anteil an den berechnungsfähigen Kosten der Versorgung mit Zahnersatz an die kassenzahnärztliche Vereinigung zahlt oder ob sie – falls der Kläger schon einen Eigenanteil erbracht hat – ihm den gezahlten Betrag erstatten muß. In beiden Fällen läßt sich das Klageziel nur über eine Anfechtungs- und Leistungsklage erreichen.
2. Die Vorinstanzen haben auch zu Recht angenommen, daß dem Kläger die begehrte Leistung zusteht.
Nach § 61 Abs 1 Nr 2 SGB V hat die Krankenkasse den von den Versicherten zu tragenden Teil der berechnungsfähigen Kosten bei der Versorgung mit Zahnersatz zu übernehmen, wenn die Versicherten unzumutbar belastet würden. Diese Voraussetzung ist hier gegeben. Wann eine unzumutbare Belastung vorliegt, hat der Gesetzgeber durch § 61 Abs 2 SGB V festgelegt, der eine erschöpfende Regelung darstellt (Urteil des erkennenden Senats vom 3. März 1994 – 1 RK 33/93 –; Schellhorn in von Maydell ≪Herausgeber≫, GK-SGB V, § 61 RdNr 27; Höfler in KassKomm, § 61 SGB V RdNr 5 unter Hinweis auf BT-Drucks 11/2237, S 187). Eine unzumutbare Belastung besteht danach ua dann, wenn der Versicherte Alhi nach dem AFG erhält (Nr 2). Nach den mit der Revision nicht angegriffenen Tatsachenfeststellungen des LSG, an die der Senat gemäß § 163 SGG gebunden ist, hat der Kläger zur Zeit der Antragstellung Alhi bezogen. Er erfüllt damit die Voraussetzungen für die beantragte Übernahme der berechnungsfähigen Restkosten, weil er durch den nach § 30 SGB V von ihm zu tragenden Teil der Kosten unzumutbar iS von § 61 Abs 2 SGB V belastet würde.
Nach dem Wortlaut des § 61 Abs 2 SGB V, dessen Einzelregelungen der Nrn 1 – 3 durch “oder” verbunden sind, und der Entstehungsgeschichte (vgl BT-Drucks 11/2237, S 187) genügt es, daß ein Versicherter zu einer der drei Personengruppen in § 61 Abs 2 SGB V gehört (Schellhorn, aaO, § 61 RdNr 27). So gelten Bezieher von Alhi stets als bedürftig, und es darf bei ihnen nicht geprüft werden, ob sie über monatliche Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt verfügen, die die in § 61 Abs 2 Nr 1 SGB V gezogene Einkommensgrenze übersteigen. Selbst wenn das der Fall sein sollte, hat die Krankenkasse eine unzumutbare Belastung anzunehmen.
Bei dieser Auslegung sind zwar auch Personen vollständig zu befreien, denen – gemessen an ihren Einkommensverhältnissen – an sich zugemutet werden könnte, einen Eigenanteil zu tragen. Das ist aber Folge der typisierenden Regelung des § 61 Abs 2 SGB V, die die Vergünstigung von der Erfüllung einer von mehreren im Gesetz alternativ aufgeführten Tatbestandsvoraussetzungen abhängig macht. Der Gesetzgeber wollte damit eine rasche und unbürokratische Verwaltungsentscheidung ermöglichen (BT-Drucks 11/2237, S 187). Die Regelung knüpft daher an relativ einfach nachprüfbare Sachverhalte an, bei denen das Bestehen der Bedürftigkeit als nachgewiesen gelten kann. Denn bevor zB ein Sozialhilfeträger oder das Arbeitsamt einem Versicherten Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) bzw Alhi nach dem AFG gewährt, muß eine Prüfung der Bedürftigkeit vorausgehen. Deshalb wird in aller Regel derjenige, der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG oder Alhi nach dem AFG erhält, zu den Einkommensschwachen zählen (vgl in diesem Zusammenhang BT-Drucks 11 /2237, S 187 zu § 69 Abs 2 und 3; s dazu auch BSG SozR 3-2500 § 61 Nr 1). Der Zweck des Gesetzes, den Krankenkassen eine schnelle und unbürokratische Entscheidung zu ermöglichen, würde vereitelt, wenn man bei Beziehern der vorgenannten Leistungen zusätzlich die Prüfung verlangen wollte, ob ihre monatlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt die Einkommensgrenze des § 61 Abs 2 Nr 1 SGB V überschreiten.
