EuGH, Urteile vom 6.11.2018, C-619/16 u. C-684/16
Aufgrund des Unionsrechts darf ein Arbeitnehmer seinen erworbenen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht automatisch deshalb verlieren, weil er keinen Urlaub beantragt hat. Ein Verfall des Urlaubs wäre nur dann mit dem Unionsrechts vereinbar, wenn der Arbeitgeber nachweist, dass der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis der Sachlage darauf verzichtet hat, seinen Jahresurlaub zu nehmen, nachdem er in die Lage versetzt worden war, seinen Urlaub tatsächlich rechtzeitig nehmen zu können.
Die Sachverhalte
Der Kläger des 1. Falles beantragte nach Abschluss seines Rechtsreferendariats beim Land Berlin Urlaubsabgeltung für den nicht genommenen Jahresurlaub, der dadurch entstanden war, dass er sich in den letzten 5 Monaten seines Referendariats dazu entschieden hatte, keinen Jahresurlaub zu nehmen. Der Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass die geltende deutsche Regelung der Verordnung über den Erholungsurlaub der Beamten und Richter vom 26.4.1988 einen solchen Abgeltungsanspruch nicht vorsehe, sondern der Urlaubsanspruch am Ende des Bezugszeitraums erlischt, wenn der Arbeitnehmer innerhalb dieses Zeitraums keinen Urlaub beantragt hatte. Aufgrund des Erlöschens des Jahresurlaubs sei auch der Abgeltungsanspruch untergegangen. Hiergegen wandte sich der Kläger. Das mit der Sache betraute OVG Berlin-Brandenburg setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH die Frage vor, ob das Unionsrecht solchen nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehe.
In einem 2. Fall war der Kläger über 10 Jahre aufgrund mehrerer befristeter Verträge bei der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften beschäftigt. Er erfuhr Ende Oktober 2013, dass sein Arbeitsvertrag nicht verlängert werde und wurde gleichzeitig von seinem Arbeitgeber aufgefordert, vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Dezember 2013 seinen Urlaub zu nehmen. Der Kläger nahm Urlaub – jedoch nur 2 Tage. Für die restlichen 51 Tage verlangte er vom Arbeitgeber die Zahlung einer Urlaubsabgeltung. Da sein Begehren erfolglos war, klagte er vor den Arbeitsgerichten. Das BAG legte dem EuGH die Frage vor, ob das Unionsrecht nationalen Regelungen entgegenstehe, wonach Urlaub hätte beantragt werden müssen, damit der Urlaubsanspruch nicht am Ende des Bezugszeitraums ersatzlos untergehe.
Die Entscheidung
Der EuGH entschied, dass der Urlaub grds. nicht automatisch verfallen dürfe. Ein Arbeitnehmer dürfe nach dem Unionsrecht seine erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub nicht automatisch deshalb verlieren, weil er keinen Urlaub beantragt habe. Dies gelte jedoch nicht uneingeschränkt; es gäbe durchaus Kriterien, bei denen ein Verlust mit dem Unionsrecht vereinbar sei.
In den Urteilsgründen führte der EuGH aus, dass der Arbeitnehmer grds. die schwächere Partei des Arbeitsverhältnisses sei und daher davon abgeschreckt sein könne, seine Rechte gegenüber seinem Arbeitgeber ausdrücklich geltend zu machen; denn die Einforderung der Rechte könne den Arbeitnehmer Maßnahmen des Arbeitgebers aussetzen, die sich zu seinem Nachteil auf das Arbeitsverhältnis auswirken. Nach dem EuGH wäre insoweit jede Auslegung des Unionsrechts, die den Arbeitnehmer dazu veranlassen könnte, keinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, nicht mit den verfolgten Zielen des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub vereinbar.
Ein Verfall des Urlaubs sei jedoch auch nach Unionsrecht weiterhin möglich, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer z. B. durch angemessene Aufklärung tatsächlich in die Lage versetzt hatte, die fraglichen Urlaubstage rechtzeitig zu nehmen; denn jede Auslegung der fraglichen Unionsvorschriften, die den Arbeitnehmer dazu veranlassen könnte, aus freien Stücken in den betreffenden Bezugs- oder zulässigen Übertragungszeiträumen keinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, um seine Vergütung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu erhöhen, wäre mit den durch die Schaffung des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub verfolgten Zielen unvereinbar. Hierbei müsse jedoch der Arbeitgeber beweisen, dass der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis der Sachlage darauf verzichtet habe, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, nachdem er in die Lage versetzt worden war, seinen Urlaubsanspruch tatsächlich rechtzeitig wahrzunehmen.
Die Grundsätze gelten nach Auffassung des EuGH unabhängig davon, ob es sich um einen öffentlichen oder einen privaten Arbeitgeber handelt.
Anmerkung:
Wenn der Arbeitgeber zukünftig erreichen will, dass nicht genommener Urlaub am Ende des Kalenderjahres oder spätestens am Ende des Übertragungszeitraums – nach § 26 TVöD/TV-L am 31.3. bzw. 31.5. des Folgejahres – verfällt, muss er den Arbeitnehmer darauf hinweisen, dass er seinen Urlaub beanspruchen muss, damit dieser nicht verfällt. Offen ist bislang, wie die Belehrung im Einzelfall abzulaufen hat, ob ein allgemeiner Hinweis ausreichend ist oder jeder Mitarbeiter individualisiert aufgefordert werden muss. Da aus der Entscheidung des EuGH jedoch nicht ausdrücklich h...