Verfahrensgang

SG Würzburg (Urteil vom 01.06.1987)

 

Tenor

Die Sprungrevision der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 1. Juni 1987 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten für das Revisionsverfahren haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die 1933 geborene Klägerin begehrt Erhöhung ihrer Erwerbsunfähigkeitsrente mit Rücksicht auf die Erziehung ihrer im Dezember 1954 geborenen Tochter U. … und ihres im Mai 1956 geborenen Sohnes J. …

Die Beklagte gewährte der Klägerin durch Bescheid vom 27. Juli 1984 auf der Grundlage eines internistischen Gutachtens, das die Klägerin wegen einer chronisch-asthmoiden Bronchitis mit schwerer kombinierter Lungenfunktionseinschränkung lediglich für leichte Arbeiten zweistündig bis unterhalbschichtig als einsatzfähig einstufte, eine Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit bis zum 31. Oktober 1986, beginnend am 21. Dezember 1983. Der Leistung wurde ein Versicherungsfall vom 7. Juni 1983 zugrunde gelegt.

Im Mai 1986 beantragte die Klägerin die Anerkennung von Kindererziehungszeiten für ihre beiden Kinder. Mit Bescheid vom 9. Juni 1986 stellte die Beklagte fest, daß die Erziehungszeiten bereits dem Konto der Versicherten zugeführt wurden. Eine Neufeststellung der Erwerbsunfähigkeitsrente wurde abgelehnt, da Kindererziehungszeiten vor 1986 gemäß Art 2 § 5c Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) der Berechnung der Rente nur dann zugrunde gelegt werden könnten, wenn der die Rentenzahlung auslösende Versicherungsfall nach dem 30. Dezember 1985 eingetreten sei; der Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit liege aber ein Versicherungsfall vor dem 31. Dezember 1985 zugrunde. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

Auf entsprechenden Weitergewährungsantrag sprach die Beklagte der Klägerin durch Bescheid vom 16. Oktober 1986 auf der Grundlage eines internistischen Befundberichts, in dem die Klägerin wegen einer chronischen Emphysembronchitis weiterhin für arbeits- und erwerbsunfähig erklärt wurde, im Anschluß an die Zeitrente ab 1. November 1986 Dauerrente wegen Erwerbsunfähigkeit zu. Der Widerspruch der Klägerin, mit dem sie eine Neuberechnung der Rente unter Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten begehrte, wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 30. Januar 1987).

Die dagegen mit der Begründung erhobene Klage, daß es sich bei der ab 1. November 1986 gewährten Dauerrente um einen neuen Versicherungsfall handele und deswegen die Kindererziehungszeiten nunmehr zu berücksichtigen seien, wurde mit Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 1. Juni 1987 abgewiesen. Nach Art 2 § 5c ArVNG würden Zeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 nur bei Versicherungsfällen nach dem 30. Dezember 1985 berücksichtigt. Der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit sei jedoch bereits am 7. Juni 1983 eingetreten. Auf diesem Versicherungsfall beruhe auch die ab 1. November 1986 gewährte Dauerrente. Durch die Gewährung einer Dauerrente im Anschluß an eine Zeitrente trete kein neuer Versicherungsfall ein.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin mit schriftlicher Zustimmung der Beklagten die vom SG zugelassene Sprungrevision eingelegt. Sie rügt die Verletzung materiellen Rechts.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 1. Juni 1987 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 16. Oktober 1986 idF des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 1987 zu verurteilen, ihr ab 1. November 1986 höhere Rente unter Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten für zwei Kinder zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die kraft Zulassung durch das SG statthafte, mit schriftlicher Zustimmung des Gegners form- und fristgerecht eingelegte und damit zulässige Sprungrevision der Klägerin ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, der Bescheid der Beklagten vom 16. Oktober 1986 ist nicht rechtswidrig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine wegen Kindererziehungszeiten erhöhte Erwerbsunfähigkeitsrente.