Nach § 61 Abs 2 Nr 2 SGB V kommt es ferner nicht darauf an, ob ein Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG oder auf Alhi nach dem AFG besteht, vielmehr ist für die vollständige Befreiung von Zuzahlungen oder für die Übernahme der berechnungsfähigen Restkosten durch die Krankenkasse allein entscheidend, daß der Versicherte eine der in § 61 Abs 2 Nr 2 SGB V aufgeführten Sozialleistungen erhält (Urteil des erkennenden Senats vom 3. März 1994 – 1 RK 33/93 –). Solange der Bezug dieser Leistungen andauert, hat die Krankenkasse davon auszugehen, daß der Versicherte durch den Eigenanteil unzumutbar belastet würde (vgl Schellhorn, aaO, § 61 RdNr 34). Die Krankenkasse kann sich allerdings mit dem zuständigen Leistungsträger in Verbindung setzen, um überprüfen zu lassen, ob dem Versicherten zu Recht Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG oder Alhi nach dem AFG bewilligt worden ist (zu diesem Problem s auch Krauskopf, aaO, § 61 SGB V RdNr 13). Dies gilt jedenfalls dann, wenn Anhaltspunkte für einen unrechtmäßigen Sozialleistungsbezug gegeben sind. Solche Anhaltspunkte hat die Beklagte offenbar nicht gesehen. Der Senat konnte daher die von dem Kläger aufgeworfene Frage unentschieden lassen, ob der ihm im Rahmen eines Sozialplans von seinem früheren Arbeitgeber gezahlte monatliche Netto-Ausgleich von ca 1.300,-- DM bei der Bedürftigkeitsprüfung gemäß § 138 Abs 3 AFG nicht als Einkommen berücksichtigt werden darf (vgl dazu zB BSG SozR 4100 § 138 Nr 18).
Entgegen der Auffassung der Beklagten widerspricht die Auslegung des § 61 Abs 2 SGB V, die das LSG seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat und die der Senat für zutreffend hält, nicht dem Grundgesetz (GG). Insbesondere verstößt sie nicht gegen Art 3 Abs 1 GG. Diese Verfassungsnorm gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Demgemäß ist dieser Grundsatz vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten (vgl BVerfGE 55, 72, 88; 71, 146, 154 f; 75, 382, 393). Zwar kann § 61 Abs 2 SGB V dazu führen, daß Versicherte, deren monatliche Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt die Einkommensgrenze des § 61 Abs 2 Nr 1 SGB V überschreiten und damit tatsächlich nicht bedürftig sind, nach § 61 Abs 2 Nr 2 SGB V wegen des – möglicherweise unrechtmäßigen – Bezugs von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG oder Alhi nach dem AFG als bedürftig gelten und damit Anspruch auf die vollständige Befreiung von Zuzahlungen und auf Übernahme der berechnungsfähigen Restkosten für die Versorgung mit Zahnersatz haben, während andere Personen, die über gleich hohe monatliche Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt verfügen, aber nicht zur Personengruppe der in § 61 Abs 2 Nr 2 SGB V aufgeführten Sozialleistungsbezieher gehören, nicht von Zuzahlungen befreit werden dürfen. Diese unterschiedliche Behandlung ist jedoch gerechtfertigt, denn die Differenzierung beruht auf sachlichen Gründen. Der Gesetzgeber wollte – wie schon dargestellt – eine einfache, typisierende Regelung schaffen, die eine möglichst gleichmäßige Behandlung aller Antragsteller durch die Krankenkassen und eine zügige Erledigung der Härtefälle ermöglicht. Im Rahmen des ihm zustehenden weiten Gestaltungsspielraums darf der Gesetzgeber eine begünstigende Regelung an die Zugehörigkeit zu einer Personengruppe knüpfen, die typischerweise bestimmte Voraussetzungen – hier: Bedürftigkeit – erfüllt. Er muß dabei nicht auf jede Besonderheit Rücksicht nehmen und entsprechende Sonderregelungen schaffen. Dies würde auch den Erfordernissen einer Massenverwaltung, wie sie den Krankenkassen obliegt, widersprechen (vgl dazu auch BSGE 71, 244, 248).
Die Revision der Beklagten konnte nach alledem keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen