BAG, Beschluss vom 24.2.2022, 8 AZR 208/21 (A)
Kann bei der Suche nach einer persönlichen Assistenz gem. § 78 SGB IX die durch die Stellenausschreibung bewirkte unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters nach den Bestimmungen des AGG gerechtfertigt sein?
Sachverhalt
Die Beklagte ist ein Assistenzdienst, der Menschen mit Behinderungen Beratung, Unterstützung sowie Assistenzleistungen in verschiedenen Bereichen des Lebens anbietet (sog. Persönliche Assistenz). Assistenzleistungen nach § 78 SGB IX, welche für Menschen mit Behinderungen zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltags einschließlich der Tagesstrukturierung erbracht werden, beinhalten insbesondere Leistungen für die allgemeinen Erledigungen des Alltags wie die Haushaltsführung, die Gestaltung sozialer Beziehungen, die persönliche Lebensplanung, die Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, die Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten sowie die Sicherstellung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen und umfassen zudem die Verständigung mit der Umwelt in diesen Bereichen. Assistenzleistungen werden oft von mehreren Personen in Schichten, teilweise rund um die Uhr, geleistet. Sie können von einem Assistenz- oder Pflegedienst erbracht oder durch die leistungsberechtigte assistenznehmende Person – im sog. Arbeitgebermodell – selbst organisiert werden. In beiden Fällen werden die Kosten vom zuständigen öffentlich-rechtlichen Leistungs-/Kostenträger getragen.
Im Juli 2018 veröffentlichte die Beklagte ein Stellenangebot, wonach eine 28jährige Studentin "weibliche Assistentinnen" in allen Lebensbereichen des Alltags suchte, die "am besten zwischen 18 und 30 Jahre alt sein" sollten. Die Klägerin, welche im März 1968 geboren war, bewarb sich auf diese Stellenausschreibung – ohne Erfolg. Sie erhob Klage auf Zahlung einer Entschädigung wegen Altersdiskriminierung nach § 15 Abs. 2 AGG; denn die ausdrücklich an Assistentinnen im Alter "zwischen 18 und 30" Jahren gerichtete Stellenausschreibung begründe die Vermutung, dass sie wegen ihres – höheren – Alters bei der Stellenvergabe nicht berücksichtigt und damit wegen ihres Alters diskriminiert worden sei. Die unterschiedliche Behandlung wegen des Alters sei bei Leistungen der Assistenz nach § 78 SGB IX unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt gerechtfertigt.
Dagegen brachte die Beklagte vor, die Ungleichbehandlung wegen des Alters sei nach dem AGG gerechtfertigt, da bei der Beurteilung einer etwaigen Rechtfertigung nicht nur die Bestimmungen des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK), sondern auch zu berücksichtigen sei, dass die eine persönliche Assistenz in Anspruch nehmenden Leistungsberechtigten nach § 8 Abs. 1 SGB IX ein Wunsch- und Wahlrecht auch im Hinblick auf das Alter der Assistenten/innen hätten. Nur so sei eine selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu erreichen.
Die Entscheidung
Während das Arbeitsgericht der Klage teilweise stattgegeben hatte, hatte das LAG die Klage vollständig abgewiesen.
Das BAG setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH die folgende Frage vor:
"Können Art. 4 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 7 und/oder Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2000/78/EG – im Licht der Vorgaben der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) sowie im Licht von Art. 19 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) – dahin ausgelegt werden, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters gerechtfertigt werden kann?"
Denn die Entscheidung des Rechtsstreits hänge nach Auffassung des Gerichts davon ab, ob die durch die Stellenausschreibung bewirkte unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters nach den Bestimmungen des AGG gerechtfertigt sei und ob sich im Hinblick auf die Auslegung dieser Bestimmungen in Übereinstimmung mit den Vorgaben der Richtlinie 2000/78/EG Fragen der Auslegung von Unionsrecht stellten.