Rechtsgrundlage für die Anerkennung von „Zeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986” iS von § 1250 Abs 1 Buchst c der Reichsversicherungsordnung (RVO) ist § 1251a RVO. Nach § 1251a Abs 1 Satz 1 RVO idF des Art 6 Nr 18a des Rentenreformgesetzes 1992 (RRG) vom 18. Dezember 1989 (BGBl I S 2261), rückwirkend in Kraft getreten am 1. Januar 1986 (Art 85 Abs 2 RRG 1992), werden für die Erfüllung der Wartezeit Müttern und Vätern, die nach dem 31. Dezember 1920 geboren sind, Zeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 in den ersten zwölf Kalendermonaten nach Ablauf des Monats der Geburt des Kindes angerechnet, wenn sie ihr Kind im Geltungsbereich dieses Gesetzes erzogen und sich mit ihm dort gewöhnlich aufgehalten haben. Gemäß Art 2 § 5c Satz 1 ArVNG, eingefügt durch Art 4 Nr 1 Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetz (HEZG) vom 11. Juli 1985 (BGBl I S 1450), werden Zeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 aber nur bei Versicherungsfällen nach dem 30. Dezember 1985 berücksichtigt.

Die Klägerin erfüllt zwar insoweit die Voraussetzungen für einen Anspruch gemäß dieser Regelung, als sie nach dem 31. Dezember 1920 geboren ist und ihre beiden Kinder vor dem 1. Januar 1986 im Inland aufgezogen und sich mit ihnen dort gewöhnlich aufgehalten hat. Es fehlt jedoch an dem durch Art 2 § 5c Satz 1 ArVNG aufgestellten weiteren Erfordernis, daß der maßgebende Versicherungsfall nach dem 30. Dezember 1985 liegt. Nach den tatsächlichen Feststellungen des SG, die auf dem Weg über eine Sprungrevision wie hier gemäß § 161 Abs 4 SGG nicht mit Verfahrensrügen angegriffen werden können und daher aufgrund von § 163 SGG für das Revisionsgericht bindend sind, hat der erkennende Senat davon auszugehen, daß der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit bei der Klägerin am 7. Juni 1983 eingetreten ist und seitdem unverändert fortbesteht. Die Gewährung der Dauerrente wegen Erwerbsunfähigkeit im Anschluß an die zuvor zugesprochene Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit hat hierauf entgegen der Meinung der Klägerin keinen Einfluß.

Wie der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 26. Juni 1990 – 5 RJ 62/89; zur Veröffentlichung vorgesehen – ausgeführt hat, wird der Begriff des Versicherungsfalls vom Gesetz zwar wiederholt gebraucht, aber an keiner Stelle erläutert oder normiert. Insoweit hat das Bundessozialgericht (BSG) wiederholt dargelegt, daß mit dem Begriff Versicherungsfall nicht alle Leistungsvoraussetzungen umschrieben sind. Vielmehr werden damit nur die Ereignisse im Leben des Versicherten bezeichnet, gegen deren Nachteile er oder seine Hinterbliebenen durch die Versicherung geschützt werden sollen (BSGE 20, 48, 50; 22, 278, 280; 32, 270, 272). Ob der Versicherte aus einem Versicherungsfall auch die vorgesehenen Leistungen erhält, hängt daher von den weiteren im Gesetz genannten Voraussetzungen ab, die sich mit dem Tatbestand des Versicherungsfalles gesetzestechnisch zu einem einheitlichen Leistungstatbestand – dem „Leistungsfall” = Erfüllung aller Leistungsvoraussetzungen (BSGE 22, 278, 281) – zusammenfügen.

Nach Auffassung des Senats bestehen keine Anhaltspunkte dafür, daß der Begriff des Versicherungsfalles in Art 2 § 5c ArVNG in einem anderen Sinn als der hier zugrunde gelegten Definition zu verstehen ist. Zwar ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, daß er auch einmal anders auszulegen, dh stärker dem „Leistungsfall” anzunähern oder ihm sogar gleichzustellen ist. Gerade wenn aber bei einer Rechtsänderung festgelegt werden soll, ab wann das neue Recht gilt, ist unter Versicherungsfall in der Regel lediglich der Eintritt des versicherten Risikos zu verstehen (BSGE 22, 278, 280 f; im gedanklichen Ansatz auch BSG SozR 2200 § 1247 Nr 16).

Für die spezifische Leistungsart einer „Rente wegen Erwerbsunfähigkeit” hat das Gesetz den Tatbestand des § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO zum Versicherungsfall bestimmt. Danach ist erwerbsunfähig der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann. Wie der erkennende Senat in seinem genannten Urteil vom 26. Juni 1990 hierzu bereits ebenfalls ausgeführt hat, gilt dieser Begriff der Erwerbsunfähigkeit nach ständiger Rechtsprechung des BSG in gleicher Weise für die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit wie für die Dauerrente wegen Erwerbsunfähigkeit. Anders als das vor dem Inkrafttreten des ArVNG vom 23. Februar 1957 (BGBl I S 45) geltende Recht unterscheidet das Gesetz heute hinsichtlich des Versicherungsfalls nicht zwischen dauernder und vorübergehender Einschränkung der Erwerbsfähigkeit. Es treten nur noch einheitliche Versicherungsfälle der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit ein, sobald die Voraussetzungen des § 1246 Abs 2 RVO bzw § 1247 Abs 2 RVO erfüllt sind (vgl BSG SozR 2200 § 1276 Nrn 5, 6, 7, 11; SozR 2200 § 1247 Nr 16; BSGE 22, 278, 282). Die bei einer Rente auf Zeit bestehende begründete Aussicht, daß die Einschränkung der Erwerbsfähigkeit in absehbarer Zeit behoben sein werde, hat mit dem Versicherungsfall als solchem nichts zu tun und ist von Bedeutung lediglich für die Dauer des sich daraus ergebenden Anspruchs (BSG SozR 2200 § 1276 Nr 5 mwN).

Seinem definierten Begriffsinhalt gemäß hat der Versicherungsfall für die Figur des Leistungsfalles lediglich die Bedeutung eines von mehreren erforderlichen Tatbestandsmerkmalen. Für die rechtsinstrumentale Beziehung beider Begriffe zueinander heißt das, daß sie in dem Sinn einseitig ausgestaltet ist, als zwar das Nichtvorliegen eines Versicherungsfalles zugleich auch das Nichtvorliegen eines Leistungsfalles bewirkt, die Verneinung eines Leistungsfalles aber nicht immer und zwingend die gleichzeitige Verneinung eines Versicherungsfalles darstellt – dann nämlich nicht, wenn eines der anderen Tatbestandsmerkmale des Leistungsfalles als gerade der Versicherungsfall fehlt.

Für die Gewährung einer Rente auf Zeit gemäß § 1276 RVO ergibt sich hieraus zum einen, daß der Wegfall der Rente mit Ablauf des im Gewährungsbescheid bestimmten Zeitraumes gemäß § 1276 Abs 2 Satz 1 RVO für sich genommen nicht mehr besagt, als daß der Leistungsfall „Rente auf Zeit” nicht mehr besteht. Ob der der Zeitrentengewährung zugrunde gelegte Versicherungsfall weggefallen ist oder fortbesteht – für eine Weitergewährung der Rente also neu festzustellen ist oder als bereits feststehendes Tatbestandsmerkmal übernommen werden kann –, ist damit nicht ebenfalls schon beantwortet. Zum anderen hat die bezeichnete Verschiedenheit von Versicherungs- und Leistungsfall – wie der erkennende Senat in seinem zitierten Urteil vom 26. Juni 1990 auch ausgeführt hat -allgemein für die Fortsetzung des Rentenbezugs zur Folge, daß sich der Versicherte bei Ablauf des Bewilligungszeitraumes um die Weitergewährung der Rente mit einem neuen Antrag bemühen muß, selbst dann, wenn sich an dem Versicherungsfall Erwerbsunfähigkeit nichts geändert hat. Der dem Weitergewährungsantrag stattgebende Bescheid, kraft dessen dem Versicherten auch nach Ablauf des Zeitraumes, für den er bisher Erwerbsunfähigkeitsrente bezog, weiterhin Erwerbsunfähigkeitsrente (nunmehr auf Dauer) zusteht, stellt nicht bloß die Verlängerung einer früher bereits dem Grunde nach anerkannten Sozialleistung dar, sondern ist die eigenständige und vollinhaltlich erneute Bewilligung der beantragten Rente.

Bei der Rentengewährung an die Klägerin war es daher nicht gleichbedeutend mit Wegfall des auf den 7. Juni 1983 festgestellten Versicherungsfalles, als ihre Zeitrente gemäß § 1276 Abs 2 Satz 1 RVO kraft Gesetzes mit Ablauf des 31. Oktober 1986 endete. Die Notwendigkeit für die Beklagte, für die Zeit ab 1. November 1986 erneut vollinhaltlich zu prüfen, ob die Voraussetzungen einer Erwerbsunfähigkeitsrente (auf Zeit oder auf Dauer) vorlagen, schloß inhaltlich nicht mit ein, daß der gewährten Dauerrente ein neuer Versicherungsfall zugrunde gelegt wurde und zugrunde zu legen war. Maßgeblicher Versicherungsfall für die nunmehr gewährte Dauerrente war vielmehr allein der Zustand der Erwerbsunfähigkeit, der erstmals für den 7. Juni 1983 konstatiert worden war und nach den gemäß §§ 161 Abs 4, 163 SGG bindenden Feststellungen des SG auch „weiterhin”, dh über den 31. Oktober 1986 hinaus, bestand. Solange eine einmal eingetretene Erwerbsunfähigkeit aber fortbesteht, kann kein neuer Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit eintreten.

Dabei kommt es nicht darauf an, worauf die Erwerbsunfähigkeit letztlich beruht, dh ob sie allein auf „Krankheit, Gebrechen oder Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte” (§ 1247 Abs 2 Satz 1 RVO) zurückzuführen ist oder ob die Erwerbsunfähigkeit, wie es in § 1276 Abs 1 Satz 2, 2. Halbsatz RVO heißt, nicht ausschließlich auf dem Gesundheitszustand des Versicherten beruht. Entscheidend ist allein die eingetretene Folge, die in beiden Fällen in der eingetretenen Erwerbsunfähigkeit besteht. Für die Frage, ob ein Versicherungsfall (noch) vorliegt oder nicht, spielt es demzufolge auch keine Rolle, ob die Gewährung einer Zeitrente mit der Aussicht auf Besserung des Gesundheitszustandes oder – wie hier durch die Beklagte – damit begründet wird, daß der Arbeitsmarkt in absehbarer Zeit nicht mehr verschlossen sein wird.

Die Ansicht der Klägerin, bei verspäteter Antragstellung nach Ablauf der Zeitrente bei unveränderter Erwerbsunfähigkeit „wäre wohl zweifellos ein neuer Versicherungsfall eingetreten”, kann nicht zum Tragen kommen. Auch der Antrag auf Rente ist nicht Bestandteil des Versicherungsfalles Erwerbsunfähigkeit, sondern eine von mehreren Voraussetzungen für die Gewährung der Sozialleistung Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, so daß aus seinem Vorliegen oder Nichtvorliegen keine Rückschlüsse auf das Tatbestandsmerkmal Versicherungsfall gezogen werden können.

Die Revision ist auch nicht unter Berücksichtigung des bestandskräftigen Bescheides vom 9. Juni 1986 begründet. Die darin enthaltene Mitteilung an die Klägerin, die Erziehungszeiten seien bereits ihrem Konto zugeführt, die Neuberechnung aufgrund ihres Antrages vom 5. Mai 1986 würde beim nächsten Versicherungsfall durchgeführt, hat lediglich die Bedeutung, daß die Beklagte die Zeiten der Kindererziehung in der Rentenbiographie der Klägerin gespeichert hat und sie bei Eintritt des nächsten Versicherungsfalles berücksichtigen wird. Bezüglich der Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit wurde die Anerkennung der Kindererziehungszeiten in dem Bescheid gerade unter Hinweis auf Art 2 § 5c ArVNG abgelehnt. Der mit Bescheid vom 16. Oktober 1986 gewährten Dauerrente liegt – wie dargelegt – kein neuer Versicherungsfall zugrunde.

Soweit es im vorliegenden Fall für die Entscheidung des Rechtsstreits auf die verfassungsmäßige Gültigkeit des Art 2 § 5c ArVNG ankommt, bestehen keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken, die den Senat dazu zwängen, das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) einzuholen (Art 100 Abs 1 Satz 1 des Grundgesetzes -GG-). Nach Art 100 GG hat ein Gericht, wenn es ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält, das Verfahren auszusetzen und wenn es sich um die Verletzung des GG handelt, die Entscheidung des BVerfG einzuholen. Eine Vorlage an das BVerfG setzt voraus, daß die Gültigkeit des anzuwendenden Gesetzes für die Endentscheidung des Gerichts erheblich ist. Dies ist der Fall, wenn das Gericht für den Fall der Gültigkeit der Norm anders entscheiden würde als für den Fall ihrer Ungültigkeit (BVerfGE 2, 266, 271; 65, 265, 277 mwN,

ständige Rechtsprechung). Im vorliegenden Fall hängt die Entscheidung des Rechtsstreits allein davon ab, ob es im Einklang mit der Verfassung steht, daß Art 2 § 5c ArVNG die Anerkennung von Zeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 nur dann vorsieht, wenn der Versicherungsfall nach dem 30. Dezember 1985 eingetreten ist. Der 1. Senat des BSG ist in seinem Urteil vom 8. August 1990 – 1 RA 81/88 – für die sachlich parallele Regelung des Art 2 § 6c des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) vom 23. Februar 1957 (BGBl I S 88) von der Verfassungsmäßigkeit ohne weitere Begründung ausgegangen. In gedanklicher Übereinstimmung damit hält der erkennende Senat die hier zur Rede stehende Norm des Art 2 § 5c ArVNG ebenfalls für verfassungskonform.

Art 2 § 5c ArVNG verletzt nicht Art 3 Abs 1 GG. Der Gesetzgeber steht bei Reformen wie hier bei der mit dem HEZG erstmals eingeführten Möglichkeit der Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung regelmäßig vor dem Problem, einen bestimmten Zeitpunkt benennen zu müssen, von dem ab das neue Recht gelten soll. Da es meist unmöglich ist, die unter dem altem Recht entstandenen und womöglich schon abgewickelten Rechtsverhältnisse vollständig dem neuen Recht zu unterstellen und der Grundsatz der Rechtssicherheit klare schematische Entscheidungen über die zeitliche Abgrenzung zwischen dem alten Recht und dem neuen Recht verlangt, ist es unvermeidlich, daß sich in der Rechtsstellung der Betroffenen, je nachdem, ob sie dem alten oder dem neuen Recht unterliegen, Unterschiede ergeben, die dem Ideal der Rechtsgleichheit widersprechen. Insbesondere kann die der Rechtssicherheit dienende Einführung von Stichtagen zu unter Umständen erheblichen Härten führen, wenn die tatsächliche Situation derjenigen Personen, die durch Erfüllung der Stichtagsregelung gerade noch in den Genuß der Neuregelung kommen, sich nur geringfügig von der Lage derjenigen unterscheidet, bei denen diese Voraussetzung fehlt. Angesichts der dargestellten Problematik hat sich nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG die verfassungsrechtliche Überprüfung von Stichtagsregelungen unter dem Gesichtspunkt des Art 3 GG darauf zu beschränken, ob der Gesetzgeber den ihm zukommenden Spielraum in sachgerechter Weise genutzt hat, ob er die für die zeitliche Anknüpfung in Betracht kommenden Faktoren hinreichend gewürdigt hat und ob die gefundene Lösung sich im Hinblick auf den gegebenen Sachverhalt und das System der Gesamtregelung durch sachliche Gründe rechtfertigen läßt oder als willkürlich erscheint (vgl BVerfGE 13, 31, 38; 29, 283, 299 f; 44, 1, 21 ff; 53, 224, 253 f; BVerfG SozR 2200 § 1264 Nr 8).

Unter Berücksichtigung der vorstehenden Grundsätze ist es nicht zu beanstanden, daß Art 2 § 5c ArVNG die Anerkennung von Kindererziehungszeiten vor dem 1. Januar 1986 davon abhängig macht, daß der Versicherungsfall nach dem 30. Dezember 1985 eingetreten ist. Der getroffenen Regelung liegen sachliche Erwägungen zugrunde. Der Gesetzgeber knüpft damit zunächst an bestimmte in der gesamten Rechtsordnung und speziell auch im Recht der Rentenversicherung geltende Grundsätze an. Nach herrschender Rechtsauffassung und der Rechtsprechung des BSG gilt neues Recht für diejenigen Ansprüche, die auf Tatbeständen beruhen, die nach seinem Inkrafttreten eingetreten sind, wenn nicht das neue Recht selbst ausdrücklich oder dem Sinn nach seinen zeitlichen Geltungsbereich auf bereits abgeschlossene Sachverhalte erstreckt (BSGE 7, 282, 284; 13, 251, 252; 16, 177, 178; 23, 139, 140; 25, 249, 250; 56, 90 = SozR 3800 § 10 Nr 1). In der Rentenversicherung ist in der Regel für die Anwendung neuen Rechts der Tatbestand des Eintritts des Versicherungsfalles maßgebend (vgl BSG SozR 2200 § 1247 Nr 16; erkennender Senat SozR 5750 Art 2 § 18 Nr 3 und Urteil vom 17. November 1987 – 5b RJ 6/87 –; vgl BVerfG SozR 2200 § 1264 Nr 8). Das Abstellen auf den Eintritt des Versicherungsfalles für die Geltung neuen Rechts ist ein sachliches Differenzierungskriterium. Denn damit werden an unterschiedliche tatsächliche Sachverhalte – nämlich abgeschlossener Sachverhalt bei Rentenbeziehern, sog Rentenbestand einerseits, künftige Versicherungsfälle andererseits – unterschiedliche Rechtsfolgerungen gezogen.

Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Anwendung des Art 3 Abs 1 GG stets auf einem Vergleich von Lebensverhältnissen beruht, die nie in allen, sondern nur in einzelnen Elementen übereinstimmen. Es ist Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, welche Elemente der zu ordnenden Lebensverhältnisse er dafür als maßgebend ansieht, sie im Recht gleich oder verschieden zu behandeln (BVerfGE 50, 57, 77; ständige Rechtsprechung). Der Gleichheitssatz ist erst verletzt, wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie einleuchtender Grund für die vom Gesetzgeber vorgenommene Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt (vgl BVerfGE 55, 114, 128; ständige Rechtsprechung).

Des weiteren ist zu berücksichtigen, daß die mit dem HEZG eingeführte Möglichkeit der Anrechnung von Kindererziehungszeiten eine strukturell neuartige Leistung im System der Rentenversicherung darstellt (vgl BT-Drucks 10/2677, Seiten 28-31). Der Gesetzgeber hat gerade bei gewährender Staatstätigkeit eine weitgehende Gestaltungsfreiheit, die dann besonders weit geht, wenn es sich um freiwillige Leistungen aus sozialpolitischen Motiven handelt, mit denen erstmalig ein bestimmter Zustand verbessert werden soll. Bei derartigen Neuerungen, die bisher kein Vorbild in der Gesetzgebung haben, steht es dem Gesetzgeber grundsätzlich frei zu bestimmen, ob, ab wann, in welcher Höhe und gegenüber welchem Personenkreis er mit der beabsichtigten Verbesserung beginnen will (vgl BVerfGE 17, 1, 23 f und 210, 216, 22, 100, 103; 29, 337, 339; 44, 70, 91; 49, 280, 283). Es ist nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber diesen Spielraum dazu genutzt hat, einerseits den anspruchsberechtigten Personenkreis im Hinblick auf die Haushaltslage zu begrenzen, um überhaupt die Einführung der geplanten Leistungsverbesserung zu ermöglichen, andererseits aber dabei gleichwohl die Versicherten, bei denen bis zum genannten Stichtag ein Versicherungsfall bereits eingetreten ist, für jeden späteren Versicherungsfall und insbesondere für den Bezug des Altersruhegeldes in die Leistungsverbesserung einbezogen hat (vgl Art 2 § 5c Satz 1, 2. Halbsatz ArVNG).

Auch finanzielle Erwägungen sind sachgerecht und geeignet, den Vorwurf der Willkür zu entkräften (vgl BVerfGE 3, 4, 11; Schulte-Fielitz, DÖV 1988, 758, 763 f; Hennecke, DÖV 88, 768, 775). Gerichtlicher Überprüfung unterliegt dabei nicht, ob die vom Gesetzgeber bei Einbeziehung auch des Rentenbestandes in die Neuregelung angegebenen Mehraufwendungen (vgl BT-Drucks 10/2677, S 30 f) zutreffen. Wäre der Gesetzgeber gehalten, im Interesse sozialer Gerechtigkeit überall strikte Gleichförmigkeit zu schaffen und auch bei zukünftigen Änderungen zu wahren, könnte das dazu führen, daß Reformen von vornherein unterbleiben müßten – ein Ergebnis, welches gewiß sozialer Gerechtigkeit nicht entsprechen würde (vgl BVerfGE 40, 121, 140; BVerfG SozR 2200 § 200 Nr 9). Es ist schließlich auch Sache des Gesetzgebers, im Rahmen des ihm zukommenden Gestaltungsspielraumes darüber zu entscheiden, welche der im Hinblick auf die begrenzten finanziellen Mittel zu Gebote stehenden Möglichkeiten (Begrenzung des anspruchsberechtigten Personenkreises durch Stichtagsregelung, Kürzung der geplanten Leistungen) er wählt. Denn es obliegt nicht richterlicher Überprüfung, ob der Gesetzgeber im Einzelfall die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden hat (BVerfGE 26, 302, 310; 31, 119, 130; 50, 57, 77). Vielmehr sind die sozialpolitischen Entscheidungen des Gesetzgebers hinzunehmen, solange seine Erwägungen weder offensichtlich fehlsam noch mit der Wertordnung des GG unvereinbar sind (BVerfGE 14, 288, 301).

Die Vorschrift des Art 2 § 5c ArVNG verstößt auch nicht gegen das in Art 20 Abs 1 GG verankerte Sozialstaatsprinzip. Zwar begründet das Sozialstaatsprinzip eine Pflicht des Staates, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen. Art 20 Abs 1 GG richtet sich aber in erster Linie an den Gesetzgeber, der im einzelnen zu bestimmen hat, wie die ihm auferlegte Verpflichtung zu erfüllen ist (BVerfGE 69, 272, 314 mwN). Mit der erstmals geschaffenen Möglichkeit der Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung kommt der Gesetzgeber dieser Verpflichtung gerade nach. Die durch die Einführung eines Stichtages erfolgte Eingrenzung des anspruchsberechtigten Personenkreises ist dagegen an Art 3 GG zu messen, der – wie dargelegt – nicht verletzt ist.

Der Anspruch der Klägerin läßt sich schließlich auch nicht mit Art 6 GG begründen. Gemäß Art 6 Abs 1 GG obliegt dem Staat eine allgemeine Verpflichtung zur Förderung der Familie (BVerfGE 39, 316, 326). Die Förderungspflicht geht jedoch nicht so weit, daß der Gesetzgeber gehalten wäre, jegliche die Familie treffende Benachteiligung auszugleichen (BVerfGE 25, 258, 264; 55, 114, 127). Da Art 6 GG nichts darüber aussagt, wie der Familienlastenausgleich durchzuführen ist, kann der Gesetzgeber grundsätzlich im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit selbst bestimmen, in welcher Weise und in welchem Umfang er seiner Verpflichtung zur Förderung der Familie nachkommt (BVerfGE 11, 105, 126; 39, 316, 326). Diese Grundsätze gelten auch im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung (BVerfGE 55, 114, 127). Die mit dem HEZG erstmals eingeführte Möglichkeit der Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung stellt gerade einen Beitrag zur Verbesserung der Familienförderung dar und steht schon deswegen im Einklang mit Art 6 Abs 1 GG. Die Abgrenzung des Kreises der Berechtigten ist dagegen an Art 3 GG zu messen, der – wie dargelegt – nicht verletzt ist.

Nach alledem war die Revision gemäß § 170 Abs 1 Satz 1 SGG zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173979

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